17

Hunter erreichte das PAB um acht Uhr dreiunddreißig, wenige Minuten nach Garcia.

»Verdammt, haben sie dir auch aufgelauert?«, fragte Garcia.

»Du meinst die Reporter draußen?«

Garcia nickte. »Haben die sich da ein Zeltlager eingerichtet, oder was soll das? Ich bin aus dem Auto gestiegen, und sofort sind drei von ihnen auf mich los und haben angefangen, mich mit Fragen zu bombardieren.«

»Das Mordopfer war ein Staatsanwalt, der vor zwei Tagen in seinem eigenen Haus auf dem Sterbebett bei lebendigem Leib zerstückelt wurde. Das ist der Stoff, aus dem Fernseh-Mehrteiler gemacht werden, Carlos. Um der Erste zu sein, der von einem Insider Informationen über den Fall bekommt, würden sie sich gegenseitig umbringen. Es wird noch schlimmer werden.«

»Ja, ich weiß.« Garcia schenkte Hunter und sich selbst aus der Kaffeemaschine in der Ecke jeweils eine große Tasse ein. »Irgendwas gefunden?«, fragte er, als er seinem Partner die Tasse reichte, und deutete mit dem Kinn auf die Bücher, die dieser unter dem Arm trug.

Hunter hatte am vorigen Abend sämtliche Bücher über moderne Kunst und Bildhauerei, die in Derek Nicholsons Arbeitszimmer zu finden gewesen waren, mit nach Hause genommen.

»Nichts.« Hunter ließ die Bücher auf seinen Schreibtisch fallen und nahm die Tasse entgegen. »Außerdem habe ich noch die halbe Nacht lang im Internet gesurft und mich über jeden Bildhauer schlaugemacht, den es in L. A. gibt. Ebenfalls Fehlanzeige. Ich glaube nicht, dass unser Täter versucht hat, ein real existierendes Kunstwerk zu kopieren.«

Garcia kehrte an seinen Schreibtisch zurück. »Ich auch nicht.«

»Ich schaue heute noch mal bei Bezirksstaatsanwalt Bradley vorbei«, fuhr Hunter fort. »Ich will ihn fragen, ob er irgendwas darüber weiß, dass Nicholson sich vor seinem Tod mit jemandem aussprechen wollte. Und ob er eine Idee hat, wer der zweite Besucher gewesen sein könnte.«

»Wäre anrufen nicht einfacher?«

Hunter schnitt eine Grimasse, die so viel wie »Kann schon sein, aber …« bedeutete. Er hasste es, Befragungen am Telefon durchzuführen, egal wen er am anderen Ende der Leitung hatte. Wenn er jemandem von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß, hatte er die Möglichkeit, Gestik und Mimik der betreffenden Person zu studieren, und für einen Mordermittler war das von unschätzbarem Wert.

Das Telefon auf Hunters Schreibtisch begann zu klingeln. Er warf einen Blick zur Uhr, ehe er den Hörer abnahm.

»Detective Hunter.«

»Robert, ich habe gerade die ersten Ergebnisse aus dem Labor zurückbekommen.« Es war Dr. Hove. Ihre Stimme klang ein wenig schleppender als sonst.

Hunter schaltete seinen Computer ein. »Ich bin ganz Ohr, Doc.«

»Lassen Sie mich vorausschicken, dass das Labor bei der Nachbildung, die Sie in Auftrag gegeben haben, ganz ausgezeichnete Arbeit geleistet hat.«

»Ist sie schon fertig?«

»Ja, sie haben die ganze Nacht daran gearbeitet. Sie ist auf dem Weg zu Ihnen.«

»Großartig.«

»Also«, begann Dr. Hove. »Die Spurensicherung hat am Tatort sowie an anderen Stellen im Haus – Küche, Badezimmer, Treppengeländer … Sie kennen ja die Prozedur – Fingerabdrücke von fünf verschiedenen Personen sichergestellt. Wie erwartet eine Sackgasse. Die Abdrücke stammen nachweislich von den zwei Pflegerinnen, den beiden Töchtern des Opfers sowie vom Opfer selbst.«

Hunter schwieg. Er hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass die Fingerabdrücke sie weiterbringen würden.

»Die Haare, die an den gleichen Stellen gefunden wurden, konnten denselben Personen zugeordnet werden«, fuhr Dr. Hove fort. »DNA-Tests können wir uns wohl schenken. Die Untersuchung der gefundenen Fasern ist noch nicht abgeschlossen. Bei denen, die bereits analysiert wurden, handelt es sich um Baumwolle, Polyester, Acryl … Materialien, wie sie in fast allen Kleidungsstücken vorkommen. Nichts, was Ihnen einen Anhaltspunkt liefern könnte.«

Hunter stützte einen Ellbogen auf die Tischplatte. »Schon irgendwelche Tox-Ergebnisse, Doc?«

»Ja, aber nur weil ich Dampf gemacht habe. Das Labor ist überlastet.« Dr. Hove zögerte kurz. »Jetzt wird es erst richtig interessant. Und richtig abscheulich.«

Hunter winkte Garcia zu, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen, und machte ihm ein Zeichen, bei seinem eigenen Apparat den Hörer abzuheben.

Erst dann fragte er: »Was haben die Tests ergeben?«

»Also, wir wissen ja, dass der Täter, um das Leiden seines Opfers zu verlängern, die Oberarmarterie des rechten Arms mit Hilfe einer Arterienklemme abgeklemmt und damit ein zu rasches Verbluten verhindert hat. Trotzdem gab es da eine Sache, die mir von Anfang an Rätsel aufgegeben hat.«

Hunter zog seinen Schreibtischstuhl heran und setzte sich. »Nicholsons labiler Gesundheitszustand.« Es war nicht als Frage formuliert.

»Eben. Das Opfer befand sich bereits im Endstadium einer tödlichen Lungenkrebserkrankung. Sein Körper war so schwach wie der eines Neunzigjährigen. Seine Schmerztoleranz, seine Kondition, all das war auf einen Bruchteil des Normalwerts gesunken. Jemand in seiner Verfassung hätte eigentlich schon nach dem Verlust eines einzigen Fingers tot sein müssen. Aber er hat fünf Finger verloren, alle zehn Zehen, seine Zunge und einen Arm, bevor er gestorben ist.«

Hunter und Garcia tauschten einen langen, unbehaglichen Blick.

»Wie ich erwartet hatte«, fuhr die Rechtsmedizinerin fort, »wurde er nicht betäubt, aber er war trotzdem mit Medikamenten vollgepumpt. Die Toxikologie hat hohe Dosen diverser Präparate in seinem Blut nachgewiesen, was in Anbetracht seines Gesundheitszustands zunächst mal nicht weiter verwundert. Einige dieser hochdosierten Präparate allerdings wollen so gar nicht ins Bild passen.«

»Zum Beispiel?«

»Es wurden hohe Dosen Propafenon, Felodipin und Carvedilol nachgewiesen.«

Garcia sah Hunter an und schüttelte den Kopf. »Langsam, Doc. Werfen Sie nicht mit Chemiker-Jargon um sich. Chemie war in der Schule nicht gerade mein stärkstes Fach, und überhaupt ist die Schule Jahre her. Was sind das für Mittel?«

»Propafenon ist ein Natriumkanalblocker. Verlangsamt die Aufnahme von Natrium-Ionen in den Herzmuskel. Felodipin ist ein Calciumantagonist und regelt zu hohen Blutdruck. Carvedilol ist ein Betablocker. Er verhindert, dass sich Norepinephrin und Epinephrin an die Beta-Andrenozeptoren binden. Eine Kombination dieser drei Präparate hemmt außerdem mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die körpereigene Adrenalinproduktion.«

Garcia zog so heftig die Brauen zusammen, dass seine Stirn aussah wie eine Dörrpflaume. »Sie haben mich vorhin gehört, als ich gesagt habe, dass Chemie nicht mein stärkstes Fach war, oder, Doc? Okay, dasselbe gilt für Biologie. Tun Sie doch einfach so, als wäre ich ein siebenjähriges Kind, und erklären Sie mir alles noch mal von vorn.«

»Kurz zusammengefasst, handelt es sich um einen sehr starken Medikamentencocktail, der die Herzfrequenz herabsetzt, den Blutdruck senkt und die Produktion von Adrenalin in den Nebennieren hemmt. Wie Sie wissen, wird Adrenalin in Gefahrensituationen ausgeschüttet. Es ist das Angst-und-Schmerz-Hormon. Es lässt die Herzfrequenz ansteigen und erweitert die Luftgefäße, damit der Betreffende in die Lage versetzt wird, zu kämpfen oder zu fliehen.«

Garcia wirkte nach wie vor ratlos.

»Das heißt, der Täter hat den Blutdruck seines Opfers gesenkt«, warf Hunter ein, »und die Adrenalinausschüttung unterbunden.«

»Stimmt genau«, antwortete Dr. Hove. »Bei Gefahr oder Schmerzen, etwa wenn einem ein Finger, Zeh oder die Zunge abgeschnitten wird, schüttet der Körper automatisch Adrenalin aus. Der Herzschlag beschleunigt sich, und es wird mehr Blut in Gehirn und Muskeln, aber eben auch in den Wundbereich gepumpt. Die Präparate, von denen wir hier sprechen, blockieren diesen Prozess. Sie halten den Herzschlag auf Ruhefrequenz, wenn nicht sogar niedriger. Auf diese Weise wird weniger Blut durch die Gefäße gepumpt, das Opfer blutet also deutlich weniger stark als unter normalen Umständen. Allerdings hat keines der drei Mittel eine betäubende Wirkung.«

»Soll heißen, Nicholson hat die Schmerzen in vollem Umfang gespürt«, meldete sich Garcia zu Wort, der endlich verstanden hatte, »ist dabei aber gleichzeitig länger am Leben geblieben.«

»Richtig«, sagte Hove. »Wenn jemand eine schwere Verletzung erleidet, bei der keine lebenswichtigen Organe betroffen sind, gibt es im Wesentlichen zwei Arten, wie der Tod eintreten kann. Entweder man verblutet, oder das Herz gerät unter derart großen Stress, dass es irgendwann versagt. Mit seinem Medikamentencocktail hat der Täter auf unorthodoxe Weise beide Probleme gelöst. Er wollte nicht, dass sein Opfer zu schnell stirbt, aber es sollte so viele Schmerzen empfinden wie nur irgend möglich. Weil er natürlich kein OP-Team zur Verfügung hatte, musste er sehr viel schneller arbeiten, um die Amputationen durchzuführen und die Blutung zu kontrollieren. Sein Cocktail hat ihm dabei geholfen.« Sie hielt inne und dachte über die Tragweite ihrer Worte nach. »Ich denke, das alles spricht für unseren Verdacht, dass der Mörder sich mit Medizin auskennt, Robert. Ich würde sogar sagen, er kennt sich hervorragend damit aus.«

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