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Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Alice die Skulptur. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Verwirrung und Erstaunen. Sie konnte sich nicht erklären, was Hunter gesehen hatte.

Garcia stand noch immer wie angewurzelt an derselben Stelle. Sein fragender Blick wanderte von der Nachbildung zu Hunter und schließlich zum Display seiner Digitalkamera. Er rief die letzten drei Fotos auf, die er gemacht hatte, und sah sich jedes einzelne ganz genau an. Er konnte keinerlei Unterschiede entdecken.

»Also gut, ich geb’s zu: Ich bin aufgeschmissen«, verkündete er. »Was war da, Robert?« Er schielte zu Alice und sah dieselbe Ratlosigkeit in ihrem Gesicht. »Was haben wir übersehen?«

»Ihr müsst es selber sehen. Wartet, ich zeige es euch.« Hunter ging zu seinem Schreibtisch und schnappte sich seine Maglite-Taschenlampe, die beim LAPD zur Standardausrüstung jedes Polizisten gehörte. Dann stellte er sich genau dorthin, wo Garcia stand, und schaltete die Taschenlampe ein. Er hielt sie auf Hüfthöhe und richtete den Lichtstrahl auf die Skulptur.

Garcia und Alice sahen genau hin. Ihre Verwirrung wuchs.

»Okay, und …?«, sagte Alice.

»Nicht auf die Skulptur schauen«, sagte Hunter. »Sondern auf die Wand dahinter. Auf den Schatten.«

Zeitgleich hoben Garcia und Alice den Blick.

Jetzt waren sie nicht mehr verwirrt, sondern nur noch fassungslos.

Alice stand der Mund offen.

»Das ist doch wohl ein Scherz«, sagte Garcia.

Der Schatten, den die Skulptur warf, wenn sie aus einem ganz bestimmten Winkel angestrahlt wurde, zeigte zwei deutlich erkennbare Gestalten. Es waren Tiere, wie bei einem Schattentheater.

»Ein Hund und ein Vogel?«, meinte Alice unsicher und trat näher. Dann drehte sie sich um und betrachtete abermals die Nachbildung. »Na, so was.« Von dort, wo sie stand, sahen die zusammengebündelten Gliedmaßen kein bisschen nach einem Hund oder einem Vogel aus. Kein Wunder, dass es bislang niemandem aufgefallen war.

Hunter legte die Taschenlampe hinter sich auf ein Bücherregal, so dass ihr Strahl die Plastik weiterhin aus demselben Winkel beleuchtete. Die Schatten verschoben sich ein wenig, blieben aber klar erkennbar. Er ging näher zur Wand, um besser sehen zu können.

»Der Killer hat sein Opfer zerstückelt, um Schattenfiguren aus ihm zu machen?«, fragte Garcia. »Das wird ja immer bizarrer.«

»Er kommuniziert, Carlos«, gab Hunter zurück. »Die Bilder müssen irgendeine versteckte Bedeutung haben.«

»Du meinst … wie ein Rätsel im Rätsel? Erst die Skulptur, jetzt die Schattenfiguren … Wer weiß, was als Nächstes kommt. Er hat uns ein Puzzle hinterlassen.«

Hunter nickte. »Und er will, dass wir die einzelnen Teile zusammenfügen.« Er studierte die Schatten noch einen Moment lang, dann drehte er sich um und warf einen Blick auf die Gipsnachbildung, bevor er zur Pinnwand ging und zwei der Tatortfotos von der Originalskulptur herunternahm. Nachdem er sie lange und gründlich betrachtet hatte, ging er abermals zur Wand. »Was für ein Vogel könnte das wohl sein?«, fragte er.

»Was …? Keine Ahnung. Wahrscheinlich eine Taube«, meinte Alice.

Hunter schüttelte den Kopf. »Eine Taube hat nicht so einen Schnabel. Der hier ist zu lang und zu dick. Das muss ein größerer Vogel sein.«

»Und Sie glauben, das war Absicht?«

Erneut warf Hunter einen Blick auf die Skulptur. »Der Täter hat sich viel Mühe gegeben, um das Ding anzufertigen. Sehen Sie, wie er den Finger genau am Gelenk abgetrennt hat?« Er zeigte Alice die betreffende Stelle erst an der Gipsnachbildung und dann auf dem Foto. »Danach hat er ihn auf eine ganz bestimmte Art und Weise zurechtgebogen, um den Schnabel zu formen. Das war garantiert kein Zufall.«

»Eine Taube ist so ziemlich das simpelste Schattentier«, fügte Garcia hinzu. »Die lernt man mit als Erstes. Sogar ich weiß, wie man eine Taube macht.« Er verschränkte die Daumen ineinander, streckte die Finger aus, jedoch ohne sie zu spreizen, und schlug mit ihnen wie mit Flügeln. »Sehen Sie? Robert hat recht. Das ist keine Taube.«

»Okay, wenn das mit dem Schnabel stimmt, dann kann es auch kein Adler oder Habicht sein. Die haben nämlich beide Schnäbel, die vorne stärker nach unten gebogen sind, wie Haken.«

»Richtig«, sagte Hunter.

»Vielleicht eine Krähe«, schlug Garcia vor.

»Das war auch meine erste Eingebung«, sagte Hunter. »Eine Krähe, ein Rabe oder sogar eine Dohle.«

»Und Sie denken, es macht einen Unterschied, was für ein Vogel das ist?«, fragte Alice.

»Auf jeden Fall.«

»Dann ist der Hund vielleicht auch kein Hund«, gab Alice zu bedenken. »Er sieht aus, als würde er etwas anheulen. Den Mond?«

Die hundeartige Schattenfigur hatte den Kopf in den Nacken gelegt und das Maul halb geöffnet.

»Stimmt. Es könnte ein Hund sein, ein Wolf, ein Schakal, ein Kojote … das wissen wir noch nicht. Aber diese zwei Figuren sind definitiv nicht ohne Grund da, und wenn wir dahinterkommen wollen, was sie bedeuten – was der Täter uns damit sagen will –, dann müssen wir zuerst mal rausfinden, um was für Tiere es sich genau handelt.«

Wieder gingen alle Blicke zur Wand.

»Du hast dich in Derek Nicholsons Garten umgesehen, oder?«, wandte Hunter sich an Garcia.

»Ja, das weißt du doch.«

»Kannst du dich an eine Hundehütte erinnern?«

Garcia sah kurz weg und kniff sich in die Unterlippe. »Nein.«

»Ich mich auch nicht«, sagte Hunter mit einem Blick auf die Uhr. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und begann den Berg aus Notizen und Zetteln zu durchwühlen. Nach weniger als einer Minute hatte er gefunden, wonach er suchte. Er zückte sein Handy und wählte die Nummer auf dem Zettel in seiner Hand.

»Hallo«, meldete sich eine müde Frauenstimme.

»Ms Nicholson, Detective Hunter hier. Es tut mir leid, wenn ich Sie störe, ich fasse mich auch kurz. Ich müsste Sie nur schnell etwas über Ihren Vater fragen.«

»Natürlich«, sagte Olivia. Schon klang sie ein wenig wacher.

»Hatte Ihr Vater einen Hund?«

»Wie bitte?«

»Ob Ihr Vater einen Hund hatte.«

Schweigen trat ein, während Olivia den Zweck der Frage zu durchschauen versuchte.

»Äh, nein … hatte er nicht.«

»Hat er jemals einen besessen? Vielleicht als Sie noch jünger waren oder nach dem Tod Ihrer Mutter?«

»Nein. Wir hatten nie einen Hund. Mom mochte lieber Katzen.«

»Was ist mit einem Vogel?« Hunter konnte fast hören, wie Olivia die Stirn runzelte.

»Einen Vogel …?«

»Ja, irgendeine Art von Vogel.«

»Nein, einen Vogel hatten wir auch nicht. Wir hatten eigentlich überhaupt nie Haustiere. Wieso?«

Hunter rieb sich mit der Fingerspitze die Stelle zwischen den Augenbrauen. »Ich überprüfe nur einige Dinge, Ms Nicholson.«

»Falls Ihnen das weiterhilft: Mein Vater hatte in seinem Büro in der Stadt ein Aquarium mit ein paar Fischen.«

»Fische?«

»Ja. Er hat immer gesagt, dass er es beruhigend findet, Fischen zuzuschauen. So hat er sich vor, während oder nach einem großen Prozess entspannt.«

Hunter wusste, dass viele diese Auffassung teilten. »Gut. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Ms Nicholson. Es könnte sein, dass ich mich noch mal bei Ihnen melde, wenn Sie damit einverstanden sind.«

»Sicher.«

Er legte auf.

»Nichts?«, fragte Garcia.

»Keine Hunde, keine Vögel, überhaupt keine Haustiere, nur ein paar Fische im Büro. Die Verbindung liegt irgendwo anders.«

Genau in dem Moment stieß Captain Blake die Tür zum Büro auf. Sie hatte nicht angeklopft. Das tat sie nie. Sie war dermaßen in Eile, dass sie die Schattenfiguren an der Wand gar nicht wahrnahm.

»Sie werden es nicht glauben, aber er hat es schon wieder getan.«

Kollektives Stirnrunzeln.

Blake deutete mit dem Kopf auf die Gipsnachbildung. »Wir haben noch so eine.«

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