Am späten Nachmittag war der blaue Himmel über Los Angeles dunklen, drohenden Wolken gewichen. Sie kündigten das erste Unwetter des Sommers an.
Hunter erreichte Los Feliz, ein hügeliges Viertel nördlich von East Hollywood, gerade als in der Ferne der erste Donner rollte. Garcia war zu Nathan Littlewoods Praxis gefahren. Er wollte erneut einige der Angestellten aus den Nachbarbüros befragen und sich noch einmal am Tatort umsehen.
Littlewoods Wohnung lag im zehnten Stock eines vierzehnstöckigen Hochhauses an der Ecke Los Feliz Boulevard und Hillhurst Avenue. Hunter hatte sich von Littlewoods Sekretärin den Zweitschlüssel geben lassen. Die Eingangshalle war groß, hell, blitzsauber und einladend. Hinter einem halbrunden Empfangstresen saß der Pförtner, ein etwa sechzigjähriger Afroamerikaner mit akkurat getrimmtem Ziegenbärtchen. Als Hunter durch die Halle ging und den Fahrstuhlknopf drückte, hob er den Blick von seinem Taschenbuch.
»Besuchen Sie jemanden?«, fragte er, ohne aufzustehen.
»Nein, Sir«, antwortete Hunter und hielt seine Marke in die Höhe. »Ich bin beruflich hier.«
Das machte den Pförtner hellhörig. Er ließ sein Buch sinken. »Gab es einen Einbruch, von dem ich nichts weiß?« Er begann auf seinem kleinen Tresen in einigen Papieren zu wühlen. »Hat jemand den Notruf gewählt?«
»Nein, es gab keinen Einbruch, Sir. Niemand hat die Polizei verständigt. Es ist reine Routine.« Mehr sagte Hunter nicht. Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und er trat ein.
Der Flur im zehnten Stock war lang, breit und gut beleuchtet. Es roch dezent nach exotischem Lufterfrischer. Die Wände waren cremeweiß mit hellbraunen Sockelleisten, der Teppichboden beige mit einem Muster aus Dreiecken. Apartment Nummer 1011 lag am Ende des Flurs. Von Shelby Sellers wusste Hunter, dass Littlewood keine Alarmanlage in seiner Wohnung hatte. Er sperrte die Tür auf und drehte langsam am Knauf. Vor ihm lag eine dunkle Diele.
Hunter schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete den kleinen Raum vom Flur aus ab. An einer Wand hing ein mittelgroßer Spiegel, darunter stand eine schmale, transparente Konsole mit einer leeren Holzschale darauf. Wahrscheinlich legte Littlewood dort seine Schlüssel ab, wenn er nach Hause kam. Links vom Spiegel waren drei hölzerne Kleiderhaken an der Wand befestigt. Am letzten Haken hing ein grauer Blazer.
Hunter stieß die Tür vollständig auf, trat ein und betätigte den Lichtschalter. Von der Diele aus gelangte man geradeaus in eine kleine Küche und links in ein mittelgroßes Wohnzimmer.
Rasch griff Hunter in die Taschen des grauen Blazers. Alles, was er darin fand, war eine Kreditkartenquittung für ein Essen in einem Chinarestaurant. Das Datum war von voriger Woche. Der Adresse auf der Quittung zufolge befand sich das Restaurant nur einen Straßenblock entfernt.
Hunter steckte die Quittung in die Blazertasche zurück und drang vorsichtig bis in die Mitte des Wohnzimmers vor. Er sah sich gründlich um. An der südlichen Wand stand ein großer Plasmafernseher auf einem schwarz glänzenden Medienschrank. In dem Fach unter dem Fernseher befanden sich ein DVD-Player sowie ein Satelliten-Receiver, rechts daneben eine Mikro-Stereoanlage. Die restlichen Regale des Schranks waren mit CDs und DVDs angefüllt. Außer dem Medienschrank gab es noch einen Esstisch für vier Personen, ein luxuriöses schwarzes Ledersofa und zwei passende Sessel, einen Couchtisch mit Glasplatte, eine Massivholz-Anrichte sowie ein großes, aus allen Nähten platzendes Bücherregal. Das Zimmer war nicht unordentlich, allerdings auch nicht übermäßig aufgeräumt. Es gab weder typisch weibliche noch typisch männliche Einrichtungselemente. Neutral, durchschnittlich waren die Worte, die sich Hunter aufdrängten. Die zugezogenen Vorhänge füllten den Raum mit dunklen Schatten.
Hunter sah nur ein einziges gerahmtes Foto, das halb hinter einigen CDs verborgen auf dem glänzenden Medienschrank stand. Das Bild zeigte Littlewood, wie er einen etwa achtzehnjährigen Jungen umarmte. Der Junge trug einen Talar in den Farben seiner Schule, und sowohl er als auch Littlewood trugen ein breites, stolzes Lächeln im Gesicht. Hunter hatte zwei ganz ähnliche Bilder von sich und seinem Vater zu Hause stehen – eins nach bestandenem Highschool-Abschluss, das andere nach dem College-Examen.
»Wonach um alles in der Welt suchst du eigentlich, Robert?«, murmelte er.