Corbí und Ellison betraten, gefolgt von Hunter und Garcia, das Apartment Nummer 311. Zusammen mit den vier Leuten von der Spurensicherung wurde das kleine Wohnzimmer zur Sardinenbüchse.
»Was ist da drin?«, fragte Hunter und wies auf die silberne Dose auf dem Esstisch.
»Jetzt nichts mehr«, antwortete Corbí. »Aber da waren mal Drogen drin – Kokain, um genau zu sein. Nur ganz wenig verschnitten. Wahrscheinlich erstklassige Qualität. Das Labor wird das noch bestätigen. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass der, der ihn getötet hat, auch die Drogen hat mitgehen lassen.«
»Sie glauben, Drogen waren das Motiv für den Mord?«, fragte Garcia.
»Wer weiß das schon zu diesem Zeitpunkt?«, gab Ellison zurück.
»Wer hat die Sache gemeldet?«
»Ein völlig verschrecktes Mädchen. Hat keinen Namen genannt. Sie klang sehr jung.«
»Wann war das? Wann kam der Notruf rein?«
»Heute früh. Wir haben uns die Aufzeichnung angehört. Das Mädchen hat gesagt, sie wär eine Bekannte. Wahrscheinlich ist sie hergekommen, um ein bisschen Stoff zu schnorren. Von den Nachbarn, die bis jetzt befragt wurden, weiß keiner, wer diese junge Bekannte gewesen sein könnte.« Ellison hob die Brauen. »Die meisten haben den Mieter der Wohnung angeblich kaum gekannt. Niemand macht den Mund auf, und in einem Haus wie dem hier würde mich alles andere auch ziemlich wundern. Aber die Spurensicherung hat schon Fingerabdrücke von mehreren Personen sichergestellt. Wer weiß, vielleicht haben wir ja Glück.«
Hunters Blick erfasste innerhalb weniger Sekunden den Raum. Nirgendwo Blutspuren. Im Wohnzimmer herrschte ein ziemliches Chaos, aber das war am Vortag, als sie Tito ihren Besuch abgestattet hatten, auch schon so gewesen. Es gab keine sichtbaren Anzeichen darauf, dass etwas verändert oder durchwühlt worden war. Die Kette innen an der Wohnungstür war intakt. Nichts deutete auf gewaltsames Eindringen hin.
»Seid ihr fertig da drinnen?«, fragte Corbí den Leiter des Teams von der Spurensicherung und deutete auf den winzigen Flur, der zum Bad und zum Schlafzimmer führte.
»Ja, wir haben so weit alles. Ihr könnt jetzt rein.«
Sie durchquerten das Wohnzimmer.
»Wir passen nicht alle zusammen da rein«, sagte Corbí, als sie die Badezimmertür erreicht hatten. »Ich habe immer gedacht, kein Bad kann kleiner sein als das in meiner Wohnung, aber da habe ich mich wohl geirrt. Gehen Sie ruhig, wir haben es ja schon gesehen.« Corbí und Ellison machten Platz für Hunter und Garcia.
Langsam stieß Hunter die Tür auf.
»Ach du Scheiße«, entfuhr es Garcia.
Hunter sagte nichts. Schweigend nahm er alles in sich auf.
Der Boden, die Wände und das Waschbecken in dem winzigen Badezimmer waren voller Blut. Arterielle Spritzmuster, die daher kamen, dass jemandem mit einem Messer Bauch oder Kehle aufgeschlitzt worden war. Tito war nackt. Er saß mit dem Rücken an der gekachelten Wand in der blutgetränkten Duschwanne auf dem Boden. Seine Beine waren gerade vor dem Körper ausgestreckt, die Arme hingen schlaff herunter. Sein Kopf war nach hinten gekippt, als betrachte er etwas an der Zimmerdecke. Nur, dass er keine Augen mehr hatte. Sie waren beide so tief in den Schädel gedrückt worden, dass sie kaum noch zu sehen waren. Ein Augapfel schien dabei geplatzt zu sein. Etwas, das wie blutige Tränen aussah, lief aus Titos Augenhöhlen, an den Ohren vorbei und seitlich an seinem kahlrasierten Kopf hinab. Sein Mund war geöffnet und zur Hälfte mit klumpig geronnenem Blut gefüllt. Ihm war die Zunge herausgerissen worden.
»Die Zunge haben wir in der Kloschüssel gefunden«, meldete sich Corbí von der Tür her.
Titos Kehle war über die gesamte Breite seines Halses aufgeschlitzt. Das Blut war ihm über Brust, Bauch und Beine gelaufen.
»Laut Spurensicherung«, warf Ellison ein, »gibt es keine sichtbaren Verletzungen an der Leiche, was bedeutet, dass er nicht zusammengeschlagen wurde. Er wurde einfach nur ins Bad gezerrt und wie ein Stück Vieh abgeschlachtet. Kein Blut irgendwo sonst in der Wohnung.«
»Drogen?«, fragte Garcia.
»Das wird die Autopsie zeigen, aber es würde mich nicht wundern, wenn er zur Tatzeit dicht wie ein U-Boot gewesen wäre. An dem kleinen Spiegel auf dem Tisch im Wohnzimmer sind Reste von Kokain.«
»Das Schlafzimmer ist ein Saustall«, redete Corbí weiter. »Es stinkt nach dreckiger Wäsche, ungewaschenen Körperteilen und Gras. Aber wenn ich mir den Rest der Wohnung so anschaue, glaube ich nicht, dass wir das dem Täter zu verdanken haben. Ich glaube, er hat aus freien Stücken wie ein Schwein gehaust. Außerdem haben wir Marihuana im Schlafzimmer gefunden, ein ganzes Kilo, zusammen mit ein paar Crack-Pfeifen. Wenn der Täter nach irgendwas gesucht hat, dann hat er es höchstwahrscheinlich in der kleinen silbernen Dose im Wohnzimmer gefunden, ob es nun Drogen waren oder nicht.« Er wartete, bis Hunter und Garcia das Bad verlassen hatten. »Ich werde Sie nicht fragen, was für Informationen Sie von diesem Tito haben wollten. Das ist Ihre Angelegenheit, und ich werde mich bestimmt nicht in die Ermittlungen von Kollegen einmischen, aber gibt es irgendwas, was Sie uns über das Opfer sagen können, das uns bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte?«
Hunter war klar, dass er Corbí und seiner Partnerin gegenüber nicht Ken Sands’ Namen erwähnen durfte. Corbí würde sofort die Fahndung nach ihm einleiten und überall die Fühler ausstrecken. Immer mehr Leute auf der Straße würden erfahren, dass Sands gesucht wurde, und folglich würde auch die Wahrscheinlichkeit steigen, dass dieser Wind davon bekam und untertauchte. Das durfte Hunter nicht riskieren. Er musste lügen.
»Leider kann ich Ihnen nichts weiter sagen«, antwortete er.
Corbí beobachtete aufmerksam Hunters Miene und Verhalten und sah darin nichts, was seine Antwort als Lüge entlarvt hätte. Falls es ein Pokerface war, dann war es das beste Pokerface, das Corbí je gesehen hatte. Er wandte sich an Ellison, die mit den Schultern zuckte.
»Also gut«, meinte Corbí und rückte sich die Krawatte zurecht. »Dann gibt es hier für Sie wohl nichts mehr zu sehen.«