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Erneut krachte ein Donnerschlag. Alice fuhr auf ihrem Stuhl zusammen. Sie mochte keinen Regen, und sie hasste Gewitter.

»Meine Güte.«

Sie presste die Hände gegeneinander, hob sie an den Mund und blies auf ihre Daumen, als versuchte sie zu pfeifen. Das machte sie immer, wenn sie sich fürchtete. Diese Angewohnheit hatte sie schon als Kind gehabt.

Alice hatte den ganzen Nachmittag im Büro verbracht. Wie eine Besessene hatte sie Datenbanken durchforstet und Hintertürchen von zugangsbeschränkten Online-Systemen geknackt, weil sie nach einer wie auch immer gearteten Verbindung zwischen den drei Mordopfern suchte. Bislang ohne Erfolg. Ein Zusammenhang zwischen Littlewood und Ken Sands hatte sich ebenfalls noch nicht aufgetan, allerdings machte sie diese Arbeit nicht erst seit gestern. Dass sie noch keine Verbindung gefunden hatte, bedeutete nicht, dass es keine gab.

Ein Blitz zuckte über den Himmel. Alice kniff die Augen zu und hielt den Atem an. Blitze machten ihr keine Angst, aber sie wusste, dass auf den Blitz unweigerlich der Donner folgte, und wenn sie Donner hörte, war sie buchstäblich vor Schreck wie gelähmt.

Das dumpfe Grollen kam einen Herzschlag später, und diesmal schien es gar nicht wieder aufhören zu wollen. Es dauerte mehrere Sekunden an, und Alice war machtlos gegen die Erinnerungen, die auf sie einströmten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Mit elf Jahren, während eines Besuchs bei ihren Großeltern in Oregon, war Alice einmal in ein schweres Gewitter geraten.

Ihre Großeltern lebten auf einer Farm in der Nähe von Cottage Grove. Die Gegend war traumhaft schön, eine weite Landschaft voller Wälder, Seen und friedlicher Ruhe. Alice spielte für ihr Leben gern im Freien. Sie liebte es, ihrem Großvater zu helfen, wenn er die Tiere versorgte, vor allem beim Melken der Kühe, beim Einsammeln der Eier im Hühnerhaus oder beim Schweinefüttern. Aber am allerliebsten spielte sie mit Nosey, dem dreijährigen schwarz-weißen Beagle ihrer Großmutter. In der Regel verbrachte sie den Großteil ihrer Zeit bei den Großeltern damit, Nosey auf dem Arm herumzutragen, mit ihm zu kuscheln oder draußen herumzutollen.

An einem Tag im Juni waren ihre Eltern zusammen mit ihrem Großvater zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Alice blieb mit der Großmutter zu Hause. Während Großmutter Gellar das Abendessen zubereitete, ging Alice mit Nosey nach draußen. Beide spielten besonders gern bei den »buschigen Bäumen«, wie Alice den kleinen Ulmenhain am Hang des Hügels unterhalb des Hauses immer nannte. Ihre Eltern hatten ihr wiederholt verboten, alleine dort spielen zu gehen, doch Alice hatte ihren eigenen Kopf und schenkte solchen Verboten keine allzu große Beachtung.

Alice wusste nicht, wie lange sie schon mit Nosey zwischen den Bäumen herumgelaufen war, aber es musste eine ganze Weile gewesen sein, denn ohne dass sie etwas davon mitbekommen hätte, hatte sich der Himmel zu einem Schwarz verfinstert, in dem nur noch wenige blaue Flecken zu sehen waren. Auch den sich langsam ausbreitenden Geruch feuchter Erde nahm sie nicht wahr.

Der erste Blitz am Himmel ließ Alice erstarren. Erst jetzt fiel ihr der starke Wind auf, und sie merkte, wie kalt es plötzlich geworden war. Als direkt über ihr ein Donnerschlag ertönte, von dem die Erde unter ihren Füßen erbebte, brach sie in lautes Weinen aus. Nosey begann sich wie toll zu gebärden. Unter lautem Gebell rannte er umher, als hätte man ihm die Augen verbunden.

Alice wusste nicht, was sie tun sollte, also weinte sie einfach immer weiter und kauerte sich unter dem erstbesten Baum zusammen. Wieder und wieder rief sie Noseys Namen, aber der hörte einfach nicht. Er befand sich gerade auf halbem Weg von einem Baum zum nächsten, als ein weiterer Blitz wie ein feuriger Hammer über den Himmel zuckte. Sein Ziel war die große Metallplakette an Noseys Halsband. Mit weit aufgerissenen Augen, den rechten Arm ausgestreckt, schrie Alice dem kleinen Hund zu, er solle zu ihr kommen, aber er hatte keine Chance. Der Blitz schlug in die Plakette ein und ließ Nosey eine scheinbare Ewigkeit lang nicht mehr los. Wie ein Pingpong-Ball wurde der kleine Hundekörper hoch in die Luft geschleudert. Als er wieder zur Erde fiel, rührte er sich nicht mehr. Seine Augen waren milchig weiß und die Zunge, die ihm schlaff aus dem Maul hing, schwarz wie Teer. Trotz des starken Regens konnte Alice Rauch von Noseys Fell aufsteigen sehen.

Es dauerte fast ein Jahr, bis die Alpträume endlich nachließen; noch heute hatte Alice panische Angst vor Gewitter. Sogar das Blitzlicht von Fotoapparaten erschreckte sie.

Unwetter in Los Angeles dauern für gewöhnlich nicht länger als eine Dreiviertelstunde oder eine Stunde, aber dieses tobte nun schon seit fast anderthalb Stunden und machte keine Anstalten, sich zu verziehen.

Alice hatte jede Menge Arbeit vor sich, aber sie hielt es nicht länger am Computer aus. Ihre Finger gehorchten ihr einfach nicht. Also beschloss sie, stattdessen Unterlagen durchzugehen. Wenige Stunden zuvor waren die Handyrechnungen samt Einzelgesprächsaufstellung, die die Spurensicherung in Nathan Littlewoods Praxis sichergestellt hatte, mit der Hauspost eingetroffen. Sie waren das Erste, worauf ihr Blick fiel, als sie sich suchend auf ihrem Schreibtisch umschaute.

Sie hatte etwa zehn Minuten damit verbracht, Littlewoods meistgewählte Nummern anzustreichen, als ihr etwas ins Auge sprang, das sie das Gewitter draußen vergessen ließ.

»Augenblick mal«, murmelte sie und begann hektisch in den Unterlagen zu wühlen, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten. Als sie das Gesuchte entdeckt hatte, blätterte Alice die Seiten durch und las jede einzelne Zeile.

Da. Sie hatte es gefunden.

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