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Olivia sah Hunter forschend ins Gesicht. Fünf lange Sekunden blickten ihre großen grünen Augen in seine, bevor sie zu dem Schluss kam, dass er die Wahrheit sagte. Sie griff nach ihrem Becher, führte ihn aber nicht zum Mund. Es war lediglich eine nervöse Geste, damit ihre Hände nicht so zitterten. Viel half es nicht.

»Ich konnte die letzten Tage nicht schlafen«, gestand sie. Sie wandte den Blick ab und fixierte eine Stelle an der Wand. »Wach zu liegen ist immer noch besser, als die Augen zu schließen und die Träume zu ertragen.«

Hunter sagte nichts. Er bezweifelte, dass es Olivia ein Trost wäre, wenn sie wüsste, dass es ihm schon fast sein ganzes Leben so ging.

»Wir wussten, dass Dad nicht mehr lange zu leben hatte, und so schwer das auch für uns war, Allison und ich waren darauf vorbereitet.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Unterlippe zitterte. »Dachte ich zumindest. Offenbar habe ich mich getäuscht. Und dann noch auf diese Weise zu erfahren, was wirklich passiert ist …« Sie schob Hunter die Zeitung hin und sagte nichts mehr.

»Noch einmal, es tut mir leid«, beteuerte Hunter, ohne die Zeitung anzusehen. »Ich musste eine Entscheidung treffen. Und das habe ich getan, auf der Grundlage meiner Erfahrungen im Umgang mit den Hinterbliebenen von Mordopfern.« Er sagte dies in sanftem Tonfall und ohne jede Herablassung.

Darauf schien Olivia anzusprechen. »Was gestern passiert ist …« Ihr Blick glitt zur Zeitung, dann zurück zu Hunter. »Gibt es da wirklich einen Zusammenhang?«

Durch ihre Frage zwang sie Hunter zu einer Antwort, die er ihr sowieso nicht ewig hätte vorenthalten können.

»Nach unserem bisherigen Kenntnisstand scheint es so, dass beide Verbrechen von demselben Täter verübt wurden, ja«, antwortete er, um dann rasch hinterherzuschieben: »Sie haben den Artikel ja offensichtlich gelesen.« Er deutete mit einem Nicken auf die Zeitung.

»Ja.«

»Sagt Ihnen der Name Andrew Dupek irgendwas?«

»Nein«, antwortete sie mit einem leichten Kopfschütteln.

»Sie erkennen ihn auf dem Zeitungsfoto nicht wieder?«

»Als ich den Artikel heute Morgen gelesen habe, habe ich mir dieselbe Frage gestellt, Detective.« Abermals wandte Olivia den Blick ab. »Weder sein Name noch sein Gesicht kommen mir bekannt vor. Falls mein Vater ihn gekannt hat, hat er ihn mir gegenüber nie erwähnt. Und ich kann mich definitiv nicht daran erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben.«

Hunter nahm dies mit einer leichten Neigung des Kopfes zur Kenntnis.

Olivia trank ihr Wasser aus, dann fixierte sie Hunter mit einem beschwörenden Blick. »Sie haben noch nicht viel in der Hand, oder, Detective?« Sie zögerte ganz kurz. »Und bitte belügen Sie mich nicht schon wieder.« Ihre Stimme kippte.

Hunter zögerte, weil er überlegte, was er ihr sagen sollte. Olivias bange Erwartung schwirrte wie eine elektrische Ladung in der Luft. »Im Moment haben wir mehrere Hinweise, die wir noch auswerten müssen. Aber wir machen Fortschritte«, versicherte er ihr. »Viel mehr als das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, es tut mir leid. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«

Einen langen, unangenehmen Moment saß Olivia einfach nur da und schwieg. »Detective. Ich weiß, dass nichts jemals meinen Vater zurückbringen kann, aber die Vorstellung, dass dieses Monster, das ihn getötet hat, vielleicht noch da draußen ist und weiter mordet … und dass es vielleicht nie seine gerechte Strafe bekommen wird – dieser Gedanke ist unerträglich für mich. Bitte lassen Sie das nicht zu.«

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