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»Lassen Sie die Waffe fallen, Detective«, befahl der Totenkünstler, während er Hunter tief in die Augen sah und gleichzeitig Scott Bradley das Elektromesser an die Kehle presste.

Hunter rührte sich nicht. Er hielt die Waffe fest in der Hand.

»Sind Sie sicher, dass Sie dieses Spiel spielen wollen, Robert? Ich bin nämlich mehr als bereit dazu.« Erneut wurde das elektrische Messer eingeschaltet, und sein Surren vibrierte durch die Halle wie das Geräusch von tausend Zahnarztbohrern.

Scott litt solche Todesangst, dass ihm nur ein schwaches Wimmern über die Lippen kam. Er verlor die Kontrolle über seine Blase.

Noch immer bewegte Hunter sich nicht.

»Wie Sie wollen.« In einer blitzschnellen Bewegung packte der Totenkünstler Scotts rechte Hand und machte sich mit dem Messer über den Zeigefinger her. Mit erschreckender Leichtigkeit durchschnitten die Klingen Fleisch und Knochen. Der Finger purzelte zu Boden wie eine tote Made. Blut spritzte auf.

Scott stieß einen rauen Schrei aus und versuchte noch die Hand wegzuziehen, aber es war zu spät. Wo kurz zuvor noch ein Finger gewesen war, befand sich jetzt nur noch eine blutende Wunde. Scott sah aus, als wäre er kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

»Schon gut!«, rief Hunter und hob in einer Geste der Kapitulation die linke Hand. »Also gut, Sie haben gewonnen.« Er sicherte seine Pistole und legte sie auf den Boden.

Der Totenkünstler schaltete das Messer ab. »Schieben Sie sie mit dem Fuß von sich weg. Und zwar weit weg.«

Hunter tat wie ihm befohlen und versetzte seiner Waffe einen Tritt. Sie schlitterte über den Betonboden und prallte schließlich neben dem Totenkünstler gegen die Wand.

»Die Ersatzwaffe auch.«

»Ich habe keine.«

»Ach, wirklich?« Erneut wurde das Messer eingeschaltet.

»Neeeeiiin!«, schrie Scott.

»Ich habe wirklich keine!«, brüllte Hunter über den Lärm hinweg. »Ich trage keine Ersatzwaffe!«

»Also gut. Dann ziehen Sie sich aus … langsam. Legen Sie die Kleider ab und werfen Sie sie zur Seite. Die Unterwäsche können Sie anbehalten.«

Hunter gehorchte widerspruchslos.

»Und jetzt legen Sie sich auf den Boden. Gesicht nach unten, Arme und Beine auseinander.«

Hunter wusste, dass ihm keine Wahl blieb. Für ihn und Scott lief langsam, aber sicher die Zeit ab.

»Wissen Sie was?«, sagte der Totenkünstler, während er einen Mullverband um Scotts Hand wickelte. »Ich habe nie daran gezweifelt, dass Sie dahinterkommen. Ich wusste von Anfang an, dass es Ihnen irgendwann gelingen wird, sich alles zusammenzureimen. Dass Sie die wahre Bedeutung hinter den Skulpturen erkennen. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass es so schnell geht. Nicht bevor ich die Sache abgeschlossen habe. Nicht ohne das letzte noch fehlende Stück. Wie haben Sie das gemacht? Wie sind Sie darauf gekommen?«

Hunter stützte das Kinn auf den Betonboden und sah ihr geradewegs in die Augen.

Olivia, Derek Nicholsons älteste Tochter, trat hinter dem Metallstuhl hervor. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und darüber trug sie einen Overall aus wasserfestem Material, den sie bis zum Kinn geschlossen hatte. Als sie sich die Kapuze des Overalls vom Kopf streifte, sah Hunter, dass sie eine schwarze Badekappe aus Silikon trug. Ihre Schuhe schienen ihr mehrere Nummern zu groß zu sein. Hunter dachte an das, was Brindle über die Schuhabdrücke in Dupeks Bootskajüte gesagt hatte – dass die Gewichtsverteilung bei jedem Schritt anders gewesen war, was entweder bedeutete, dass der Täter humpelte oder absichtlich Schuhe in der falschen Größe getragen hatte.

Olivia hielt nach wie vor das Elektromesser in der Hand.

»Ihre Vorstellung war wirklich überzeugend«, sagte Hunter, der sich an den Tag erinnerte, als er ihr zum ersten Mal im Haus ihres Vaters begegnet war. »Ihr Verhalten … die Tränen … das unkontrollierte Zittern … die Verzweiflung in Ihrer Stimme … ich habe Ihnen das alles abgekauft.«

Olivia zuckte mit keiner Wimper. »Also, wie sind Sie darauf gekommen?«

Hunter schluckte. Er würde jede Sekunde nutzen. »Durch eine Freundin Ihrer Mutter.«

Er sah, dass die Worte Olivia wie ein Peitschenhieb trafen.

Sie erstarrte. Zorn und Trauer kämpften in ihren Augen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Was für eine Freundin?«

»Jemand, den sie früher kannte. Ich weiß ihren richtigen Namen nicht. Sie hat sich Jude genannt.«

»Was hat sie Ihnen gesagt?«

Hunter hustete. »Nicht viel.«

Olivia wartete, doch Hunter schwieg. »Besser, Sie reden weiter, sonst fange ich an zu schneiden.«

»Sie hat sich bei uns gemeldet, weil sie uns etwas über die Mordopfer sagen wollte. Ihre Opfer.«

»Was war mit denen?«

»Sie ist früher von ihnen vergewaltigt und zusammengeschlagen worden. Von der ganzen Gruppe. Genau wie Ihre Mutter.«

Hunter sah, wie Olivias Gesicht vor Wut glühte. Ihre funkelnden Augen richteten sich auf Scott, der trotz seiner Todesangst und der unerträglichen Schmerzen wie gebannt zuhörte.

»Wir haben die Schattenbilder interpretiert«, schob Hunter hastig hinterher, um sie von Scott abzulenken. »Aber wir haben sie falsch interpretiert … zumindest teilweise.«

Sein Plan ging auf. Olivia wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Hunter zu.

»Es hat eine Weile gedauert, bis wir rausgefunden hatten, was der Kojote und der Rabe bedeuten. Sie wollten uns damit sagen, dass Ihr Vater ein Lügner ist.«

»Er war nicht mein Vater!«, spie Olivia voller Verachtung.

»Natürlich«, sagte Hunter rasch. »Entschuldigung. Sie wollten uns mitteilen, dass Derek Nicholson ein Lügner und Verräter ist.«

»Genau das war er ja auch.« Ihre Stimme bebte vor Wut. »Ich war drei Jahre alt, als meine Mutter starb. Ich wurde achtundzwanzig Jahre lang betrogen. Dressiert wie ein kleines Hündchen, damit ich seine Lügen glaube.«

»Auch das tut mir leid«, sagte Hunter und hielt einen Moment lang inne. Sein überdehnter Hals begann allmählich weh zu tun. »Allerdings haben wir Ewigkeiten gebraucht, um dahinterzukommen, dass Sie uns mit den Bildern eine Geschichte erzählen wollten, Szene für Szene, wie in einem Puppentheater.«

Scott sah ihn verwirrt an.

Olivia schwieg.

»Und wir haben Ihre zweite Skulptur und das dazugehörige Schattenbild falsch gedeutet«, fuhr Hunter fort. »Wir haben Dutzende von Interpretationen durchgespielt, und letzten Endes war ich überzeugt, dass Sie einen Kampf darstellen wollten. Eine Gruppe junger Männer, die zusammen auf die Piste gegangen sind, sich betrunken und Drogen genommen haben. Eines Tages sind sie in eine Schlägerei geraten, die Sache ist aus dem Ruder gelaufen, und jemand hat dafür mit seinem Leben bezahlt. Außerdem dachten wir, dass Sie uns sagen wollten, Andrew Dupek sei der Anführer dieser Gruppe gewesen.«

»Er war ein Schwein«, sagte Olivia voller Abscheu.

»Aber in Wirklichkeit ging es gar nicht um eine Schlägerei«, sagte Hunter. »Sie wollten nicht zwei Leute darstellen, die am Boden liegen und sich prügeln, während der Rest der Gruppe zuschaut. Sie wollten darstellen, wie jemand vergewaltigt wird, während der Rest der Gruppe zuschaut.«

»Sie haben nicht zugeschaut. Sie haben mitgemacht.« Ihre Augen verdunkelten sich wie vor einem aufkommenden Sturm.

»Sie war eine Nutte vom Straßenstrich.« Endlich brachte Scott genügend Kraft auf, um sich zu Wort zu melden. »Andy hat sie an irgendeiner dunklen Ecke am Sunset Strip aufgegabelt. Sie hatte es doch darauf angelegt. Das war ihr Job: Sie hat sich für Geld ficken lassen. Was hat das mit Vergewaltigung zu tun?«

Olivia wirbelte so schnell herum, dass sie vor Hunters Augen fast verschwamm, und rammte Scott die Faust ins Gesicht. Seine Unterlippe platzte auf, und erneut flogen Blutstropfen durch den Raum.

»Du hältst dein Maul, bis ich dir sage, dass du sprechen darfst, du erbärmlicher Sack Scheiße.«

Hunter zuckte.

»Und Sie rühren sich nicht, bis ich es Ihnen erlaube.«

»Tue ich nicht.«

Die Lage wurde immer brenzliger.

»Also, ich höre«, sagte Olivia schließlich. »Wie haben Sie rausgefunden, dass es eine Vergewaltigung war?«

»Jude hat früher auch auf dem Strich gearbeitet. Wir haben uns mit ihr getroffen, und sie hat uns erzählt, dass sie einmal zu Dupek ins Auto gestiegen ist. Er ist mit ihr an einen abgeschiedenen Ort gefahren, wo die anderen drei auf sie gewartet haben. Sie haben sie geschlagen und vergewaltigt.« Hunter musste sich räuspern. »Dann hat sie uns noch von einer Frau erzählt, die sie damals gekannt hat. Roxy.« Er riskierte einen Blick, um Olivias Reaktion zu beobachten. Es war klar, dass sie den Namen kannte, auch wenn sie nichts sagte. Hunter sprach weiter. »Roxy hat Jude gesagt, sie sei keine Prostituierte. Dass sie so was noch nie gemacht hätte, aber dass sie keinen anderen Ausweg mehr wüsste. Sie hatte nämlich ein krankes Kind zu Hause und konnte die Medikamente nicht bezahlen. Sie hatte vor, eine Nacht lang anschaffen zu gehen, um Geld zu verdienen. Sie hat sich für ihr Kind geopfert.« Hunter fixierte Scott. »Sie war keine Nutte. Sie hat es nicht darauf angelegt, und sie hat sich nicht für Geld ficken lassen. Sie war verzweifelt, sie wusste keinen anderen Ausweg, und sie hatte Angst um ihr Kind.«

Olivia stiegen die Tränen in die Augen. »Ich hatte früher Asthma. Ich weiß noch, dass ich als kleines Kind fürchterliche Anfälle hatte. Mit der Zeit ist es besser geworden.«

»Jude hat uns erzählt, dass Roxy auch zu Dupek ins Auto gestiegen ist. Sie hat noch versucht, sie aufzuhalten, kam aber zu spät. Danach hat sie Roxy nie wiedergesehen.«

»Sie hieß Sandra«, sagte Olivia. »Sandra Ellwood. Ich bin Olivia Ellwood.« Sie zog sich wieder hinter Scotts Stuhl zurück und machte sich dort an etwas zu schaffen.

Hunter konnte nicht sehen, was es war.

»Sag’s ihm«, befahl sie Scott durch zusammengebissene Zähne und fuchtelte ihm mit dem Messer vor dem Gesicht herum. »Sag ihm, wie es passiert ist.« Ein Beben ging durch ihren Körper.

Scott starrte sie mit großen Augen an.

Wieder bewegte sie sich blitzschnell. Ehe Scott reagieren konnte, hatte Olivia seinen kleinen Finger gepackt und ihn so weit zurückgebogen, dass der Knochen brach. Das Knacken war so laut, dass selbst Hunter es hören konnte. Scott schrie vor Schmerz auf, und Olivia schlug ihm erneut ins Gesicht. »Sag’s ihm, oder ich breche dir jeden Knochen im Leib, bevor ich anfange, dich in deine Einzelteile zu zerlegen.«

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