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Vor ihrer Rückkehr ins PAB mussten Hunter und Garcia noch einen letzten Zwischenstopp einlegen: Allison Nicholsons Wohnung im unmittelbar südlich von Beverly Hills gelegenen Pico-Robertson.

Derek Nicholsons jüngere Tochter wohnte in einem luxuriösen Drei-Zimmer-Apartment in der begehrten Hillcrest-Siedlung, die neben dem berühmten Hillcrest Country Club lag. Hunter hatte zuvor beide Nicholson-Töchter telefonisch verständigt und sich für Viertel nach sieben mit ihnen in Allisons Wohnung verabredet.

Die Hillcrest-Siedlung sah eher nach teurer Hotelanlage aus als nach einer gewöhnlichen Wohnsiedlung. Die Bewohner genossen den Luxus eines großen Fitness-Centers mit Cardio-Bereich, Trockensauna, zwei Schwimmbecken, zwei Spas, riesigen Palmen, Wasserfällen, einem Außenkamin mit Loungebereich und Grillplätzen. Nachdem Hunter und Garcia sich beim Wachmann am elektronisch gesicherten Tor angemeldet hatten, beschrieb dieser ihnen den Weg zum Besucherparkplatz.

Der Pförtner in der Eingangshalle von Allisons Apartmentgebäude begleitete Hunter und Garcia zum Fahrstuhl und teilte ihnen mit, dass Miss Nicholsons Wohnung im obersten Stockwerk lag.

Die Opulenz, die beim Tor begonnen hatte, erreichte in Allisons Wohnung ihren Höhepunkt. Das Wohnzimmer hatte annähernd die Ausmaße eines Basketballfelds und war mit Böden von Karndean, prächtigen Kronleuchtern, Perserteppichen und sogar einem Kamin aus Granit ausgestattet. Die Möbel waren fast allesamt Antiquitäten, und an den Wänden hingen teure Gemälde. Trotzdem war die Einrichtung geschmackvoll, und die Wohnung wirkte sehr gemütlich.

Allison bat beide Detectives mit einem höflichen, wenngleich traurigen Lächeln herein. Ihre dunkelbraunen Augen waren von Kummer gezeichnet. Überhaupt hatte ihre Schönheit stark unter der Trauer gelitten, allerdings sah Olivia nicht weniger mitgenommen aus. Allison trug noch ihre Bürokleidung – ein perfekt sitzendes Kostüm kombiniert zu einer grauen Rüschenbluse mit V-Ausschnitt. Nur die Pumps hatte sie abgestreift. Ohne Schuhe maß sie etwa einen Meter fünfundsechzig.

»Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte sie und deutete auf zwei hellbraune Chesterfield-Ledersessel.

Olivia stand am Fenster. Sie hatte sich die langen Haare zurückgekämmt und am Nacken mit einer Spange zusammengefasst.

»Es tut uns leid, dass wir Sie stören«, sagte Hunter und nahm Platz. »Wir machen es kurz.« Er legte den Schwestern die Fotos von Dupek und Littlewood vor, die auf der Titelseite der LA Times abgedruckt gewesen waren. Weder Allison noch Olivia konnten bestätigen, dass ihr Vater mit einem der zwei anderen Mordopfer befreundet gewesen war. Weder die Bilder noch die Namen sagten ihnen etwas.

»Wer sind diese Leute?«, wollte Olivia wissen.

»Bekannte Ihres Vaters«, antwortete Hunter. »Zumindest waren sie es vor langer Zeit. Wir wissen nicht genau, ob sie nach wie vor Kontakt hatten.«

Allison stand ihre Verwirrung ins Gesicht geschrieben.

»Vor langer Zeit?«, fragte Olivia weiter. »Wie lange denn?«

»Ungefähr dreißig Jahre«, gab Garcia ihr Auskunft.

»Was?« Allisons Blick ging von den zwei Detectives zu ihrer Schwester und dann zurück zu Garcia. »Damals war ich noch nicht mal auf der Welt. Was haben mein Vater und irgendwelche Freunde von vor dreißig Jahren mit dieser Sache zu tun?«

»Wir glauben, dass die Morde nicht willkürlich verübt wurden, sondern der Täter es auf eine ganz bestimmte Gruppe von Freunden abgesehen hat«, erklärte Hunter.

»Eine ganz bestimmte Gruppe von Freunden?«, echote Olivia. »Wie viele waren es denn?«

»Wir glauben, es waren mindestens vier.«

Hunters Worte hingen einen Moment lang in der Luft.

»Wieso?« Olivia trat näher. »Wieso ist ein Mörder hinter diesen Leuten her?«

»Wir wissen es nicht genau.« Hunter hielt es nicht für sinnvoll, Olivia und Allison von seiner Theorie zu erzählen.

»Und Sie glauben, dass der Mörder noch mal zuschlagen wird.«

Hunter sah etwas in Olivias Augen aufblitzen.

Weder er noch Garcia beantworteten die Frage.

»Sie glauben also, dass es der Mörder auf eine ganz bestimmte Personengruppe abgesehen hat«, fasste Olivia zusammen. »Aber Sie wissen nicht genau, wie viele Personen es sind. Es handelt sich um Männer, die vor dreißig Jahren befreundet waren, von denen Sie allerdings nicht wissen, ob sie immer noch befreundet sind. Ja, Sie wissen nicht einmal, warum der Mörder es auf sie abgesehen hat. Unterm Strich wissen Sie so gut wie gar nichts, oder?«

Hunter sah, dass Allison kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Ihm war das Sideboard hinter den Chesterfield-Sesseln aufgefallen, auf dem eine kleine Galerie unterschiedlich großer gerahmter Fotos stand. Es waren allesamt Bilder ihrer Familie.

»Sagen Sie, hätten Sie zufällig ein Bild von Ihrem Vater, als er noch jünger war, das wir uns ausborgen könnten?«, wandte Hunter sich an Allison. »Das würde uns wirklich sehr helfen. Sie bekommen es zurück.«

Allison nickte. »Ich habe ein altes Hochzeitsfoto.« Sie deutete zum Sideboard, neben dem ihre Schwester Aufstellung bezogen hatte.

Olivia drehte sich um und betrachtete die Bilder. Sie zögerte. Wieder schien sich irgendeine Emotion in ihr zu regen. Schließlich griff sie nach einem Bild und starrte es einen Moment lang an, ehe sie es an Hunter weiterreichte. Das zehn mal fünfzehn Zentimeter große Foto zeigte Derek Nicholson mit seiner Frau. Ihr strahlendes Lächeln verriet, wie glücklich sie waren. Allison sah ihrer Mutter sehr ähnlich, vor allem die Augenpartie. Hunter versuchte sich an das Foto von Nicholson zu erinnern, das bei ihnen im Büro lag. Es war ein Jahr vor der Krebsdiagnose aufgenommen worden. Bis auf den fliehenden Haaransatz und die obligatorischen Fältchen hatte er sich nicht sehr stark verändert.

Als sie wieder in Garcias Wagen saßen und dieser gerade den Schlüssel im Zündschloss umdrehte, klingelte Hunters Handy – Anrufer unterdrückt.

»Detective Hunter«, meldete er sich.

»Detective, hier ist Tammy von der Hotline. Ich habe hier jemanden in der Leitung, der mit den Detectives vom Totenkünstler-Fall sprechen möchte.«

Hunter wusste, dass das Team von der Hotline angehalten war, alle unseriösen Anrufer abzuwimmeln. Jedes Mal, wenn sich die Nachricht eines neuen spektakulären Falls verbreitete, bekamen sie Dutzende Anrufe pro Tag – von Menschen, die auf eine Belohnung aus waren, von Betrunkenen, Junkies, Lügnern, Spinnern, Schwindlern, Leuten, die nach Aufmerksamkeit suchten, oder solchen, die der Polizei einfach nur auf die Nerven gehen wollten. Ging es um einen Serienmörder, stieg die Anzahl auf das Zehnfache, und es gingen tagtäglich Hunderte, manchmal sogar Tausende von Anrufen in der Zentrale ein. Dies war der erste Anruf seit Beginn der Ermittlungen, der von der Hotline zu ihnen durchgestellt wurde.

»Sie sagt, sie hat Informationen«, setzte Tammy hinzu.

»Was für Informationen?«, fragte Hunter und machte gleichzeitig Garcia ein Zeichen, noch nicht loszufahren.

Tammy räusperte sich. »Sie behauptet, alle drei Mordopfer gekannt zu haben.«

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