In einer Stadt wie Los Angeles sind Gewaltverbrechen nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil, sie sind mehr oder weniger an der Tagesordnung. Daher verwundert es auch nicht, dass die Leichenbeschauer im Durchschnitt genauso viel zu tun haben wie die Unfallchirurgen. Die Arbeit sammelt sich schneller an, als sie bewältigt werden kann, und alles ist genauestens durchorganisiert. So verstrich trotz des Eilantrags ein ganzer Tag, ehe Dr. Hove mit der Autopsie von Derek Nicholsons Leiche beginnen konnte.
Hunter hatte nur vier Stunden geschlafen. Am Morgen fühlten sich seine Augen sandig an, und der Kopfschmerz, der sich in seinem Nacken eingenistet hatte, war ein typisches Symptom akuten Schlafmangels. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es nichts gab, was er hätte tun oder schlucken können, um ihn loszuwerden. Kopfschmerzen wie diese waren seit mittlerweile gut dreißig Jahren fester Bestandteil seines Lebens.
Hunter wollte sich gerade auf die Fahrt ins PAB machen, als Dr. Hove anrief und meldete, dass die Obduktion von Derek Nicholson nun abgeschlossen war.
Um halb acht Uhr früh brauchte Hunter für die sieben Meilen zwischen seiner Wohnung und dem Rechtsmedizinischen Institut in der North Mission Road nur siebzehn Minuten. Garcia war eine Minute vor ihm angekommen und wartete auf dem Parkplatz. Er war rasiert, und seine Haare waren noch feucht von der Dusche, doch die Ringe unter seinen Augen straften seine frische Erscheinung Lügen.
»Freuen tue ich mich nicht gerade darauf, das kann ich dir mal sagen«, verkündete er anstelle einer Begrüßung, als er aus dem Wagen stieg.
Hunter sah ihn fragend an. »Freust du dich jemals auf irgendwas, wenn wir hier reingehen?«
Garcia warf einen Blick auf das ehemalige Krankenhaus, in dem nun das Rechtsmedizinische Institut untergebracht war. Architektonisch war das Gebäude durchaus beeindruckend. Die Fassade war eine stilvolle Kombination aus rotem Backstein und sandfarbenen Zierelementen. Die imposante Treppe, die zum Haupteingang hinaufführte, ließ das Gebäude, das man sich gut auf dem Campus einer altehrwürdigen Universität hätte vorstellen können, noch eleganter erscheinen. Eine wunderschöne Hülle für ein Haus voller Tod.
»Hast ja recht«, räumte Garcia ein.
Dr. Hove erwartete sie beim Mitarbeitereingang an der rechten Seite des Gebäudes. Ihr seidiges dunkles Haar war zu einem altmodischen Dutt gebunden. Sie trug kein Make-up, und im Weiß ihrer Augen zeigten sich vereinzelte rote Äderchen, die verrieten, dass auch sie in der Nacht nicht viel Schlaf bekommen hatte.
Nachdem sie einander mit einem knappen Nicken begrüßt hatten, folgten Hunter und Garcia ihr schweigend durch einen langen, hell erleuchteten Gang. Zu so früher Stunde war noch niemand auf den Fluren unterwegs, wodurch das Gebäude mit seinen kahlen weißen Wänden und dem vor Sauberkeit quietschenden Linoleumboden nur noch beklemmender wirkte.
Am Ende des Ganges nahmen sie die Treppe ins Untergeschoss und gelangten dort in einen weiteren Flur. Dieser war kürzer und nicht ganz so hell erleuchtet.
»Ich habe den speziellen Sektionssaal benutzt«, erklärte die Rechtsmedizinerin, als sie die letzte Tür auf der rechten Seite erreicht hatten.
Im speziellen Sektionssaal Nummer 1 wurden in der Regel nur solche Leichen obduziert, von denen – etwa aufgrund hochansteckender Viruskrankheiten, Kontamination mit radioaktiver Strahlung, Verseuchung durch chemische Kampfstoffe und Ähnliches – ein erhöhtes Gesundheitsrisiko ausging. Der Raum verfügte über ein unabhängiges Datenbanksystem und eigene Kühlzellen. Seine massive Tür war durch ein elektronisches Schloss mit sechsstelligem Zahlencode gesichert. Hin und wieder wurde der Saal aber auch für Autopsien in besonders brisanten Mordfällen benutzt – eine Sicherheitsmaßnahme, um zu verhindern, dass sensible Informationen nach außen drangen. Hunter hatte den Saal schon oft von innen gesehen.
Dr. Hove tippte eine Ziffernfolge in das metallene Eingabefeld an der Wand, und die schwere Tür öffnete sich summend.
Sie kamen in einen großen, winterkalten Raum. Zwei Reihen von Leuchtröhren, die über die ganze Breite der Decke gingen, spendeten Licht. In der Mitte des Raums standen zwei Sektionstische aus Edelstahl, einer auf Rollen, der andere fest mit dem Boden verschraubt. Neben einer Wand aus Kühlzellen mit ihren kleinen quadratischen, spiegelblank polierten Türen stand ein blauer hydraulischer Flaschenzug. Beide Sektionstische waren mit weißen Laken zugedeckt.
Dr. Hove streifte sich ein frisches Paar Latexhandschuhe über und ging auf den Tisch zu, der am weitesten von der Tür entfernt stand.
»Also, dann zeige ich Ihnen mal, was ich rausgefunden habe.«
Garcia trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Hunter angelte sich einen Mundschutz. Er hatte keine Angst vor Ansteckung, aber er hasste den typischen Sektionssaal-Geruch – als hätte man versucht, etwas Verwesendes mit starkem Desinfektionsmittel wegzuschrubben. Ein schaler Geruch, der sie von jenseits des Grabes anzuwehen schien.
»Die offizielle Todesursache war Herzversagen«, verkündete Dr. Hove, während sie gleichzeitig das weiße Laken wegzog. Darunter kam Derek Nicholsons verstümmelter Torso zum Vorschein, »aufgrund von Blutverlust und wahrscheinlich auch wegen der starken Schmerzen. Aber er hat eine ganze Weile durchgehalten.«
»Wie ist das zu verstehen?«, wollte Garcia wissen.
»Die Verletzungen an Haut und Muskelgewebe deuten darauf hin, dass er sämtliche Finger und Zehen, seine Zunge sowie mindestens einen Arm verloren hat, bevor sein Herz aufhörte zu schlagen.«
Garcia holte tief Luft und schüttelte sich, um das unangenehme Gefühl loszuwerden, das ihm den Nacken hinaufkroch.
»Wir lagen übrigens richtig mit unserer Annahme, dass für die Amputationen eine Art Säge verwendet wurde«, fuhr die Rechtsmedizinerin fort. »Auf alle Fälle etwas sehr Scharfes mit einer gezahnten Klinge. Allerdings war die Zahnung nicht so fein, wie man es vielleicht vermuten würde. Der Abstand zwischen den Zähnen ist auf jeden Fall größer als bei den chirurgischen Instrumenten, die üblicherweise bei Amputationen zum Einsatz kommen.«
»Vielleicht war es ein ganz gewöhnlicher Fuchsschwanz«, sagte Garcia.
»Das glaube ich eher nicht.« Hove schüttelte den Kopf. »Dafür sind die Schnittflächen zu ebenmäßig. Es gibt zwar Ansatzspuren, aber hauptsächlich an den Stellen, wo das Instrument zum ersten Mal in Kontakt mit dem Knochen gekommen ist. Das ist ganz normal, vor allem, wenn man bedenkt, dass das Opfer vermutlich nicht betäubt war. Die Toxikologie muss das Blut noch auf Medikamentenrückstände untersuchen, das wird einen oder zwei Tage dauern, aber ohne Anästhesie müssen die Schmerzen schier unerträglich gewesen sein. Selbst wenn der Täter das Opfer festgehalten hat, muss es geschrien und sich gewehrt haben, was die Amputation natürlich erheblich erschwert hat.«
Garcia sog durch zusammengebissene Zähne die eisige Luft ein.
»Aber es hätte ihn doch gar nicht weiter kümmern müssen, wie lange sein Opfer lebt. Er hätte Nicholson die Arme und Beine einfach irgendwie abhacken können.«
»Hat er aber nicht«, sagte Hunter.
»Nein, das hat er nicht«, pflichtete Dr. Hove ihm bei. »Der Täter wollte, dass sein Opfer so lange wie möglich am Leben bleibt. Er wollte es quälen. Die Amputationen wurden sauber und akkurat ausgeführt.«
»Medizinisches Fachwissen?«, fragte Hunter.
»Selbst unter dem Vorbehalt, dass sich heutzutage jeder, der ein paar Stunden im Internet surft, detaillierte Anleitungen und Diagramme herunterladen kann, in denen erklärt wird, wie man eine ordnungsgemäße Amputation durchführt, würde ich sagen, dass der Täter zumindest ein Grundlagenwissen über chirurgische Eingriffe und menschliche Anatomie hat, ja.« Ihr Blick richtete sich auf den zweiten Sektionstisch. »Er versteht sein Handwerk. Schauen Sie sich das hier mal an.«