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Der Raum, in dem Alice wartete, war eine triste, etwa sechs mal zehn Schritte große Schachtel ohne Fenster, dafür aber mit einer massiven Tür. Er war leer bis auf einen mit dem Betonboden verschraubten Metalltisch und zwei Plastikstühlen, die besser auf eine Terrasse gepasst hätten, und erfüllt von dem beißenden Geruch starker Bleiche. Von diesem Geruch abgesehen erinnerte der Raum Alice an die Verhörzellen, die sie im PAB gesehen hatte. Nur der Spiegel an der Wand fehlte.

Eine Minute verstrich, ehe Healy in Begleitung eines Mannes zurückkam, der halb so groß und doppelt so alt war wie er. Die wenigen weißen Haare, die der Mann noch auf dem Kopf hatte, waren kurz und sauber geschnitten. Sein Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht, die ihm etwas Trauriges verliehen und von einem größtenteils in Gefangenschaft verbrachten Leben zeugten. Auf der Spitze seiner nach mehreren Brüchen krummen Nase saß eine Lesebrille. Seine Augen sahen aus, als wären sie früher einmal hart und gemein gewesen, doch jetzt schauten sie nur noch müde und resigniert in die Welt. Auch er trug einen orangefarbenen Häftlingsoverall.

»Unser Bibliothekar hat sich heute krankgemeldet. Das hier ist Jay Devlin, der Bibliotheksassistent«, erklärte Healy. »Er macht das schon seit neunzehn Jahren und weiß alles, was es über die Bibliothek zu wissen gibt. Wenn er Ihnen nicht helfen kann, dann kann es keiner.«

Devlin nickte höflich zur Begrüßung, gab Alice jedoch nicht die Hand. Er ließ die Arme herabhängen und hielt den Kopf gesenkt.

Healy instruierte Devlin. »Wenn sie in den Lesesaal gehen muss, ruf Officer Toledo, der begleitet euch dann, verstanden? Ich will nicht, dass sie auf eigene Faust da rumläuft.«

»Alles klar, Boss.« Devlins Stimme war nur unwesentlich lauter als ein Flüstern.

»Falls Sie aufs Klo müssen«, sagte Healy, nun wieder an Alice gewandt, »kommt Officer Toledo mit und kontrolliert, ob frei ist, bevor Sie reingehen. Wir haben hier keine extra Räumlichkeiten für Damen, die gibt’s nur im Besucherblock. Wenn Sie hier fertig sind, ruft Jay oben an, ich komme dann und hole Sie ab.«

»Jawohl, Boss«, antwortete sie mit einem Nicken. Es juckte sie, vor ihm zu salutieren, aber sie beherrschte sich.

Healys Augen verengten sich, und er bedachte sie mit einem Blick, der Milch zum Gerinnen gebracht hätte. »Ich hoffe, unsere Bibliothek entspricht Ihren Erwartungen«, sagte er noch, bevor er ging und die Tür hinter sich zuschlagen ließ.

»Er ist wohl nicht so der Mann für Scherze, was?«, fragte Alice.

»Nein, Ma’am«, sagte Devlin. Seine Körperhaltung drückte Befangenheit aus. »Die Schließer hier mögen keine Witze, es sei denn, sie gehen auf unsere Kosten.«

»Ich bin Alice.« Sie streckte ihm die Hand hin.

»Ich bin Jay, Ma’am.« Auch diesmal machte er keine Anstalten, ihr die Hand zu schütteln.

Alice trat einen Schritt zurück. »Mein Anliegen ist eigentlich ganz simpel. Ich brauche eine Liste aller Bücher, die ein bestimmter Ex-Häftling aus der Bibliothek entliehen hat.«

»In Ordnung.« Devlin nickte und sah ihr zum ersten Mal ins Gesicht. »Das dürfte nicht weiter schwer werden. Haben Sie die Nummer des Häftlings?«

»Ich habe seinen Namen.«

»Kein Problem, damit kann ich auch was anfangen. Wie heißt er?«

»Ken Sands.«

Devlins Lider zuckten kurz.

»Sie kannten ihn?«

Devlin nickte und fuhr sich zweimal hastig mit der Hand über Mund und Kinn. »Ich kenne jeden Häftling, der hierherkommt, Ma’am. Ich arbeite hier, seit es die Bibliothek gibt. Jeder Zellenblock hat einen festen Termin in der Woche, wann die Insassen kommen und die Bibliothek nutzen dürfen. Es ist nicht gut, wenn sich Leute aus den verschiedenen Blocks mischen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber nur die wenigsten nehmen das Angebot wahr. Eine Schande, wenn Sie mich fragen. Nur Ken hat so gut wie nie eine Gelegenheit ausgelassen. Er war ein echter Büchernarr. Wollte immerzu lernen. Er war öfter hier als jeder andere.«

»Das ist gut. Dann sollten wir ja keine größeren Schwierigkeiten haben.«

»Kommt drauf an. Wie viel Zeit haben Sie denn mitgebracht, Ma’am?«

Alice lächelte schief. »Hat er so viel gelesen?«

»Wahnsinnig viel, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist unser System. Wir haben erst zu Beginn des Jahres damit angefangen, alles auf Computer umzustellen. Das dauert. So lange müssen wir für die Ausleihe und die Katalogisierung noch das alte Karteikarten-System benutzen. Keine Computer.« Devlin wiegte den Kopf hin und her. »Für mich ist das ganz gut. Wenn das neue System startklar ist, muss ich mir eine andere Beschäftigung suchen. Ich hab’s nicht so mit diesem elektronischen Schnickschnack, Ma’am.«

Als Mitarbeiterin der Bezirksstaatsanwaltschaft konnte Alice gut nachvollziehen, warum die Digitalisierung der Gefängnisbibliotheksbestände nur im Schneckentempo voranging. Alles, was die Regierung des Staates Kalifornien tat, verschlang einen Teil ihres Budgets. Dieses Budget schwankte von Jahr zu Jahr, und wie es verteilt wurde, hing von der Wichtigkeit der einzelnen Maßnahmen ab. Da innerhalb des kalifornischen Justizsystems gerade eine ganze Reihe von Reformen umgesetzt werden musste, stand die Digitalisierung der Gefängnisbibliotheken ziemlich weit unten auf der Prioritätenliste.

»Jeder Häftling bekommt eine Ausleihkarte«, fuhr Devlin nach einer kurzen Pause fort. »Jedes Mal, wenn er ein Buch ausleiht, werden die Katalognummer des Buchs und das Ausleihdatum auf die Karte geschrieben. Und die Nummer des Häftlings kommt auf die jeweilige Karteikarte. Wir verwenden keine Namen.«

Alice riss die Augen auf. »Soll das heißen, ich muss mir Sands’ Ausleihkarte besorgen, und da steht dann nichts weiter drauf als lauter Nummern? Keine Titel?«

»Genauso ist es. Wenn Sie wissen wollen, wie ein Buch heißt, müssen Sie anhand der Titelnummer die Karteikarte zum Buch suchen.«

»Aber das ist doch ein völlig sinnloses System. Da braucht man ja ewig, bis man was findet.«

Devlin zuckte scheu die Achseln. »Zeit ist hier drin ja nicht so das Problem, Ma’am. Wir müssen uns nicht beeilen, im Gegenteil. Sonst hat man bloß noch mehr Zeit totzuschlagen.«

Dazu fiel Alice keine Erwiderung ein. »Also schön.« Sie warf einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr. »Dann legen wir mal los. Wo bewahren Sie die Ausleihkarten auf?«

»In Karteikästen hinter der Ausleihtheke, Ma’am. Im Lesesaal.«

»Wenn das so ist, rufen Sie mal besser die Wache. Wenn Ihr System wirklich so funktioniert, wie Sie beschrieben haben, dann kann ich von hier aus nichts machen.«

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