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Das berühmte Parker Center hatte seit 1954 als Hauptquartier des Los Angeles Police Department gedient. Im Jahr 2009 war die gesamte Abteilung aus den alten Räumlichkeiten in der North Los Angeles Street Nummer 150 in ein neues, fünfundvierzigtausend Quadratmeter großes Gebäude unmittelbar südlich des Rathauses umgezogen. Das neue Police Administration Building beherbergt über zehn verschiedene Abteilungen des LAPD, unter anderem die Sitte, die Abteilung für Jugendkriminalität, die Abteilung für Wirtschaftsverbrechen, das Drogendezernat sowie das Raub-und Morddezernat. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass es in der Empfangshalle vor Menschen – in Uniform wie in Zivil – nur so wimmelt.

Hunter hatte sie schnell entdeckt. Olivia Nicholson saß in einer der zahlreichen fest installierten Reihen aus Plastikschalensitzen in der Nähe der gläsernen Eingangstür. Sie trug ein konservatives schwarzes Rüschenkleid aus Chiffon zu schwarzen hochhackigen Pumps und stach damit aus der Masse wesentlich derber aussehender Menschen hervor wie ein heller Laserstrahl. Ihre überdimensionierte Sonnenbrille saß hoch oben auf ihrer zierlichen Stupsnase.

»Ms Nicholson.« Hunter streckte ihr zur Begrüßung die Hand hin.

Sie erhob sich, ergriff die dargebotene Hand jedoch nicht. »Detective, können wir reden?«, fragte sie mühsam beherrscht.

»Selbstverständlich.« Hunter ließ die Hand sinken und sah sich rasch in der Lobby um. »Kommen Sie mit, ich finde ein ruhiges Plätzchen für uns.« Er lotste sie durchs Getümmel, öffnete mit Hilfe seiner Chipkarte ein elektronisches Drehkreuz und führte sie tiefer ins Gebäude hinein. Als sie den Lift betraten, schob sich Olivia die Sonnenbrille nach oben in die langen blonden Haare. Ihre Augen waren noch immer gerötet – zu viele Tränen und zu wenig Schlaf. Make-up kaschierte die dunklen Ringe unter ihren Augen, trotzdem sah man ihr die Erschöpfung an. Die Ungewissheit darüber, wer ihren Vater ermordet hatte, fraß an ihren Reserven, das war nur allzu deutlich.

Hunter drückte auf den Knopf für den ersten Stock, in dem der Saal für die Pressekonferenzen und die Besprechungszimmer lagen. Angesichts der Foto-Pinnwand, der Nachbildung der Skulptur und der herumliegenden Fallakten kam ihr Büro als Ort für ein Gespräch definitiv nicht in Betracht. Die Vernehmungsräume in der zweiten Etage mit ihren Metalltischen, kahlen Wänden und großen Spiegeln waren zu beklemmend. Der Saal für die Pressekonferenzen oder einer der kleineren Konferenzräume stellten die wesentlich bessere Wahl dar.

Schweigend fuhren sie im Fahrstuhl nach oben. Dort angekommen, traten sie in einen langen, breiten und hell erleuchteten Gang. Hunter ging voran und probierte die Tür des ersten Besprechungszimmers. Sie war unverschlossen, das Zimmer leer. Er schaltete das Licht ein und bat Olivia herein.

»Was kann ich für Sie tun, Ms Nicholson?«, fragte er und deutete auf einen der fünf Stühle, die um den kleinen rechteckigen Tisch gruppiert waren.

Olivia setzte sich nicht. Stattdessen öffnete sie den Reißverschluss ihrer Handtasche, zog eine Ausgabe der Morgenzeitung hervor und legte sie auf den Tisch. »Hat er mit meinem Vater dasselbe gemacht?« Ihre unteren Augenränder sahen so aus, als würden jeden Augenblick die Tränen überquellen. »Hat der, der ihn getötet hat, aus seinen Gliedmaßen auch so eine widerwärtige Skulptur gemacht?«

Hunter ließ die Arme locker herunterhängen. Er sprach betont ruhig. »In dem Artikel geht es nicht um den Mord an Ihrem Vater.«

»Aber um einen ganz ähnlichen Mord«, gab Olivia zurück, und ihre Stimme war scharf wie ein Messer. »Einen Mord, in dem Sie, diesem Artikel zufolge, ermitteln. Stimmt das?«

Hunter hielt ihrem Blick stand. »Ja.«

»Bezirksstaatsanwalt Bradley hat mir versichert, dass alle ihr Bestes tun, um das Monster dingfest zu machen, das ins Haus meines Vaters eingedrungen ist. Er hat mir versichert, dass die Detectives, die den Fall bearbeiten, die besten in der Abteilung sind und dass sie sich ausschließlich mit dem Mord an meinem Vater befassen. Die einzig logische Erklärung ist also, dass es zwischen den zwei Morden eine Verbindung gibt.« Sie forschte in Hunters Miene nach einer Antwort, fand aber keine. »Bitte beleidigen Sie nicht meine Intelligenz, indem Sie behaupten, dass die Fragen über Bildhauerei, die Sie mir und meiner Schwester vorgestern gestellt haben, mit einem Metallstück von einer Skulptur zusammenhängen, das Sie angeblich im Haus meines Vaters gefunden haben.«

Hunters Miene gab nichts preis. Trotzdem wusste er, dass er aufgeflogen war. »Bitte, Ms Nicholson, setzen Sie sich doch.« Diesmal zog er ihr eigenhändig einen Stuhl zurecht. Das war Phase eins im Umgang mit emotional labilen Personen: einfache, leicht zu befolgende Handlungsanweisungen geben, um den Betroffenen die Angst zu nehmen. Wenn möglich, die Person dazu bringen, sich hinzusetzen, denn im Sitzen sind sowohl Körper als auch Geist entspannter als im Stehen.

»Bitte«, beharrte Hunter.

Endlich gab Olivia nach.

Hunter ging zum Wasserspender in der Ecke, füllte zwei Plastikbecher mit eisgekühltem Wasser und trug sie zum Tisch zurück, bevor er Olivia gegenüber Platz nahm.

Phase zwei sieht vor, dem Betreffenden etwas zu trinken anzubieten. Das kurbelt den Stoffwechsel an, und der Organismus bekommt etwas zu tun, das ihn von einer drohenden Panikattacke ablenkt. Darüber hinaus ist ein kaltes Getränk an einem heißen Tag angenehm erfrischend.

Hunter nahm als Erster einen Schluck von seinem Wasser. Kurz darauf folgte Olivia seinem Beispiel.

»Falls Sie den Eindruck gewonnen haben, ich hätte Sie und Ihre Schwester angelogen, bitte ich um Entschuldigung«, begann Hunter, stets auf Blickkontakt bedacht. »Das war bestimmt nicht meine Absicht.«

»Aber das mit dem Bruchstück von einer Skulptur im Schlafzimmer meines Vaters war doch ganz eindeutig eine Lüge.« Olivia klang tief verletzt.

Hunter nickte. »Die Einzelheiten einer Tat zu kennen oder zu wissen, zu welchen Grausamkeiten ein gestörter Mörder fähig ist, hat noch niemandem dabei geholfen, mit seiner Trauer fertig zu werden. Oft tritt das genaue Gegenteil ein, Ms Nicholson, das können Sie mir glauben. Ich habe es oft genug erlebt. Die Fragen, die ich Ihnen und Ihrer Schwester an dem Tag stellen musste, waren schon schwer genug für Sie. Es bestand kein Grund, es noch schlimmer zu machen. Ihre Antworten wären nicht anders ausgefallen, wenn ich Ihnen die Wahrheit über die Skulptur gesagt hätte.«

Olivia trank erneut von ihrem Wasser, stellte den Becher dann auf den Tisch und hielt den Blick darauf gerichtet. Offenbar wollte sie genau nachdenken, bevor sie weitersprach. »Was war es?«, fragte sie schließlich.

Hunter sah sie an, als verstehe er nicht, was sie meinte.

»Was war das für eine Skulptur? Was hat er aus den …« Sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen. In ihren Augen glitzerten Tränen.

»Es ließ sich nicht näher identifizieren«, antwortete Hunter. »Irgendein formloses Gebilde.«

»Hatte es irgendeine Bedeutung?«

Das Letzte, was Hunter wollte, war Olivias Leiden noch weiter zu vergrößern, aber er sah keinen anderen Ausweg. Er musste schon wieder lügen. Er durfte die Ermittlungen nicht gefährden, und es gab keine Beweise, dass das, was Alice herausgefunden hatte, tatsächlich der wahren Bedeutung der Schattenbilder entsprach. »Falls ja, haben wir keine Ahnung, welche.«

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