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Garcia war Frühaufsteher und kam immer vor den meisten Kollegen ins Dezernat. An diesem Morgen saß er noch viel früher als sonst an seinem Schreibtisch. Er litt nicht an Schlaflosigkeit wie Hunter, aber niemand hat wirklich die Kontrolle über seine Gedanken oder darüber, womit das eigene Unterbewusstsein einen traktiert, sobald man die Augen zumacht. Letzte Nacht waren die Bilder in seinem Kopf so schlimm gewesen, dass er vor Angst fast die ganze Nacht nicht geschlafen hatte.

Er hatte sein Bestes getan, seine Frau nicht zu wecken, doch obwohl er stumm und regungslos dalag, spürte Anna die Unruhe ihres Mannes, als wäre es ihre eigene. Das tat sie immer.

Garcia hatte Anna Preston in der neunten Klasse der Highschool kennengelernt. Ihre außergewöhnliche Schönheit hatte damals viele Jungs fasziniert, aber Garcia war regelrecht in ihren Bann geschlagen. Auf der Schule war Garcia still und eher schüchtern. Er brauchte zehn Monate, um genügend Mut aufzubringen, bei einem Schulball zu Anna hinzugehen und die Worte zu stammeln: »Würdest du … äh … mö… also, möchtest du tanzen …?«

»Ja«, antwortete sie mit einem Lächeln, bei dem ihm die Knie schlotterten.

»Ich meine … mit mir … Möchtest du mit mir tanzen …?«

Ihr Lächeln wurde noch strahlender. »Ja, und wie.«

Während sie etwas unbeholfen zu einem langsamen Song über die Tanzfläche schunkelten, flüsterte Anna in Garcias Ohr: »Wieso hat das so lange gedauert?«

Garcia hob das Kinn von ihrer Schulter und sah in ihre goldbraunen Augen. »Was?«

»Fünf Schulbälle. Das hier ist der fünfte Schulball in diesem Jahr. Wieso hat es so lange gedauert, bis du mich endlich mal aufforderst?«

Garcia legte den Kopf schief und sagte zögerlich: »Ich … lasse die Frauen halt gern zappeln?«

Da mussten beide lachen.

Seit jenem Abend waren sie ein Paar.

Drei Jahre später, direkt nach bestandenem Schulabschluss, machte Garcia ihr einen Heiratsantrag.

Als Garcia Detective beim LAPD wurde, schwor er sich, die kranke, brutale Welt, mit der er beruflich zu tun hatte, niemals mit nach Hause zu bringen. Niemals mit Anna über seine Arbeit zu sprechen – nicht weil das gegen die Dienstvorschrift verstieße, sondern weil er sie so sehr liebte, dass er ihre Gedanken nicht mit den Bildern seines grausamen Alltags verschmutzen wollte. Bislang hatte er sich eisern an diesen Schwur gehalten.

Doch als sie nun im Bett lagen, kroch Anna näher zu Garcia hin und wisperte in die Dunkelheit: »Wenn du irgendwann mal reden willst – du weißt, dass ich da bin. Ganz egal worum es geht.«

Er drehte sich zu ihr um und strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich weiß.« Er lächelte. »Alles ist gut«, und küsste ihre Lippen.

Anna legte ihm eine Hand auf die Brust und schloss die Augen. »Ich liebe dich«, sagte sie.

Garcia begann ihr Haar zu streicheln. »Ich liebe dich auch.« Schlaf fand er in dieser Nacht nicht.

Garcia saß mit Blick zur Pinnwand. Sein Interesse galt hauptsächlich dem Foto des Schattenbildes von der zweiten Skulptur. »Was zum Geier will er uns damit sagen?«

»Die Frage habe ich mir auch die ganze Nacht gestellt«, verkündete Alice. Sie stand genau hinter ihm.

Garcia fuhr in die Höhe. Er hatte sie gar nicht hereinkommen hören. »Mein lieber Mann«, sagte er und sah auf die Uhr. »Du bist aber früh auf den Beinen.«

»Oder spät, je nachdem.« Sie legte mehrere Mappen auf ihren Schreibtisch.

»Konntest du auch nicht schlafen?«

»Ich wollte nicht schlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen zugemacht habe, hat mein Hirn einen neuen Alptraum ausgebrütet.«

Garcia verzog mitfühlend das Gesicht. Er wusste nur zu gut, wovon sie sprach.

Sie nahm eine der mitgebrachten Mappen vom Tisch und reichte sie Garcia.

»Was ist das?«

»Gefängnisakten und Besucherlisten von Alfredo Ortega und Ken Sands.«

Garcia machte große Augen. »Im Ernst? Ich wusste gar nicht, dass der Antrag schon bewilligt wurde.«

»Es hat eben Vorteile, wenn der Bezirksstaatsanwalt, der Bürgermeister und der Polizeichef unbedingt Ergebnisse sehen wollen. Alles geht viel schneller. Ich habe sie heute in aller Frühe per Fax ins Büro bekommen.«

»Hast du sie schon durchgesehen?«

Alice schob sich mit beiden Händen die Haare hinter die Ohren. »Ja, habe ich.«

Garcia beäugte ungläubig den dicken Mappenstapel.

»Ich lese schnell.« Sie lächelte. »Ich habe ein paar Sachen angestrichen.« Sie überlegte kurz. »Genauer gesagt ziemlich viele. Fang mit der blauen Mappe an, das ist die von Alfredo Ortega. Du weißt ja bestimmt noch, dass er elf Jahre vor Ken Sands ins Gefängnis gekommen ist.«

Garcia fiel Alices eigenartiger Tonfall auf. »Ich merke schon, du bist auf was gestoßen.«

»Wart ab, bis du beide Akten durch hast.« Sie hockte sich mit selbstzufriedener Miene auf die Kante ihres Schreibtischs. »Du musst es mit eigenen Augen sehen, sonst glaubst du es nicht.«

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