»Sands ist zusammen mit Ortega in Paramount aufgewachsen.« Alice hatte ein weiteres Blatt Papier gezückt. »Sie waren beste Freunde. Keiner der beiden hatte Geschwister, das hat sie noch stärker zusammengeschweißt. Sie kamen beide aus armen Familien. Sands’ Vater hat viel getrunken – also nicht gerade Verhältnisse wie aus dem Bilderbuch. Sands hat sein Zuhause gehasst. Er hat seinen Vater gehasst, und er hat die Prügel gehasst, die er von ihm bezogen hat. Deswegen hat er sich die meiste Zeit zusammen mit Ortega auf der Straße rumgetrieben. Irgendwann sind sie mit Drogen in Berührung gekommen, haben sich mit Gangs eingelassen, Schlägereien angezettelt – die übliche Geschichte.«
Das Telefon auf Captain Blakes Schreibtisch klingelte. Sie riss den Hörer ans Ohr. »Nicht jetzt!« Sie knallte den Hörer wieder auf. »Reden Sie weiter.«
Alice räusperte sich, um einen Frosch im Hals loszuwerden. »Sands und Ortega waren zusammen auf der Paramount Highschool. Ortega war ein ziemlich mieser Schüler, ganz im Gegensatz zu Sands. Der störte zwar oft den Unterricht, hatte aber bessere Noten, als die meisten ihm zugetraut hätten. Er hätte ohne Probleme einen Platz auf dem College bekommen können, wenn die finanziellen Mittel vorhanden gewesen wären. Allerdings waren die beiden zu dem Zeitpunkt auch schon fleißig dabei, die kriminelle Karriereleiter hochzuklettern. Mit siebzehn wurden sie wegen Autodiebstahls und Marihuanabesitzes verhaftet. Ein Jahr Jugendknast. Der Aufenthalt dort hat Ortega zur Besinnung gebracht. Er ist zu dem Schluss gelangt, dass er so nicht weitermachen will. Kurz nach seiner Entlassung hat er dann Pam kennengelernt, und ein paar Jahre später haben sie geheiratet. Er hat zwar weiterhin Drogen genommen, konnte aber einen Job in einer Lagerhalle ergattern – den hatte ich ja schon erwähnt. Kurz und gut: Alles deutete darauf hin, dass er mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte.«
»Anders als Sands«, sagte Hunter.
Ein flüchtiges Nicken. »Anders als Sands. Der hat nach seiner Entlassung noch eine Weile als Kleinkrimineller weitergemacht, aber im Gefängnis hatte er eine Menge Kontakte geknüpft, und bevor man es sich versah, dealte er im großen Stil mit Drogen.«
»Wie sind Sie denn so schnell an all die Informationen gekommen?«, wunderte sich Garcia.
»Die Bezirksstaatsanwaltschaft legt ausführliche Akten von sämtlichen Straftätern an, denen der Prozess gemacht wird«, antwortete Alice mit einer Geste in Bradleys Richtung. Dann blätterte sie eine Seite in ihrer Mappe um. »Eines Abends kam Sands betrunken und zugedröhnt nach Hause. Es kam – nicht zum ersten Mal – zum Streit mit seiner Freundin Gina Valdez, und die Sache eskalierte. Sands hat völlig die Kontrolle über sich verloren. Er hat sich einen Baseballschläger gegriffen und sie so schlimm verprügelt, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste und um ein Haar gestorben wäre. Sie hatte mehrere Knochenbrüche, eine Schädelfraktur, und sie ist seitdem auf dem rechten Auge blind.«
»Sympathischer Typ«, meinte Garcia und lehnte sich gegen das Fenster.
»Du sagtest, dein Programm hätte nach Verwandtschaftsbeziehungen gesucht«, unterbrach Hunter sie. »Wie ist es dir da gelungen, Sands mit Ortega in Verbindung zu bringen?«
»Nachdem er seine Frau ermordet hatte und zum Tode verurteilt worden war, hat Ortega Sands als nächsten Angehörigen angegeben«, erklärte Alice. »Ich hatte es ja eingangs erwähnt: In ihrer Jugend waren sie wie Brüder gewesen. Du hattest vorgeschlagen, dass wir nach Familienangehörigen oder Gang-Mitgliedern suchen sollen – nach allen, die möglicherweise für jemand anderen Rache nehmen könnten. Ich würde sagen, Ken Sands passt definitiv in diese Kategorie.«
»Ohne Frage«, sagte Garcia.
»Aber das Beste kommt noch«, fuhr Alice fort. »Andrew Dupek war der Detective, der Sands verhaftet hat.«
Im nächsten Moment schien der Raum wie von statischer Elektrizität erfüllt.
»Sands’ Freundin Gina hatte Todesangst vor ihm, und zu Recht. Wie sich herausstellte, hatte er sie schon oft geschlagen. Dupek war derjenige, der sie schließlich überzeugen konnte, ihn anzuzeigen, als es ihr wieder etwas besser ging. Sands kam wegen gefährlicher Körperverletzung eines Lebenspartners mit einer tödlichen Waffe vor Gericht.«
»Was laut Paragraph 245 des kalifornischen Strafgesetzbuchs ein Kapitalverbrechen ist«, fügte Bezirksstaatsanwalt Bradley ergänzend hinzu.
Alice nickte. »Dazu nehme man noch den Umstand, dass er zum Zeitpunkt der Festnahme high war und über ein Kilogramm Heroin bei sich hatte, und heraus kommt eine neuneinhalbjährige Haftstrafe. Er ist ins kalifornische Staatsgefängnis in Lancaster überstellt worden.«
»Wie lange ist das jetzt her?«, wollte Captain Blake wissen.
»Zehn Jahre. Und angeblich hat er nach der Urteilsverkündung, bevor er von den Gerichtsdienern abgeführt wurde, noch die Gelegenheit genutzt, sich zu Dupek, der genau hinter dem Staatsanwalt saß, umzudrehen und zu sagen: ›Ich krieg dich.‹ Er wurde vor einem halben Jahr entlassen.«
Mehrere Sekunden lang schien die Zeit stillzustehen.
»Haben wir eine Adresse?«, fragte Hunter dann.
»Nur seine alte Privatadresse. Es gibt keine Bewährungsauflagen, Sands hat seine Strafe komplett abgesessen, er muss sich also weder bei einem Bewährungshelfer noch bei einem Richter oder bei sonst wem melden. Er unterliegt keinerlei Beschränkungen. Wenn er will, kann er sogar das Land verlassen.«
»Also gut«, sagte Captain Blake mit einem Blick zu dem Foto auf ihrem Schreibtisch. »Wir müssen ihn auf der Stelle ausfindig machen und uns ein wenig mit ihm unterhalten.« Sie machte Alice ein Handzeichen, damit diese ihr die Mappe mit dem Bericht aushändigte.
»Bis wir ihn gefunden haben«, sagte Bezirksstaatsanwalt Bradley, »sollten wir über die Sache Stillschweigen bewahren. Ich will nicht, dass die Presse oder sonst irgendjemand davon erfährt.« Er sah Hunter und Garcia an, als rechne er damit, dass sie mit den neuen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit gingen, kaum dass sie Blakes Büro verlassen hatten. »Ganz egal wer. Ein Staatsanwalt und ein Polizist sind ermordet worden. Jeder Cop, jede Strafverfolgungsbehörde in Los Angeles ist heiß darauf, einen vermeintlichen Verdächtigen in die Finger zu kriegen. Wenn das hier nach außen dringt, haben wir eine Hexenjagd am Start, wie die Stadt sie noch nicht erlebt hat. Also, kein Wort zu niemandem. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Statt ihm eine Antwort zu geben, sahen Hunter und Garcia den Bezirksstaatsanwalt lediglich an.
»Habe ich mich klar ausgedrückt, Detectives?«
»Glasklar«, sagte Hunter.