Sie war die ganze Nacht über zappelig gewesen. Sie brauchte dringend einen Hit. Noch dringender als was zu essen. Regina Campos war es egal, was für Drogen sie nahm, Hauptsache, sie kriegte ihren Trip. Sie hatte keine Kohle, aber das machte nichts. Sie wusste genau, was sie tun musste, um an Stoff zu kommen. Sie hatte schon mit sechzehn begriffen, dass Männer Wachs in ihren Händen waren, wenn man nur wusste, was man im Bett mit ihnen anstellen muss.
Regina war erst achtzehn, und hätte man die wenigen Menschen gefragt, die sie kannten, hätten die sie vermutlich als durchschnittlich beschrieben. Sie war durchschnittlich groß, hatte eine durchschnittliche Figur und ein durchschnittliches Gesicht. In einer Menschenmenge wäre sie nicht weiter aufgefallen. Ihre Haare waren weder lang noch kurz, und in der Schule war sie – bevor sie abgebrochen hatte – weder gut noch schlecht gewesen. Aber sie hatte Charme, und wenn sie eins wusste, dann wie sie von anderen das bekam, was sie haben wollte.
Regina hatte eine ganze Reihe von nichtsnutzigen Liebhabern und belanglosen Affären gehabt. Na ja, nichtsnutzig stimmte genau genommen nicht, zu einer Sache hatten sie immerhin getaugt: als Quelle für Drogen. Ihr aktueller zu einer Sache taugender Liebhaber – wenn man ihn überhaupt als solchen bezeichnen konnte – war ein fauler, versiffter Ex-Knacki, der in einer Sozialwohnung in Bell Gardens hauste. Er war fett, hatte im Bett das Stehvermögen eines Neunzigjährigen, und ihm ging einer ab, wenn er Frauenunterwäsche trug. Regina kümmerte es einen Scheißdreck, was ihn antörnte. Solange er sie mit Stoff versorgte.
Sie war völlig am Ende gewesen, als sie ihn spät am Abend angerufen hatte, aber er hatte ihr am Telefon gesagt, dass er die Nacht über nicht zu Hause wäre. Wenn sie will, soll sie am Morgen zu ihm kommen.
Für Regina war es eine verdammt lange Nacht gewesen.
Sie rannte die Stufen zum dritten Stock hoch, als müsste sie einen Marathon gewinnen. Inzwischen brauchte sie so dringend einen Trip, dass sie mit dem Kiefer mahlte wie ein Kaninchen. Es kam ihr nicht mal seltsam vor, dass die Tür zu Apartment 311 nicht abgeschlossen war, obwohl ihr Typ sonst immer abschloss.
Sie stieß die Tür auf und betrat die stinkende Wohnung.
»Hallo, Babe«, krächzte sie. Sie hatte in letzter Zeit zu viel Crack geraucht, das hatte ihre Stimmbänder ruiniert.
Keine Antwort.
Sie wollte gerade die Wohnung nach ihm durchsuchen, als sie von etwas wesentlich Verlockenderem abgelenkt wurde: Auf dem kleinen Esstisch lag eine silberne Dose. Daneben ein quadratischer Spiegel, und auf dem Spiegel konnte Regina Reste eines weißen Pulvers erkennen. Ihre kleinen braunen Augen leuchteten auf wie der Himmel am 4. Juli.
»Babe?«, rief sie erneut, allerdings mit weit weniger Eifer als zuvor. Wen scherte es, wo er steckte, wenn ihre Belohnung direkt vor ihr lag und sie nur zugreifen musste?
Regina trat zum Tisch und strich mit dem Mittelfinger über den Spiegel, um die Pulverreste aufzunehmen. Hastig hob sie den Finger an den Mund und rieb sich damit übers Zahnfleisch, bevor sie ihn genüsslich ableckte, als wäre er in Honig getaucht. Augenblicklich wurde ihr Zahnfleisch taub, und sie erschauerte vor Wonne, weil der Stoff so stark war. Wahnsinn. Sie klappte die Dose auf und sah hinein. Darin lagen fünf kleine handgefaltete Papierumschläge. Regina wusste genau, was sie enthielten. Sie hatte solche Umschläge oft genug gesehen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen.
Ausnahmsweise war Weihnachten mal im Sommer.
Sie schnappte sich einen der Umschläge, faltete ihn auf und tippte ein bisschen weißes Pulver auf den Spiegel. Ihr Blick suchte den Tisch nach etwas ab, das sich zum Schnupfen verwenden ließ.
Sie fand nichts.
Regina machte einen Schritt zurück und schaute sich um. Unter dem Tisch sah sie einen lose gerollten Fünf-Dollar-Schein liegen.
Das würde ein absolut großartiger Tag werden.
Sie hob den Schein auf, rollte ihn neu und hob ihn an die Nase. Sie hielt sich nicht erst damit auf, das Pulver zu einer Line zu formen. Sie brauchte unbedingt was im Blut, und zwar schnell. Sie hielt sich ein Nasenloch mit dem Finger zu und sog das Pulver tief durch das andere ein.
Die Wirkung war sofort zu spüren.
»Wow.«
Das war das beste Zeug, das sie je probiert hatte. Kein Stechen, kein Brennen. Nur pure, reine Seligkeit.
Sie hielt den gerollten Schein ans andere Nasenloch und atmete erneut tief ein.
So musste sich das Paradies anfühlen.
Sie legte den Schein auf den Tisch, stand einen Moment lang ganz still und genoss das Gefühl. Himmlisch.
Draußen war das Thermometer bereits auf dreißig Grad geklettert. Regina fühlte, wie sich auf ihrer Stirn Schweißperlen bildeten. Die Droge hatte ihre Körpertemperatur in die Höhe getrieben. Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse, aber das reichte nicht. Sie musste sich unbedingt ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht spritzen. Sie drehte sich um und machte sich auf den Weg ins Bad. Als sie bei der Tür ankam, hatte sie auf einmal so ein seltsames Gefühl, als kröche ihr etwas den Nacken hoch. Sie erschauerte.
Ihre Hand verharrte kurz auf dem Türknauf, dann blickte sie über die Schulter, als stünde jemand hinter ihr.
»Babe, bist du da drin?«, rief sie und ging mit dem Gesicht näher an die Tür heran.
Auch diesmal kam keine Antwort.
Das Kribbeln in ihrem Nacken lief ihr die Wirbelsäule hinunter und breitete sich von dort in ihrem ganzen Körper aus.
»Mann, das war wirklich fetter Stoff«, murmelte sie.
Regina drehte den Knauf und stieß die Tür auf.
Das Paradies wurde zur Hölle.