Viele Kenner behaupten, dass der wahre Whiskyliebhaber sein Getränk mit ein wenig Wasser, idealerweise Quellwasser, zu sich nimmt. Die Zugabe von Wasser verhindert, dass der Alkohol die Geschmacksknospen betäubt und einen so um den vollen Genuss bringt. Außerdem hebt Wasser Aroma und Geschmack des Whiskys und bringt seine verborgenen Noten besser zur Geltung. Eine weit verbreitete Faustregel ist, dass man seinen Whisky mit einem fünften Teil Wasser verdünnen sollte. Für diejenigen, die ihren Whisky mit Eis trinken, haben Connaisseurs hingegen nur Verachtung übrig, da das Absenken der Temperatur das Aroma abtötet und das Geschmackserlebnis schmälert.
Hunter kümmerte sich nicht darum, was andere sagten, ob sie nun Whiskykenner waren oder nicht. Er trank seinen Single Malt nicht deshalb mit einem Schuss Wasser, weil dies die offiziell anerkannte Darreichungsform war, sondern weil er festgestellt hatte, dass einige Whiskys geschmacklich zu intensiv waren, als dass man sie pur genießen konnte. Manchmal nahm er seinen Scotch aber auch mit einem, gelegentlich sogar mit zwei Eiswürfeln. Er mochte das Gefühl, wenn ihm die kühle Flüssigkeit die Kehle hinabglitt.
Garcia wiederum trank seinen Whisky so, wie er ihn vorgesetzt bekam. An diesem Abend hatten sie beide je einen Würfel Eis im Glas.
Sie saßen an einem der vorderen Tische im Brennan’s Pub am Lincoln Boulevard – bekannt für seine Schildkrötenrennen am Donnerstagabend und für die große Auswahl an Rock-Klassikern in seiner Jukebox.
Hunter hatte die Enge ihres Büros nicht länger ausgehalten – ganz zu schweigen von dem morbiden Wandschmuck aus blutigen Tatortfotos und der Gipsnachbildung der Körperteil-Skulptur.
Sie tranken schweigend. Es gab so vieles, worüber sie nachdenken mussten. Hunter hatte vorher noch mit Dr. Hove telefoniert. Die Tox-Ergebnisse für Andrew Dupek waren da, und ihre Vermutung hatte sich bestätigt: In Dupeks Blut waren Spuren von Propafenon, Felodipin und Carvedilol nachgewiesen worden – derselbe Medikamentencocktail wie bei Derek Nicholson.
Eine große Frau mit langer blonder Mähne, dem geschmeidigen Körper einer Tänzerin und einem Gang, der ebenso bezaubernd wie verführerisch war, betrat den Pub. Sie trug hautenge Bluejeans, hellbraune Stilettos und eine cremefarbene Bluse, die sie in die Hose gesteckt hatte. Ihre chirurgisch optimierten Brüste dehnten den dünnen Baumwollstoff so stark, dass fast die Knöpfe absprangen. Hunters Blick folgte ihr auf dem kurzen Weg vom Eingang bis zur Theke.
Garcia feixte seinen Partner an, sagte jedoch nichts.
Hunter trank noch einen Schluck von seinem Scotch, bevor sein Blick erneut zu der Blondine wanderte.
»Vielleicht solltest du sie ansprechen«, schlug Garcia vor und deutete mit dem Kopf in Richtung Bar.
»Was?«
»Du machst ja schon Stielaugen. Geh doch einfach mal zu ihr rüber und sag hallo.«
Hunter sah seinem Partner kurz ins Gesicht, bevor er leicht den Kopf schüttelte. »Es ist nicht das, was du denkst.«
»Natürlich nicht. Trotzdem finde ich, du solltest mal drüber nachdenken.«
Hunter stellte sein Glas hin und stand auf. »Bin gleich wieder da.«
Garcia sah seinem Partner verdattert nach, als dieser tatsächlich zur Theke ging und sich neben die Blondine schob, die bereits reichlich männliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Garcia hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass Hunter etwas unternehmen würde, noch dazu so schnell. »Da bin ich jetzt aber gespannt«, murmelte er und setzte sich so hin, dass er optimale Sicht hatte: Dann beugte er sich vor und stützte beide Ellbogen auf den Tisch. Was hätte er in diesem Moment nicht alles für ein Paar bionische Ohren gegeben.
»Entschuldigen Sie«, sagte Hunter und stellte sich neben die Blondine an den Tresen.
Die sah nicht einmal in seine Richtung. »Kein Interesse.« Ihre Stimme war kühl, abweisend und eine Spur arrogant.
Hunter stutzte. »Wie bitte?«
»Ich sagte, ich habe kein Interesse«, wiederholte die Frau und nippte an ihrem Drink. Noch immer würdigte sie Hunter keines Blickes.
Hunter unterdrückte ein Schmunzeln. »Okay, ich auch nicht. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass Sie sich in ein Kaugummi gesetzt haben, und jetzt klebt Ihnen ein dicker grüner Klumpen hinten an den Jeans.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Sieht nicht so schick aus.«
Jetzt endlich zuckte der Blick der Frau für den Bruchteil einer Sekunde zu Hunter, bevor er weiter nach unten wanderte. Sie verdrehte den Oberkörper im Versuch, ihren Hintern zu betrachten.
»Andere Seite«, sagte Hunter milde.
Die Frau drehte sich in die andere Richtung, und schlagartig flog ihre Hand an ihr Gesäß. Ihre Fingerspitzen mit den aufwendig manikürten Nägeln ertasteten den zähen, klebrigen Fleck, der sich von der Mitte ihrer Pobacke bis hinunter zum Oberschenkelansatz zog.
»Shit«, sagte sie, zog die Hand weg und betrachtete sie angeekelt. »Das sind Roberto-Cavalli-Jeans.«
Hunter hatte keine Ahnung, was das für einen Unterschied machte. »Die sind hübsch«, sagte er mitfühlend.
»Hübsch? Die haben ein Vermögen gekostet!«
Hunter sah sie mit neutraler Miene an. »In der Reinigung geht der Fleck bestimmt raus.«
»Shit«, sagte sie erneut und stakste in Richtung Toiletten davon.
»Na, das war aber geschmeidig«, meinte Garcia, als Hunter an ihren Tisch zurückkehrte. »Was hast du zu ihr gesagt? Ich habe nur gesehen, wie sie sich an den Arsch gefasst hat und dann wie eine Rakete Richtung Klo gezischt ist.«
Hunter hob seinen Whisky zum Mund. »Wie ich bereits sagte, es war nicht das, wonach es aussah.«
Garcia gluckste und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Du musst an deinen Anmachsprüchen arbeiten, Mann.«
Hunters Handy klingelte. Er stellte sein Glas hin und fischte es aus seiner Tasche. »Detective Hunter?«
»Robert, hier ist Terry. Ich habe ein paar Infos für dich.«
Detective Terry Cassidy gehörte zum Raub-und Morddezernat. Hunter hatte ihn gebeten, alles über den mittlerweile entlassenen Raul Escobedo herauszufinden, den Vergewaltiger, den Dupek bei der Verhaftung zusammengeschlagen hatte.
»Ich höre, Terry.«
»Also, der Kerl, den ich überprüfen sollte, dieser Escobedo, der ist ein echt mieses Stück Scheiße«, sagte Cassidy einleitend. »Arschloch GmbH und Co KG, wenn du weißt, was ich meine. Sexualstraftäter, dem bei Gewalt einer abgeht. Soll sich insgesamt an zehn Frauen vergangen haben.«
»Ich kenne die Geschichte«, unterbrach Hunter seinen Kollegen. »Was hast du sonst noch rausgefunden?«
»Okay, unser Freund hat seine Strafe abgesessen. Hat zehn Jahre wegen Vergewaltigung in drei Fällen gekriegt – mehr Frauen haben nicht gegen ihn ausgesagt. Und jetzt halt dich fest: Während seiner Zeit im Knast hat die Kotztüte doch allen Ernstes seinem sündigen Leben abgeschworen. Er hat zu Gott gefunden.« Cassidy hielt inne, entweder des Effekts wegen oder weil ihn die Vorstellung, jemand wie Escobedo könne behaupten, geläutert zu sein, ihn vor Empörung sprachlos machte. Cassidy war gläubiger Katholik. »Escobedo hat angefangen, Tag und Nacht in der Bibel zu lesen, und er hat am Religionsunterricht teilgenommen, der im Knast angeboten wurde. Hat mit Bestnoten abgeschlossen. Nach seiner Entlassung vor zwei Jahren …«, wieder eine kurze Pause, »… du ahnst es schon – hat er angefangen zu predigen. Er bezeichnet sich jetzt als ›Reverend‹, der anderen die Frohe Botschaft verkündet und ihnen hilft, den rechten Weg zu finden. Nennt sich Reverend Soldado. Nach St. Juan Soldado, einem Volksheiligen, der im Nordwesten Mexikos von vielen Menschen verehrt wird. Escobedos Familie stammt aus der Region.«
»Der heilige Soldat?«, fragte Hunter, der den Namen aus dem Spanischen übersetzt hatte.
»Ganz genau«, bestätigte Cassidy. »Ich habe mal ein bisschen nachgeforscht. Mit bürgerlichem Namen hieß dieser Heilige Juan Castillo Morales. Er war Gefreiter bei der mexikanischen Armee. Und jetzt pass auf, das glaubst du nicht … Castillo wurde 1938 für die Vergewaltigung und den Mord eines achtjährigen Mädchens aus Tijuana verurteilt hingerichtet. Kein Witz, Robert – Vergewaltigung. Seine Anhänger glauben, dass er zu Unrecht beschuldigt wurde. Er soll bei Gesundheitsproblemen, Schwierigkeiten mit dem Gesetz, Familienangelegenheiten, bei der Überquerung der mexikanisch-amerikanischen Grenze und allen möglichen anderen Unwägbarkeiten des Alltags helfen.« Hunter hörte Cassidys ungläubiges Lachen. »Das muss man sich wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen. Escobedo hat sich einen heiligen Vergewaltiger als Namensvetter ausgesucht. Hat der Eier oder was?«
Hunter enthielt sich eines Kommentars.
Cassidy fuhr fort. »Er hat in Pico Rivera seinen eigenen Tempel oder seine Gemeinde oder wie auch immer man das nennen will. Ich persönlich würde das ganz einfach als Sekte bezeichnen. Sie nennen sich Soldiers for Jesus, zieh dir das rein. Klingt wie ein Terrornetzwerk. Würde mich nicht wundern, wenn er jetzt junge Frauen davon überzeugt, dass sie sich ihm hingeben müssen, wenn sie in seinen Club aufgenommen werden wollen. Wahrscheinlich redet er ihnen ein, dass er der neue Messias ist und den Willen des Herrn erfüllt. Wenn er im Knast irgendwas gelernt hat, dann wie man am besten das Gesetz umgeht.«
»Hast du auch was darüber rausgefunden, wo er an den Tagen war, die ich dir genannt habe?«, wollte Hunter wissen.
»Ja. Und sosehr ich den Kerl auch hasse, er kann nicht euer Mann sein. Am ersten Datum – dem 19. Juni – war Escobedo gar nicht in Los Angeles. Da hat er in San Diego einen Gottesdienst abgehalten. Er hat Expansionspläne für die Soldiers of Jesus. Am zweiten Datum, dem 22. Juni, war er den ganzen Tag damit beschäftigt, zwei CDs und eine DVD aufzunehmen. Die verkauft er an seine Anhänger. Er hat Dutzende von Zeugen, die das bestätigen können. Escobedo ist ein Abgrund aus Lügen, stinkender Scheiße und Gotteslästerei, aber er ist nicht euer Killer, Robert.«
Hunter nickte. Die Dienstvorschrift verlangte, dass er jedem Hinweis nachging, aber er hatte Escobedo von Anfang an nicht für einen Verdächtigen gehalten. Als Psychologe und später als Detective beim Raub-und Morddezernat hatte Hunter unzählige Mörder studiert, verhört und festgenommen, und im Laufe der Jahre war er zu der Erkenntnis gelangt, dass es nicht viel gab, was einen Mörder von einem ganz normalen Menschen unterschied. Er war Mördern begegnet, die ein attraktives Äußeres und ein freundliches, einnehmendes Wesen hatten. Mördern, die aussahen wie liebe, alte Großväter. Sogar Mördern mit starker erotischer Ausstrahlung. Der wahre Unterschied zeigte sich erst, wenn man tief in ihre Psyche hineinblickte. Aber es gab unterschiedliche Arten von Kriminellen – und unterschiedliche Arten von Mördern. Escobedo war ein Sexualstraftäter – das Niedrigste vom Niedrigsten. Sicher, er war gewaltbereit, aber sein primäres Interesse lag darin, seine sexuelle Begierde zu befriedigen. Er hatte seinen Opfern nie über längere Zeit hinweg nachgestellt, sondern sie sich einfach dort gegriffen, wo immer er sich zum fraglichen Zeitpunkt gerade aufhielt. Hunter wusste, dass Verbrecher wie er nur in sehr seltenen Fällen ihre Handschrift änderten. Selbst wenn Rache das Motiv war, hätte Escobedo sein Opfer höchstwahrscheinlich erschossen oder erstochen und sich danach so schnell wie möglich vom Tatort entfernt, statt sein Opfer in stundenlanger Kleinarbeit zu zerlegen und groteske Skulpturen aus seinen Gliedmaßen zu formen, von denen jede noch dazu eine tiefere Bedeutung in Form eines versteckten Schattenbildes hatte. Nein, Escobedo hatte weder das Wissen noch die Geduld, den Intellekt oder die Kaltblütigkeit, ein solches Verbrechen zu begehen.
»Hervorragende Arbeit, Terry, danke«, sagte Hunter, bevor er sein Handy zuklappte und es zurück in die Tasche steckte. Er gab die Neuigkeiten an Garcia weiter, und beide tranken schweigend ihre Gläser aus. Als sie aufstanden, um zu gehen, kam die große Blondine gerade von der Toilette zurück und steuerte ihren Tisch an.
»Tut mir leid wegen eben«, sagte sie zu Hunter. Auf einmal klang ihre Stimme nicht nur sehr charmant, sondern hatte sogar einen verführerischen Unterton angenommen. »Und danke noch mal.«
Garcias Miene war ein Bild für die Götter. »Das glaub ich jetzt nicht«, zischte er verdattert.
»Kein Problem«, wiegelte Hunter ab.
»Ich weiß, dass ich hochnäsig rübergekommen bin«, fuhr die Frau fort. Ihr Lächeln wirkte künstlich und einstudiert. »Ich bin nicht immer so. Aber an Orten wie diesem muss man als Frau vorsichtig sein, das verstehen Sie doch?«
»Wie gesagt, kein Problem.« Hunter drückte sich an ihr vorbei. »Einen schönen Abend noch.«
»Warten Sie mal«, rief sie scheu, als er sich schon von ihr abgewandt hatte. »Ich muss jetzt nach Hause und versuchen, das irgendwie wieder hinzukriegen, aber vielleicht könnten wir ja ein andermal was zusammen trinken gehen.« Mit einer geschickten Bewegung schob sie Hunter eine gefaltete Serviette hin. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen.« Sie beendete ihren Auftritt mit einem neckischen Augenzwinkern und verließ die Bar.
»Das glaub ich einfach nicht«, murmelte Garcia erneut.