Die Worte trafen Hunter und Garcia mit der Wucht einer Steinlawine. Ihnen blieb beinahe die Luft weg.
Garcia musste sich schütteln, um den Ausdruck der Fassungslosigkeit loszuwerden, zu dem sein Gesicht erstarrt war. »Sie wurden von ihnen zusammengeschlagen?«
Zum ersten Mal unterbrach Jude den Blickkontakt zu den Detectives. Sie starrte in ihre halbvolle Kaffeetasse. »Ich bin nicht stolz auf mein Leben, aber ich schäme mich auch nicht dafür. Jeder hat irgendwann mal Dinge gemacht, die er im Nachhinein lieber nicht gemacht hätte.« Sie hielt kurz inne, um sich zu sammeln. Hunter und Garcia ließen ihr die Zeit, die sie brauchte. »Als ich noch viel jünger war, bin ich unten am Hollywood Boulevard, am hinteren Ende des Strip, auf den Strich gegangen.«
Das östliche Ende des berühmten Hollywood Boulevard galt einst als der bekannteste Rotlichtbezirk von Los Angeles.
»Ich war neu in der Gegend. Eigentlich war mein Stammplatz drüben in Venice Beach, aber damals war auf dem Strip mehr los. Wenn man die Kondition hatte, konnte man richtig gut Kasse machen.« Es lag keinerlei Scham in ihren Worten. Sie konnte ihre Vergangenheit nicht ändern, und sie trug sie mit großer Würde. »Wie auch immer, jedenfalls bin ich eines Abends zu diesem Typen ins Auto gestiegen. Es war schon ziemlich spät, nach Mitternacht, glaub ich. Er sah ganz gut aus, und er war irgendwie witzig. Er ist mit mir zu einer Wohnung in Griffith Park gefahren, aber was er mir vorher nicht gesagt hatte, war, dass da noch drei andere Kerle auf mich warteten.«
Judes Blick ging an den beiden Detectives vorbei in die Ferne, als versuche sie, die Zukunft zu sehen.
»Ich hab ihnen gleich gesagt, dass ich keinen Gruppensex mache, nicht für alles Geld der Welt.« Sie verstummte und griff nach ihrem kalten Kaffee.
»Aber das hat sie nicht gekümmert«, sagte Hunter.
»Nein, hat’s nicht«, sagte sie, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte. »Sie waren alle auf irgendwelchen Drogen und haben die ganze Zeit Alkohol getrunken. Aber das Schlimme war nicht, mit vier besoffenen Männern Sex zu haben. Das Schlimme war, dass sie es auf die harte Tour mochten.« Sie hielt inne und dachte noch einmal über ihre Worte nach. »Na ja, zwei von ihnen jedenfalls. Als sie mit mir fertig waren, hatte ich so viele blaue Flecke, dass ich eine Woche lang nicht arbeiten konnte.«
Es war sinnlos, Jude zu fragen, ob sie zur Polizei gegangen war. Sie arbeitete auf der Straße, und es war die traurige Wahrheit, dass die Polizei ihr vermutlich gar nicht zugehört hätte. Womöglich wäre sie noch wegen Prostitution verhaftet worden.
»Aber so was passiert nun mal in dem Job«, sagte Jude in schicksalsergebenem Tonfall und ohne jede Bitterkeit. »Das ist heute auch nicht anders. Das war eben das Risiko, wenn man auf eigene Rechnung arbeiten wollte. Ich war vorher auch schon verprügelt worden, und zwar schlimmer. So ist das halt. Wenn man auf der Straße arbeitet, weiß man nie, was für ein Sack das Fenster runterkurbelt und dich mitnimmt.«
Mit »auf eigene Rechnung« meinte Jude, dass sie keinen Zuhälter gehabt hatte. Zuhälter boten ihren Mädchen Schutz. Wenn ein Freier handgreiflich wurde oder sich weigerte zu zahlen, bekam er dafür die Quittung in Form von gebrochenen Beinen oder Schlimmerem. Das Problem war nur, dass die Mädchen für einen Hungerlohn arbeiten mussten. Zuhälter kassierten achtzig bis neunzig Prozent von dem, was die Mädchen verdienten, manchmal sogar noch mehr.
»Der Fahrer«, fuhr Jude fort. »Der, der mich mitgenommen und zu seinen Freunden gebracht hat – das war der Typ auf dem Foto in der Zeitung. Dupek. Das Arschloch.«
»Er hat Ihnen gesagt, wie er heißt?«, fragte Garcia.
»Nein, aber als er auf mir lag und mir mit seinen dicken Pfoten ins Gesicht geschlagen hat, hab ich einen oder zwei von den anderen gehört, wie sie ihn angefeuert haben. Erst dachte ich, das ist ein Witz oder so. Dass sie ihn aus Spaß ›Arschloch‹ auf Polnisch nennen. Aber dann ist mir klargeworden, dass das ja gar nicht sein kann. Ich weiß noch, wie ich gedacht hab: Er ist nicht das einzige Arschloch hier im Raum. Wenn du einen Namen hörst, während jemand dich vergewaltigt und verdrischt, dann vergisst du den nicht so schnell.«
»Und bei den anderen beiden sind Sie sich auch ganz sicher? Ich meine die anderen Fotos, die Sie in der Zeitung gesehen haben – von Derek Nicholson und Nathan Littlewood?«
»Ihre Namen hab ich an dem Abend nicht gehört. Aber ich kann mich noch an die Gesichter erinnern. Ich hab extra nicht die Augen zugemacht. Ich wollte ihnen nicht die Genugtuung gönnen und ihnen meine Angst zeigen. Ich weiß ja, dass solche Männer darauf abfahren. Wenn die Frau Angst hat und unterwürfig ist. Aber ich hab mir an dem Abend Mühe gegeben, mich nicht zu unterwerfen, wenigstens nicht im Kopf. Ich hab ihnen direkt in die Augen gesehen, während sie mich vergewaltigt haben. Jedem Einzelnen von ihnen.« Jude sah zu Garcia auf. »Also: Ja, ich bin mir ganz sicher, dass die anderen beiden Typen aus der Zeitung an dem Abend auch dabei waren.«
Hunter musterte sie weiterhin aufmerksam. In ihrer Stimme schwang Wut mit, aber es war eine alte Wut über etwas, das lange zurücklag. Ein Berufsrisiko, wie sie gesagt hatte. Sie hatte damit abgeschlossen.
»Sie sagten, zwei der vier waren brutaler als die anderen«, sagte Hunter. »Welche zwei waren das, wissen Sie das noch?«
Jude fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Ihr Blick ging wieder zu Hunter. »Und ob. Arschloch und dieser Littlewood. Das waren die Einzigen, die mich geschlagen haben. Die anderen beiden hatten zwar auch Sex mit mir, aber sie waren nicht so brutal. Ich glaub sogar, dass sie ihren Kumpels gesagt haben, sie sollen es ein bisschen ruhig angehen lassen.«
Hunter starrte auf die Wachstuchdecke, während er über Judes Worte nachdachte. In seiner Kindheit und Jugend war er dem Phänomen oft begegnet und als Erwachsener auch: Gruppendruck. Es gab ihn überall, selbst innerhalb des LAPD. Menschen taten Dinge, die sie nicht guthießen oder nicht tun wollten, nur um dazuzugehören. Das reichte von ganz gewöhnlichen Dingen wie Rauchen über Mobbing bis hin zu gefährlichen, brutalen Verbrechen – sogar Mord.
»Wie lange ist das jetzt her?«, fragte Hunter.
»Achtundzwanzig Jahre«, sagte Jude. »Ein paar Monate danach bin ich weg von der Straße.«