Hunter hatte noch für denselben Nachmittag ein Treffen mit den beiden Töchtern von Derek Nicholson vereinbart. Olivia, die Ältere, der er bereits in Nicholsons Haus begegnet war, hatte ihn gebeten, zu ihr nach Westwood zu kommen. Ihre Schwester Allison würde auch dort sein.
Hunter und Garcia hielten um vier Uhr fünfunddreißig vor Olivias Haus an. Der zweigeschossige Bau war nach Westwood-Maßstäben bescheiden, aber trotzdem größer und teurer als alles, was sich die Mehrheit der Angelinos auch nur erträumen durfte. Sie stiegen die wenigen Backsteinstufen zum Grundstück hinauf und gingen den kurzen Weg durch den gepflegten Vorgarten, in dem bereits die Sommerblumen blühten. Vor der Doppelgarage parkten zwei Autos, ein roter 3er BMW und ein fabrikneu aussehender Ford Edge in Tuxedo-Schwarz.
Hunter drückte auf die Klingel. Sie mussten fast eine Minute warten, bis Olivia ihnen die Tür aufmachte. Sie trug ein schwarzes knielanges Kleid ohne Ärmel und schwarze Schuhe. Die Haare hatte sie zu einem schlichten, konservativen Pferdeschwanz frisiert. Sie verbarg ihr Gesicht hinter einer dicken Schicht Make-up, doch die Zeichen einer schlaflosen und durchweinten Nacht waren deutlich zu erkennen.
Beim Anblick von Hunter und Garcia füllten sich ihre Augen sofort wieder mit Tränen, allerdings ließ sie es nicht so weit kommen, dass sie überquollen.
»Vielen Dank, dass Sie mit dem Gespräch einverstanden waren, Ms Nicholson«, sagte Hunter.
»Ich habe Ihnen doch gesagt«, antwortete sie und setzte ein tapferes Lächeln auf, »dass Sie mich Olivia nennen sollen. Bitte, kommen Sie herein.«
Sie ging ihnen voran in einen elegant und geschmackvoll eingerichteten Empfangsbereich. Die schönen Möbel zusammen mit Vasen voller Blumen schufen eine angenehme Atmosphäre. Olivia führte sie weiter bis ins erste Zimmer auf der rechten Seite – ihr Arbeitszimmer. Es war groß, und die Südseite wurde vollständig von einer riesigen Bücherwand eingenommen. Die Einrichtung war nicht weniger stilvoll als in der Halle, doch die Stimmung – im denkbar krassen Gegensatz zu draußen, wo der wolkenlose Himmel und die Sonne jedem ein Lächeln ins Gesicht zauberten – war ernst. Das Zimmer wirkte dunkel und beklemmend, ein Eindruck, der durch die geschlossenen Fenster und zugezogenen Vorhänge noch verstärkt wurde. Das einzige Licht kam von einer Stehlampe in der Ecke.
Neben einem wuchtigen Partnerschreibtisch stand eine Frau von etwa Ende zwanzig. Auch sie war ganz in Schwarz gekleidet. Beim Eintreten der beiden Detectives drehte sie sich um.
Allison Nicholson war außergewöhnlich schön, aber sehr dünn. Sie hatte glatte, schulterlange schwarze Haare und tiefdunkle, seelenvolle Augen, deren Blick viel wissender war, als man bei einer Frau ihres Alters vermutet hätte. Auch ihre Augen waren vom Weinen gerötet.
»Das ist meine Schwester Allison«, stellte Olivia sie vor.
Allisons Blick geisterte zwischen Hunter und Garcia hin und her, doch sie kam ihnen nicht entgegen. Kein Angebot zum Händeschütteln.
»Ally, das hier sind die Detectives Hunter und Garcia«, sagte Olivia und ging zu ihrer Schwester.
»Wir bedauern Ihren Verlust sehr«, erklärte Hunter. »Uns ist klar, wie schwer es für Sie beide sein muss, und wir sind Ihnen dankbar dafür, dass Sie sich die Zeit nehmen. Wir werden Sie auch nicht lange aufhalten.« Er holte sein schwarzes Notizbuch aus der Tasche. »Wenn wir Ihnen nur ein paar kurze Fragen stellen dürften?«
Das Schweigen der beiden war Anlass für Hunter, fortzufahren.
»Sie beide haben Ihren Vater vergangenen Samstag besucht, ist das richtig?«
»Ja«, antwortete Olivia.
»Können Sie sich noch daran erinnern, um wie viel Uhr Sie angekommen sind und wann Sie ihn wieder verlassen haben?«
»Ich war vor Ally da«, sagte Olivia. »Ich hatte am Nachmittag noch ein paar Sachen zu erledigen. Wir eröffnen gerade einen neuen Laden.«
Hunter wusste, dass Olivia die Eigentümerin von Healthy Eats war, einer Kette von Naturkostläden mit mehreren Filialen in der Stadt und im näheren Umkreis von Los Angeles. Allison hingegen war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten. Sie war Staatsanwältin.
»Ich war so gegen halb fünf oder fünf da«, fuhr Olivia fort. »Ally …«
»Ich bin gegen Viertel nach fünf gekommen«, kam Allison ihrer Schwester zu Hilfe.
Hunter wartete.
»Wir haben mit Dad zusammengesessen, so wie meistens, und uns unterhalten. Oder es zumindest versucht«, fuhr Allison fort. »Am Wochenende kocht Levy normalerweise immer für uns.« Sie deutete mit einem Nicken auf ihre Schwester. »Manchmal helfe ich ihr.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht gerade ein Meister am Herd.«
»Haben Sie vergangenen Samstag auch gekocht?«, wollte Hunter von Olivia wissen.
»Ja. Und dann haben wir alle gemeinsam zu Abend gegessen.«
»Was war mit Melinda Wallis, der Pflegerin?«, fragte Garcia.
»Mel hat immer mit uns zusammen gegessen. Sie ist so nett. Sehr fürsorglich.«
»Um wie viel Uhr sind Sie aufgebrochen?«
»Levy ist ein paar Minuten vor mir gefahren«, sagte Allison. »Ich habe mich so gegen neun auf den Weg gemacht.«
Olivia nickte.
»Hat eine von Ihnen dabei zufällig jemanden draußen in der Nähe des Hauses gesehen? Ist Ihnen irgendjemand oder irgendetwas aufgefallen?«
»Mir nicht«, gab Allison zur Antwort.
»Mir auch nicht«, fügte Olivia hinzu.
»Wir haben heute Nachmittag mit Amy Dawson gesprochen. Sie erwähnte zwei Besucher, die vor ungefähr dreieinhalb Monaten bei Ihrem Vater gewesen sein sollen. Hat Ihr Vater Ihnen davon erzählt? Wissen Sie, wer diese Besucher waren?«
Olivia und Allison schauten sich einen Moment lang an.
»Ich weiß, dass Staatsanwalt Bradley bei Dad zu Besuch war, das war kurz nach der Diagnose«, sagte Allison.
»Genau, das haben wir auch schon ermittelt«, sagte Garcia. »Aber anscheinend gab es noch eine weitere Person.« Er warf rasch einen Blick in seine Notizen. »Schlank, etwas über eins achtzig groß, jünger als Ihr Vater, braune Augen. Sagt Ihnen das was?«
Olivia schüttelte den Kopf.
»Die Hälfte aller männlichen Kollegen bei der Bezirksstaatsanwaltschaft würde auf die Beschreibung passen«, stellte Allison fest.
»Ihr Vater hat nichts von einem Besucher erwähnt, der vor einigen Wochen bei ihm war?«
»Mir gegenüber nicht«, sagte Allison.
»Nein«, setzte Olivia hinzu. »Was schon irgendwie merkwürdig ist. Dass Bradley zu Besuch war, hat Dad uns nämlich erzählt.«
Hunter steckte sein Notizbuch wieder ein. »Mrs Dawson hat außerdem noch zu Protokoll gegeben, dass Ihr Vater gesagt habe, er wolle sich mit jemandem aussprechen und über irgendetwas die Wahrheit sagen.«
Beide Frauen runzelten die Stirn.
»Wissen Sie etwas dazu?«
»Die Wahrheit worüber?«, fragte Allison.
Garcia zuckte die Achseln. »Das wüssten wir auch gern.«
»Über einen Prozess, den er geführt hat?«
»Wir wissen von nichts. Das ist alles, was wir an Informationen haben.«
Mehrere Sekunden verstrichen.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Vater irgendwas über eine Aussprache gesagt hätte«, meinte Olivia schließlich. »Ist Amy sich ganz sicher, dass das seine Formulierung war?«
Hunter und Garcia nickten.
Olivia warf Allison einen Blick zu.
»Mir hat Dad auch nie was darüber gesagt.«
Es gab noch eine Frage, die Hunter den beiden Frauen stellen wollte, aber dafür musste er seine Worte sorgfältig wählen. Er bemühte sich, möglichst beiläufig zu klingen. »Hat Ihr Vater sich für moderne Kunst interessiert?«
Dem Gesichtsausdruck der zwei Frauen nach zu urteilen, hätte Hunter ihnen keine seltsamere Frage stellen können.
»Bildhauerei zum Beispiel?«, schob er hinterher.
Das vergrößerte ihre Verwirrung nur.
»Nein«, antwortete Olivia. Dann warf sie Allison einen Blick zu, und beide sagten wie aus einem Mund:
»Aber Mom.«