Ihr Schweigen wurde durch Schritte und Stimmen von draußen unterbrochen. Hunter, Garcia und Dr. Hove drehten sich zur Kajütentür. Eine Sekunde später tauchten zwei Leute von der Kriminaltechnik mit weißen Kapuzen-Overalls und Metallkoffern im Türrahmen auf.
»Können Sie noch eine Minute warten, Glen?«, bat Dr. Hove und hob abwehrend die Hand, bevor die beiden die Kabine betreten konnten.
Glen Eagan und Shawna Ross blieben auf der Treppe stehen.
»Wir wollen uns vorher hier drin noch ein paar Sachen ansehen«, fuhr Hove fort. »Wenn Sie wollen, können Sie schon mal mit dem Deck anfangen.«
»Alles klar, Doc.« Die zwei machten kehrt und gingen zurück nach oben.
»Verstrahlt oder nicht«, nahm Dr. Hove den Faden wieder auf. »Dieser Täter weiß genau, was er tut.« Sie hatte sich bereits wieder der verstümmelten Leiche zugewandt. »Diesmal hat er Nadel und Faden benutzt, um beide Oberarmarterien zu schließen und die Blutung zu stoppen, und es sieht so aus, als hätte er recht saubere Arbeit geleistet.« Sie sah unter dem Stuhl nach. Dupeks Beine waren an den Knöcheln, dort, wo die Füße abgetrennt worden waren, bandagiert. »Und aus irgendeinem Grund hat er die Beinstümpfe verbunden.«
Hunter kam näher, um sich die Sache genauer anzusehen. »Merkwürdig«, meinte er. Plötzlich hatte er wieder diesen seltsamen stechenden Geruch in der Nase.
»Ja, sehr merkwürdig«, pflichtete Dr. Hove ihm bei.
Garcia holte die CD aus der Stereoanlage und ließ sie in eine Asservatentüte fallen. Die Hülle lag bei den anderen CDs im Regal. Garcia ging die Sammlung flüchtig durch. Die meisten stammten von Rockbands aus den Achtzigern und Neunzigern.
Endlich wandte Hunter sich der neuen Skulptur zu. Sie war noch widerlicher und unheimlicher als die erste.
Diesmal hatte der Täter die Arme knapp unterhalb der Schultern vom Körper abgetrennt und dann noch einmal am Ellbogengelenk zerschnitten, so dass vier Teile entstanden waren. Die beiden Unterarme waren, Handgelenkinnenseite an Handgelenkinnenseite, mit Draht umwickelt und aufrecht hingestellt worden. Die Hände waren auf merkwürdige Art nach außen gebogen. Die Handflächen zeigten dabei nach oben, so dass es aussah, als wären sie im Begriff, einen Ball zu fangen. An der unnatürlichen Position der Daumen erkannte man, dass der Täter sie gebrochen haben musste. Die übrigen Finger fehlten. Sie waren an den unteren Gliedern abgetrennt und mit Hilfe von Draht und einem starken Klebemittel jeweils zu zweit zusammengefügt worden, so dass sie insgesamt vier Fingerpaare bildeten. Diese hatte der Täter jeweils auf exakt gleiche Art zurechtgeschnitzt – das obere Ende war rund und dick, dann folgte nach einem schmalen Stück eine Wölbung in der Mitte und schließlich ein relativ schlanker unterer Teil. Die so entstandenen Figuren hatte der Täter in etwa dreißig Zentimetern Abstand zu den Händen auf der Theke platziert. Zwei der Figuren standen aufrecht, die anderen beiden lagen übereinander.
»Und? Was, glaubst du, soll es diesmal darstellen?«, fragte Garcia, der näher trat. »Ein Krokodil?«
Dr. Hove hob verwundert die Brauen. »Diesmal …? Dann haben Sie also rausgefunden, was die erste Skulptur bedeutet?«
»Was sie bedeutet, haben wir noch nicht rausgefunden«, korrigierte Hunter sie.
»Aber wir wissen immerhin, was sie darstellen soll«, sagte Garcia.
»Darstellen …?«
Garcia sah kurz zu Hunter, bevor er das Gesicht verzog, als könne er es selbst nicht glauben. »Die Skulptur wirft Schattenbilder an die Wand.«
»Wie bitte?«
Garcia nickte. »Sie haben ganz richtig gehört, Doc. Schattenbilder. Sie sind sogar ziemlich klar erkennbar. Ein Hundeschatten und ein Vogelschatten.« Er zögerte kurz. »Oder zumindest so was Ähnliches.«
Dr. Hove sah aus, als warte sie darauf, dass einer der beiden Männer in schallendes Gelächter ausbrach.
Was allerdings nicht geschah.
»Wir sind rein zufällig darauf gestoßen«, sagte Hunter. »Ein paar Minuten bevor der Anruf kam, dass wir hier rausfahren sollen. Wir hatten noch keine Zeit, uns eingehender damit zu befassen.« In knappen Worten schilderte er Dr. Hove, was sich im Büro zugetragen hatte.
»Und die Schatten sehen aus wie ein Hund und ein Vogel?«
»Ganz genau.«
Der Blick ihrer grünen Augen richtete sich auf die Skulptur auf dem Tresen. »Und meinen Sie nicht, dass das eventuell bloß Zufall war?«
Beide Detectives schüttelten den Kopf.
»Dazu sind die Schattenbilder zu deutlich«, sagte Hunter.
»Das heißt, als Nächstes müssen Sie rausfinden, was der Hund und der Vogel bedeuten sollen?«
»Genau«, sagte Garcia. »Der Killer spielt Scharade mit uns, Doc. Stellt uns ein Rätsel im Rätsel. Wer weiß, vielleicht ist das in Wirklichkeit alles vollkommener Blödsinn, und er macht sich gerade in die Hose vor Lachen, weil wir uns die Köpfe darüber zerbrechen, ob Scooby-Doo und Tweety irgendeine tiefere Bedeutung haben. Währenddessen kann er in aller Seelenruhe seinem Mordrausch frönen und Leute zerstückeln.«
»Warten Sie.« Dr. Hove hob die Hand. »Die Schattenbilder sehen aus wie Comicfiguren?«
»Nein, das tun sie nicht«, sagte Garcia. »Entschuldigen Sie meinen miesen Scherz.«
Die Rechtsmedizinerin sah Hunter an und zeigte auf die Skulptur. »Wenn Sie recht haben, dann wirft das Ding da also auch ein Schattenbild an die Wand.«
»Wahrscheinlich.«
Hätte es in der Kajüte ein Gerät zum Messen von Spannung gegeben, wäre der Zeiger am Anschlag gewesen.
»Okay, dann lassen Sie uns sofort nachsehen«, beschloss Hove. Man sah ihr deutlich an, wie groß ihre Neugier war. Sie schaltete ihre Taschenlampe wieder ein, bevor sie zum Lichtschalter ging und die Deckenbeleuchtung der Kajüte ausmachte.
Auch Hunter und Garcia schalteten ihre Taschenlampen ein. Die nächsten Minuten verbrachten sie damit, um die abscheuliche Skulptur herumzugehen, sie von allen Seiten anzustrahlen und die Schatten zu studieren, die sie an die Wand warf.
Nichts – keine Tiere, keine Gegenstände, keine Worte.
In dem Moment fiel Hunters Blick auf Dupeks Kopf auf dem Couchtisch. Etwas an der Art und Weise, wie er positioniert worden war, ließ ihn innehalten. Er schien direkt zur Skulptur zu schauen, allerdings von schräg unten.
»Ich will mal was versuchen.« Erneut schaltete Hunter seine Maglite ein und ging in Stellung. Er richtete den Lichtstrahl so aus, dass er in exakt demselben Winkel die Skulptur traf wie Dupeks toter Blick.
»Vielleicht zeigt uns der Täter ja, wie wir sie betrachten müssen.«
»Indem er den Kopf des Opfers entsprechend ausrichtet?«, fragte Dr. Hove. Sie wirkte skeptisch.
»Wer weiß? Diesem Monster traue ich alles zu.«
Schweigend betrachteten sie die seltsamen Schatten, die hinter der Skulptur an der Wand erschienen.
Dr. Hoves Körper kribbelte wie von einem elektrischen Schlag, und sie merkte, wie sie eine Gänsehaut bekam.
»Ich werd’ nicht mehr!«