Erneut sah Hunter zu Olivia hoch. Er würde niemals an sie herankommen, ohne dass sie es vorher bemerkte und auf ihn schoss. Der Raum war zu groß, und sie war zu weit entfernt, als dass er irgendeine Bedrohung für sie dargestellt hätte. Außerdem hatte er zu lange mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Boden gelegen. Seine Muskeln würden ihm nicht auf Anhieb gehorchen, wenigstens nicht mit der nötigen Schnelligkeit.
»Möchten Sie jetzt auch noch die letzte Skulptur sehen?«, fragte Olivia. »Das letzte Schattenbild? Den Schluss meines kleinen Lehrstücks über die Gerechtigkeit?«
Hunter stützte das Kinn auf. Er sah erst sie an und dann Scott, der nach wie vor bewusstlos war. »Olivia, tun Sie es nicht. Das muss doch nicht sein.«
»O doch! Achtundzwanzig Jahre lang hat Derek Nicholson sein Herz beruhigt, indem er sich der armen Hurentochter angenommen hat. Achtundzwanzig Jahre lang haben diese Schweine ungestraft ihr Leben gelebt. Jetzt bin ich an der Reihe, etwas für mein Herz zu tun, solange ich noch eins habe. Stehen Sie auf«, befahl sie.
Hunter zögerte.
»Ich habe gesagt, aufstehen.« Sie zielte mit der Pistole auf ihn.
Langsam, mit schmerzenden Muskeln und Gelenken, kam Hunter auf die Füße.
»Gehen Sie da rüber.« Sie deutete zur linken Wand, auf eine Stelle bei den Stehlampen. »Stellen Sie sich mit dem Rücken gegen die Wand.«
Hunter tat, was sie von ihm verlangte.
»Sehen Sie die Taschenlampe auf dem Boden, rechts von Ihnen?«
Hunter sah nach unten und nickte.
»Heben Sie sie auf.«
Seine eigene Maglite steckte in seinem Gürtel. Er gehorchte trotzdem.
»Halten Sie sie auf Brusthöhe und schalten Sie sie ein.«
Hunter zögerte erneut. Was hatte sie vor?
»Ich musste improvisieren«, erklärte Olivia. »Eigentlich hatte ich etwas wesentlich Furchterregenderes und Schmerzhafteres geplant – mein großes Finale –, aber angesichts der veränderten Umstände muss es auch so gehen. Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Schalten Sie die Taschenlampe ein«, wiederholte sie.
Hunter hob die Taschenlampe an die Brust und schaltete sie ein.
Olivia trat beiseite. Hinter ihr saß Scott auf seinem Stuhl, immer noch ohnmächtig. Sein Kopf war nach hinten gekippt, so dass er seine Kehle entblößte, und sein Mund stand offen, als wäre er im Sitzen eingeschlafen und würde jeden Augenblick anfangen zu schnarchen. Olivia hatte an einer der Stehlampen einen etwa sechzig Zentimeter langen, dünnen Draht befestigt, der auf Höhe von Scotts Kopf waagerecht abstand. Am Ende des Drahts steckte Scotts abgetrennter Zeigefinger.
Im ersten Moment wusste Hunter nicht, was sie damit bezwecken wollte – bis er den Schatten sah, den die Installation an die Wand warf. Man erkannte deutlich das Profil von Scotts zurückgeneigtem Kopf mit offenem Mund, als stoße er einen Schrei aus. Der abgetrennte Finger am Draht sah einem verformten Zylinder ähnlich. Er war leicht nach unten geneigt und zeigte auf Scotts Kopf, direkt in seinen geöffneten Mund.
In dem Moment erreichte sie der Lärm weit entfernter Polizeisirenen. Hunter hatte vor dem Betreten der Lagerhalle Verstärkung angefordert, doch dem Klang nach zu urteilen, würde es mindestens noch drei bis fünf Minuten dauern, bis sie eintraf. Zu lange.
Olivia musterte Hunter. In ihrer Miene lag eine seltsame Ruhe. »Ich wusste, dass sie kommen würden«, sagte sie und zielte erneut mit der Waffe auf ihn. »Aber ob Sie noch am Leben sein werden, wenn sie hier eintreffen, hängt davon ab, wie schnell Sie das letzte Bild enträtseln können.«
Hunter ließ die Waffe nicht aus den Augen.
»Nicht mich anschauen. Den Schatten.«
Hunter musste sich zwingen, ihr zu gehorchen. Er konzentrierte sich. Auf den ersten Blick sah der Schatten aus wie jemand, der den geöffneten Mund unter eine Art Spender hielt, um daraus zu trinken. Hatte sie etwa vor, Scott etwas einzuflößen? Ihn auf diese Weise zu töten? Aber das wäre eine erhebliche Abweichung von ihrer bisherigen Vorgehensweise. In Hunters Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander.
Der Schuss, der sich aus der Waffe in Olivias Händen löste, war laut wie eine Explosion. Die Kugel schlug wenige Zentimeter von Hunters Kopf entfernt in die Wand ein. Unwillkürlich zuckte er zusammen und ließ die Taschenlampe fallen.
»Kommen Sie, Robert«, mahnte Olivia. »Sie sind doch angeblich so schlau. Ein erfahrener Ermittler. Können Sie nicht unter Druck arbeiten?«
Die Sirenen wurden lauter.
»Die Schatten«, sagte sie. »Sehen Sie sich die Schatten an. Sagen Sie mir, was sie bedeuten. Ihre Zeit läuft ab.«
Hunter bückte sich und hob die Taschenlampe wieder auf. Er starrte angestrengt die Wand an, konnte aber nichts erkennen. Was zum Teufel sollte das Bild darstellen?
Bang!
Der zweite Schuss ging noch näher an seinem Gesicht vorbei. Putzsplitter flogen in alle Richtungen. Einige streiften Hunters Wange und rissen ihm die Haut auf. Er spürte ein Stechen und dann warmes Blut, das aus den Wunden sickerte, doch er hielt die Taschenlampe fest umklammert. Sein Blick war und blieb auf das Schattenbild gerichtet.
»Ich garantiere Ihnen, Detective, der nächste Schuss trifft ins Ziel.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu.
Hunters Gehirn haderte mit der Erkenntnis, dass er vielleicht in wenigen Sekunden sterben würde, während es gleichzeitig versuchte, verschiedene Interpretationen des Schattenbildes gegeneinander abzuwägen.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Olivia erneut die Waffe hob.
Er konnte nicht denken.
Dann sah er es.