Garcia, der neben Hunter stand, las, so schnell er konnte. Ihm fiel nichts Besonderes auf. »Okay, was übersehe ich hier?«
Hunter tippte mit dem Finger auf einen Titel – Grundlagen der Rorschach-Interpretation.
Garcia verzog das Gesicht. »Entschuldigt meine dämliche Frage, aber was ist Rorschach?«
»Hermann Rorschach war ein Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker«, dozierte Hunter. »Ein Freudianer. In erster Linie ist er als Entwickler eines projektiven Testverfahrens bekannt – des nach ihm benannten Rorschach-Formdeuteversuchs beziehungsweise Tintenkleckstests.«
Man konnte fast hören, wie Garcia nachdachte. »Verdammte Axt. Ist das nicht dieser bizarre Test, bei dem man ein weißes Blatt mit einem Tintenklecks gezeigt bekommt und sagen muss, was man sieht? Ein bisschen so, wie wenn man Wolkenformen deutet?«
»Kurz zusammengefasst, ist das das Prinzip des Tests, ja«, bestätigte Hunter.
»Und nicht ganz so kurz zusammengefasst, ist das Prinzip des Tests welches?«, hakte Garcia nach.
Hunter ließ die Liste auf seinem Schreibtisch liegen und lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten. »Der offizielle Test besteht aus zehn Tafeln mit Tintenklecksen. Jeder Tintenklecks ist nahezu perfekt achsensymmetrisch. Fünf Tintenkleckse sind schwarz, zwei sind rot-schwarz und drei sind bunt. Im Laufe der Jahre haben Psychologen den Test immer weiter verändert und eigene Tafeln mit Tintenklecksen entworfen. Manche haben dabei die ursprüngliche Symmetrie der Kleckse auch vollständig aufgegeben.«
»Okay, aber wozu soll der Test dienen? Was genau wird dabei getestet?«
Hunter neigte den Kopf zur Seite, als sei die Frage nicht so leicht zu beantworten. »Der Test soll eine ganze Palette von Persönlichkeitsmerkmalen und psychischen Störungen abfragen, wie zum Beispiel geringes Selbstwertgefühl, Depressionen, mangelhaft ausgebildete Bewältigungsmechanismen, Problemlösungs-Defizite …« Er machte eine Geste mit der Hand, um anzudeuten, dass die Aufzählung noch weiterging. »Im Wesentlichen versucht der Test, die geistige Verfassung und Soziabilität einer Person festzustellen.«
»Anhand von Tintenklecksen?«, fragte Garcia.
Hunter hob die Schultern und nickte. Er konnte die Skepsis seines Partners sehr gut nachvollziehen.
»Ja, aber lasst doch mal kurz außer Acht, was der Test abfragen soll«, schaltete sich Alice ein, »und denkt stattdessen an unseren Fall. Die Schattenbilder könnte man doch als Sands’ ganz persönlichen Rorschach-Test interpretieren.«
Hunter schüttelte energisch den Kopf. »Der Täter will uns testen, das steht fest, aber nicht mit Tintenklecksen.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Carlos hat es eben schon auf den Punkt gebracht. Die Tintenkleckse sind genau das: Kleckse ohne erkennbare Form. Aber was unser Täter uns hinterlassen hat, ist in seiner Form ganz klar zu erkennen. Beim ersten Mal waren es ein Kojote und ein Rabe, und obwohl wir uns über die Bedeutung des zweiten Bildes noch nicht einig sind, ist es definitiv nicht bloß ein formloser Fleck.«
»Okay, geschenkt. Trotzdem kommt es aber doch auf die Interpretation an, oder? Darauf, was wir zu sehen glauben«, hielt Alice dagegen. »Die meisten Leute hätten doch gar nicht gewusst, dass ein Kojote und ein Rabe zusammen einen Lügner und Betrüger symbolisieren.«
»Wir wussten es auch nicht«, sagte Hunter. »Bis du es recherchiert hast, das darfst du nicht vergessen. Bis zu einem gewissen Grad ist jedes Bild Interpretationssache. Die Art, wie jemand ein Kunstwerk betrachtet, kann ganz anders sein, als der Künstler es ursprünglich beabsichtigt hat.«
»Das da ist keine Kunst, Robert«, sagte Alice und zeigte auf die Gipsnachbildung.
»Für uns nicht, aber für den Mörder …?« Hunter ließ den Satz unvollendet. »Abscheulich oder nicht, es ist sein Werk, seine Schöpfung, seine Kunst. Und ich wette mit dir, dass er, als er die Skulpturen gemacht hat, was ganz anderes darin gesehen hat als das, was wir jetzt sehen. Ein anderer Gemütszustand führt automatisch dazu, dass man andere Dinge sieht.«
Alice starrte die Skulptur an. »Ein anderer Gemütszustand?«
Hunter stand auf und ging zur Pinnwand. »Interpretation ist immer abhängig von der seelischen Befindlichkeit des Interpretierenden. Jemand kann ein und dasselbe Bild betrachten und zwei völlig unterschiedliche Dinge darin sehen, je nachdem, in welcher Stimmung er sich gerade befindet. Und genau das ist auch die Schwäche des Rorschach-Tests.«
»Wie kann ein und dieselbe Person unterschiedliche Dinge in ein und demselben Bild sehen?« Alice hatte den Blick auf das Foto der Schattenfigur von Dupeks Boot gerichtet. »Wenn ich das anschaue, sehe ich jedes Mal exakt dasselbe: einen Teufel, der auf mehrere Personen hinabschaut, möglicherweise seine Opfer.«
»Dann bist du nicht offen«, entgegnete Hunter. »Mal angenommen, wir haben irgendein formloses Gebilde, das einem Gesicht mit offenem Mund ähnlich sieht. Du zeigst es jemandem, der zum fraglichen Zeitpunkt gerade glücklich ist. Der wird darin vielleicht jemanden sehen, der laut lacht.«
Garcia begriff sofort. »Aber wenn dieselbe Person aus irgendeinem Grund traurig oder schlecht gelaunt wäre, würde sie in dem Bild vielleicht jemanden sehen, der leidet und deswegen schreit.«
»Richtig. Unsere Gemütslage hat Einfluss auf unsere Weltsicht. Das ist immer schon das größte Argument gegen den Rorschach-Test gewesen. Viele sagen, dass er nichts anderes testet als die seelische Grundverfassung der Testperson zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Aber in einem stimme ich dir zu, Alice. Was auch immer die Bedeutung hinter diesen Bildern ist«, Hunter zeigte auf das Foto des Schattenbildes, »es dreht sich alles darum, wie wir sie interpretieren. Das ist der Schlüssel zum Rätsel. Wenn wir die Bilder falsch deuten, wenn wir nicht rausfinden, was genau der Täter uns damit mitzuteilen versucht …« Hunter schüttelte den Kopf. »Dann, glaube ich, werden wir ihn niemals fassen.«