Captain Blake warf einen flüchtigen Blick zu Garcia und Alice; auch sie schienen Hunters Gedankengang noch nicht ganz nachvollzogen zu haben.
Hunter wartete nicht ab, dass ihn jemand um Aufklärung bat. »Ich glaube, wir waren die ganze Zeit auf dem richtigen Weg, wir sind nur in die falsche Richtung gegangen. Es gibt ein übergeordnetes Ganzes.« Er wies auf die Pinnwand. »Nur ist es kein Bild. Und die Schattenfiguren selber waren der entscheidende Hinweis darauf.« Hunter räusperte sich, bevor er weitersprach. »Ich glaube, dass der Täter ein Theaterstück inszeniert. Wie ein Puppenspieler. Er erzählt uns eine Geschichte, Szene für Szene.«
Verblüfftes Schweigen.
Zeitgleich wandten sich alle von Hunter ab und den Fotos an der Pinnwand zu. Alice biss auf ihrer Unterlippe herum. Hunter war schon aufgefallen, dass sie das immer tat, wenn sie hochkonzentriert war. Er sah seinen Kollegen an, wie sehr sie sich bemühten, ihm zu folgen.
»Ich zeige euch, was ich meine. Fangen wir mit dem ersten Bild an.« Er löschte das Licht, schaltete seine Taschenlampe ein und richtete den Strahl auf die Nachbildung der Skulptur aus Derek Nicholsons Schlafzimmer. An der Wand dahinter wurden die Schatten von Hund und Vogel sichtbar.
»Das erste Bild haben wir als einen Kojoten und einen Raben gedeutet. Ich bin mir sicher, dass Alice uns die korrekte Interpretation der zwei Tiere geliefert hat – sie symbolisieren einen Lügner, jemanden, der andere hintergeht. Ich glaube auch, dass es richtig war, das Bild direkt auf das erste Mordopfer zu beziehen. In den Augen des Mörders war Derek Nicholson ein Lügner.«
»Ja, darüber sind wir uns doch alle einig«, warf Captain Blake ein.
Hunter schaltete das Licht wieder ein. Als Nächstes zeigte er auf das Foto des Schattenbildes, das sie von der Skulptur auf Andrew Dupeks Boot gemacht hatten. »Das zweite Bild haben wir meines Erachtens teilweise richtig und teilweise falsch interpretiert.« Er nickte Alice zu. »Ich glaube, dass Alice mit ihrer Vermutung auch diesmal wieder ins Schwarze getroffen hat: Der Täter verfolgt einen konkreten Plan. Er hat es auf ganz bestimmte Personen abgesehen. Er sucht sich seine Opfer nicht willkürlich aus. Zu dem Zeitpunkt, als er diese Skulptur gemacht hat, hatte er bereits zwei Menschen getötet, Nicholson und Dupek. Wir dachten, dass die zwei liegenden Gestalten genau das darstellen sollten.« Er deutete auf die entsprechende Stelle im Bild. »Und es sah für uns so aus, als stünden noch zwei weitere Namen auf seiner Liste, repräsentiert durch die zwei stehenden Gestalten.«
Captain Blake trat näher zur Pinnwand. »Und Sie glauben, das war falsch?«
»Ja und nein. Ich glaube nicht, dass die zwei, die am Boden liegen, die ersten beiden Mordopfer symbolisieren. Aber unabhängig davon weisen die zwei stehenden Gestalten vielleicht trotzdem darauf hin, dass es zum Zeitpunkt des Mordes an Dupek noch zwei weitere Namen auf der Todesliste des Täters gab.«
Garcia spitzte nachdenklich die Lippen. »Und was sollen die zwei Gestalten auf dem Boden dann darstellen?«
»Einen Kampf.«
Erneut trat für einen kurzen Moment Schweigen ein. Alle starrten angestrengt auf das Bild, während sie versuchten, darin zu sehen, was Hunter gesehen hatte.
»Okay, ich erkläre euch, was das ganze Bild meiner Meinung nach zu bedeuten hat«, sagte Hunter schließlich und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Stellt euch eine Gruppe von vier Freunden vor. Sagen wir, diese Freunde sind Nicholson, Dupek, Littlewood und noch eine weitere Person, die wir nicht kennen. Die Freunde gehen zusammen was trinken oder auf eine Party oder was weiß ich. Sie meinen es ein bisschen zu gut mit dem Alkohol, und es kommt zu Handgreiflichkeiten, wie das bei jungen Männern manchmal so ist. Vielleicht sind sie auch high, jedenfalls geraten sie irgendwie in Streit, entweder mit einem Unbeteiligten oder mit einem Mitglied aus der Clique. Der Streit eskaliert und wird zu einer Schlägerei. Kann sein, dass es anfangs nur ein Spaß war …«, abermals deutete Hunter auf die zwei Gestalten, die am Boden übereinanderlagen, »… aber am Ende war es keiner mehr.«
Garcia lauschte jedem Wort und kniff sich dabei nachdenklich ins Kinn. So langsam begann er zu ahnen, worauf sein Partner hinauswollte. Dann kam schlagartig die Erleuchtung.
»Sie haben ihn umgebracht«, sagte er.
Das Schattenbild, das er unzählige Male betrachtet hatte, nahm mit einem Mal eine ganz neue Bedeutung an. »Die Schlägerei ist aus dem Ruder gelaufen«, fuhr er eifrig fort. »Der Rest der Gruppe stand daneben und hat zugesehen, oder vielleicht haben sie auch alle mitgemacht. Ein Tritt gegen die Schläfe reicht, einmal stolpern, der Kopf knallt unglücklich gegen die Bordsteinkante oder gegen eine Wand, und die Schlägerei endet … in einer Tragödie.«
Hunter nickte. »Wahrscheinlich war es gar keine Absicht, aber ich denke auch, dass jemand dabei ums Leben gekommen ist. Zumindest ist das meine Theorie.«
Captain Blake betrachtete das Foto und ließ sich Hunters Ausführungen durch den Kopf gehen. Auch ihr kam es so vor, als hätte sich das Schattenbild mit einem Mal komplett verwandelt.
»Aber dann fehlt hier entweder jemand, oder wir haben uns in der Anzahl vertan«, gab Alice nun zu bedenken.
»Wie meinen Sie das?«, wollte Blake wissen.
»Als wir uns das Schattenbild zum ersten Mal angesehen haben, wussten wir, dass der Täter bereits zwei Menschen getötet hatte, und wir sind davon ausgegangen, dass er es noch auf zwei weitere abgesehen hat, symbolisiert durch die beiden stehenden Gestalten. Wenn das Bild tatsächlich zwei Leute darstellen soll, die sich prügeln, während der Rest der Gruppe zusieht, und wenn, wie Robert eben vorgeschlagen hat, einer dieser Leute dabei ums Leben gekommen ist, dann bleiben nur drei Personen übrig. Nämlich der, der die Schlägerei überlebt, und die zwei, die danebenstehen und zuschauen.« Sie hielt drei Finger in die Höhe. »Wir haben jetzt drei Opfer – Nicholson, Dupek und Littlewood. Das würde doch bedeuten, dass der Mörder schon alle erwischt hat. Er hat seine Liste abgearbeitet.«
»Du vergisst ihn hier.« Hunter zeigte auf die größte Gestalt im Bild, den gehörnten Teufelskopf, der auf das Geschehen herabschaute. »Ursprünglich dachtest du, die Gestalt repräsentiert den Täter, weißt du noch? Als eine Art Dämon. Ich glaube, das stimmt nicht. Ich glaube, dass der Täter bei jedem Mord die Skulptur und das Schattenbild dazu benutzt hat, um etwas über das jeweilige Opfer auszusagen. Wir haben diese Skulptur hier nicht ohne Grund auf Dupeks Boot gefunden. Ich würde sagen, der Teufel steht für Dupek.«
»Warum?«, wollte Blake wissen.
»Vielleicht um anzudeuten, dass Dupek der Anführer der Gruppe war oder die Schlägerei angezettelt hat. In jeder Gruppe gibt es einen, der als Kopf des Ganzen fungiert. Einer, dem alle folgen. Vielleicht war Dupek derjenige, der den Streit vom Zaun gebrochen hat. Oder er hat, statt die Schlägerei zu beenden, die anderen angestachelt, weiterzumachen.«
Eine unbehagliche Stille trat ein.
Hunter ließ den anderen Zeit, über seine Theorie nachzudenken.
»Vielleicht ist die betreffende Person ja auch gar nicht tot«, meinte Alice schließlich. »Vielleicht hast du recht, und es gab einen Kampf, aber das Opfer ist nicht gestorben, sondern körperlich oder geistig behindert. Vielleicht ist er jetzt nach all den Jahren wieder aufgetaucht und will endlich Rache nehmen.«
Hunter schüttelte den Kopf. »Nein, das Opfer ist gestorben.«
»Woher willst du das so genau wissen?«
»Weil der Täter es uns selbst gesagt hat.«