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Das Blut auf dem Boden und an den Wänden war geronnen und dann getrocknet. Mit dem Absterben der roten Blutkörperchen und ihrer allmählichen Verwesung war der charakteristische Eisengeruch des Blutes verflogen und hatte einem anderen, sehr viel strengeren Geruch Platz gemacht: ranziges Fleisch, vermischt mit saurer Milch. Genau so stank ein gewaltsamer Tod – das behaupteten zumindest viele, die schon einmal am Schauplatz eines brutalen Mordes gewesen waren.

Hunter blieb an der Tür zu Dupeks Kajüte stehen. Mitten in der Nacht alleine an Tatorte zurückzukehren war für ihn mittlerweile fast zu einer Obsession geworden. Es gab ihm die Möglichkeit, sich in aller Ruhe umzuschauen und zu versuchen, sich, und sei es nur für kurze Zeit, in die Gedankenwelt des Mörders hineinzuversetzen. Aber wie konnte man Sinn in der Sinnlosigkeit finden?

Hunter hatte den Bericht der Spurensicherung wieder und wieder gelesen. Die Schuhabdrücke, die er tags zuvor auf dem Fußboden der Kajüte gesehen hatte, waren sehr uneinheitlich und konnten keiner bestimmten Schuhgröße zugeordnet werden. Die Blutmenge auf dem Boden war so groß, dass sofort nach Anheben des Fußes Blut nachgeflossen war und die Konturen verwischt hatte. Das erschwerte die kriminaltechnische Analyse erheblich. Mike Brindle, der Leiter des zuständigen Teams der Spurensicherung, hatte Hunter früher am Tag mitgeteilt, dass ihm etwas Merkwürdiges an den Schuhabdrücken aufgefallen sei. Die Gewichtsverteilung sei nicht bei jedem Schritt gleich gewesen. Das legte den Schluss nahe, dass der Täter entweder einen Gehfehler hatte oder absichtlich zu große Schuhe getragen. Der Trick war Hunter wohlbekannt. Ein Sohlenprofil hatte die Spurensicherung ebenfalls nicht feststellen können, was darauf hindeutete, dass der Täter seine Schuhe mit einem Überzug aus dickem Plastik oder ähnlichem Material geschützt hatte. Das erklärte auch das Fehlen blutiger Schuhabdrücke außerhalb der Kajüte.

Brindle hatte Hunter versichert, dass sein Team die Kajüte genau so verlassen habe, wie sie sie vorgefunden hatten. Die Gegenstände, die sie zwecks kriminaltechnischer Analyse mitgenommen hatten, waren auf einer Liste verzeichnet, die Hunter dabeihatte. Alles andere befand sich noch am ursprünglichen Platz.

Hunter zog den Reißverschluss seines Tyvek-Overalls zu und betrat die Kajüte. Er machte sich keine Gedanken darüber, dass er den Tatort verunreinigen könnte; er wollte nur verhindern, dass Blut an seine Schuhe und Kleider gelangte oder der widerliche Geruch an ihm haften blieb. Denn wenn sich dieser Geruch einmal im Stoff festgesetzt hatte, konnte man ihn durch kein noch so häufiges Waschen oder Reinigen loswerden, das wusste er. Es war ein psychologischer Mechanismus. Das Gehirn assoziierte die Kleidungsstücke automatisch mit dem Geruch, und zwar auch dann noch, wenn er sich längst verflüchtigt hatte.

In der Mitte des Raums blieb Hunter stehen und ließ den Blick langsam in die Runde schweifen.

War der Täter schon an Bord gewesen, als Dupek sein Boot betreten hatte?

Die Kajütentür zeigte keinerlei Anzeichen gewaltsamen Eindringens, obwohl es für jemanden mit ein bisschen Erfahrung kein großes Problem hätte sein dürfen, die zwei Schlösser zu knacken.

Um sicherzugehen, dass ihm nichts entgangen war, durchlief Hunter im Wesentlichen noch einmal genau dieselben Schritte wie am Tag zuvor mit Garcia. Er ging zum kleinen Kühlschrank und zog die Tür auf. Er war gut bestückt – mehrere Flaschen Wasser, Käse, Aufschnitt sowie reichlich Bier. Er sah erneut im Mülleimer nach – das Einwickelpapier eines Schokoriegels und eine leere Beef-Jerky-Tüte. Keine Bierflaschen. In der kleinen Küche standen auch keine Gläser herum. Falls Dupek also jemanden zu sich an Bord eingeladen hatte, kurz bevor er zu seinem zweiwöchigen Segeltörn aufbrechen wollte, dann höchstwahrscheinlich nicht für ein geselliges Beisammensein.

Also was dann?

Garcia hatte gemutmaßt, dass der Täter Dupek außerhalb des Bootes mit einer Waffe bedroht und gezwungen haben könnte, die Tür aufzuschließen, bevor er ihn mit dem Schlag ins Gesicht außer Gefecht setzte. Doch nach eingehender Betrachtung beider Tatorte und mit Dr. Hoves Vermutung im Hinterkopf, dass die bevorzugte Waffe des Täters ein elektrisches Tranchiermesser war, fand Hunter diese Theorie wenig plausibel. Der Täter mochte keine Schusswaffen.

Er durchquerte die Kajüte bis zur gegenüberliegenden Wand, wo sich die größte Blutlache befand. Der Stuhl, auf dem Dupeks Leiche gesessen hatte, war von der Spurensicherung mitgenommen worden, aber die Stelle, an der er gestanden hatte, war mit Klebeband markiert. Hunter blieb stehen und sah sich um. Man konnte sich nirgendwo verstecken. Jeder, der den Versuch unternahm, hier jemandem aufzulauern, würde sofort entdeckt werden – es sei denn, er war ein Zwerg. Schon von der Tür aus hätte Dupek die gesamte Kajüte im Blick gehabt. Lediglich das Badezimmer war nicht einzusehen, allerdings galt das nur bei geschlossener Tür. Wenn der Täter sich dort versteckt gehalten hatte, hätte er zwei Möglichkeiten gehabt: zu warten, bis Dupek aus irgendeinem Grund die Badezimmertür öffnete, und ihn dann mit einer entsprechenden Schlagwaffe niederzustrecken; oder selbst die Tür zu öffnen und Dupek zu attackieren, sobald dieser die Kajüte betrat.

Hunter erkannte sofort, was gegen diese beiden Möglichkeiten sprach. Wie in jeder Bootskajüte war auch hier das Bad alles andere als großzügig geschnitten. Dr. Hove war sich sicher, dass Dupek durch einen einzigen heftigen Schlag betäubt worden war, und dieser Schlag hatte ihn mit viel Schwung von rechts getroffen. Einen solchen Schlag auszuführen, wenn man in Dupeks Badezimmer stand, war völlig unmöglich. Es gab schlicht und ergreifend nicht genug Platz. Wäre der Täter andererseits aus dem Bad auf Dupek zugestürzt, hätte er in jedem Fall mehrere Sekunden gebraucht, um ihn zu erreichen. Das hätte Dupek genügend Zeit gegeben, die grundlegendste aller Abwehrhaltungen einzunehmen, indem er die Arme hochriss, um das Gesicht zu schützen. Doch waren weder an Händen noch an Armen des Opfers Abwehrverletzungen gefunden worden.

Hunters Blick wanderte erneut durch den Raum und blieb schließlich an der kleinen Luke hängen, hinter der sich der Innenbordmotor des Bootes verbarg. Wie fast alles auf dieser Seite der Kajüte war auch sie mit getrocknetem Blut bedeckt. Weil die Spurensicherung es am Vorabend so eilig gehabt hatte, den Tatort zu untersuchen, hatte Hunter nicht die Zeit gefunden, den Motor gründlicher in Augenschein zu nehmen. Nun ging er neben der Luke in die Hocke und zog die Abdeckung auf. Der Raum dahinter war nicht größer als ein normaler Schrank. Der Motor nahm fast den gesamten Platz ein. Durch die Ritzen war Blut hineingelaufen und auf den Motor und den ölverschmierten Boden darunter getropft. Hunter wollte die Luke gerade wieder schließen, als er etwas entdeckte, das ihn stutzig machte: Blutspuren auf dem mittleren Teil des Motors. Es waren keine Tropfen, die durch den Spalt in der Abdeckung gesickert waren, sondern eindeutig Spritzer. Hunter hatte ähnliche Verteilungsmuster schon oft gesehen – Wundspritzer, normalerweise verursacht durch eine Drehbewegung, wie wenn ein Angreifer seinem Opfer einen Schlag ins Gesicht versetzt. Durch die Wucht des Schlages wird der Kopf des Opfers herumgerissen, und das Blut, das dabei aus der Wunde fliegt, hinterlässt ein bogenförmiges Spritzmuster.

Hunter griff nach der Mappe mit dem kriminaltechnischen Bericht und blätterte rasch durch die Beweisfotos. Als er das richtige Foto gefunden hatte, begann es in seinem Kopf fieberhaft zu arbeiten. Er spielte sämtliche Möglichkeiten durch. Schließlich langte er mit der Hand nach unten, steckte den Kopf in den Motorraum und tastete an der Unterseite des Motors herum. Als er die Hand wegzog, klebte eine schmierige Flüssigkeit daran.

Hunter spürte, wie sich das Blut in seinen Adern erwärmte. »Ganz schön schlau, der Mistkerl.«

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