Hunter zog den Atemschutz über Nase und Mund und stellte sich rechts neben einen der beiden Sektionstische im Speziellen Sektionssaal 1. Garcia stand dicht hinter ihm, die Arme vor der Brust verschränkt und die Schultern nach vorn gebeugt, als wollte er sich vor einem eisigen Wind schützen.
Wie immer war der Raum trotz der sommerlichen Wärme draußen zu kalt; trotz des grellen Lichts der OP-Lampen und Halogenröhren zu düster; und zu makaber, mit seinen Tischen und Arbeitsflächen aus rostfreiem Stahl, der klinischen Reinheit, dem Wabengeflecht aus Kühlzellen und der abschreckenden Auslage laserscharfer Schneidinstrumente.
»Die Maske ist nicht nötig, Robert«, sagte Dr. Hove, und der Schatten eines Lächelns zuckte um ihre Mundwinkel. »Es besteht kein Infektionsrisiko, und eigentlich riecht die Leiche auch nicht.« Sie zögerte, während die ihre Worte überdachte. »Vielleicht ein bisschen.«
Jede Leiche riecht aufgrund der natürlichen Zersetzung des Gewebes und des rasanten Bakterienwachstums, das nach dem Tod einsetzt. Allerdinge hatte dieser Geruch Hunter noch nie gestört. Alle Leichen wurden vor der Sektion gründlich gewaschen, danach war der Geruch kaum noch wahrnehmbar.
»Ihnen ist schon klar, dass Ihr Geruchssinn so tot ist wie ein Brathähnchen, oder, Doc?«, gab Hunter zurück, während er sich ein Paar Latexhandschuhe überstreifte.
»Mein Mann sagt mir das jedes Mal, wenn ich koche.« Erneut lächelte die Rechtsmedizinerin, um dann die Aufmerksamkeit der beiden Detectives auf die zwei Sektionstische zu lenken. Auf dem einen lag Dupeks verstümmelter Torso, auf dem anderen sein Kopf neben den abgetrennten Gliedmaßen. Diesen Tisch nahm sich Dr. Hove als Erstes vor.
»Die offizielle Todesursache war Herzversagen aufgrund des Blutverlusts. Genau wie bei unserem ersten Opfer.«
Hunter und Garcia nahmen dies mit einem Nicken zur Kenntnis. Hove fuhr fort.
»Ich habe die Schnittmarken mit denen beim ersten Opfer verglichen. Sie stimmen überein. Der Täter hat dasselbe Schneidinstrument benutzt.«
»Das elektrische Tranchiermesser?«, fragte Garcia.
Dr. Hove nickte. »Aber diesmal ist der Täter ein wenig anders vorgegangen.«
»Inwiefern?«, fragte Hunter und ging um den Tisch herum.
»Er hat sich die Zeit genommen, die Blutung ordnungsgemäß zu stillen. Die Amputation der Füße trägt alle Merkmale einer korrekt ausgeführten Syme-Exartikulation.«
»Einer was?«, fragte Garcia.
»Das ist eine Methode zur Amputation des Fußes im Sprunggelenk, benannt nach James Syme«, klärte Dr. Hove ihn auf. »Syme war im neunzehnten Jahrhundert Professor für klinische Chirurgie an der University of Edinburgh. Er hat eine Methode zur Fußamputation entwickelt, die heute noch Anwendung findet. Wie auch immer – die Schnitte gehen sauber durch die Knöchelgelenke. So wie bei einer Syme-Exartikulation vorgesehen, wurden die großen Blutgefäße durchstochen und ligiert. Jedenfalls so gut wie möglich, man darf ja nicht vergessen, dass der gesamte Eingriff in einer Bootskajüte und ohne OP-Team stattfand. Normalerweise werden kleinere Blutgefäße während des Eingriffs elektrokauterisiert, aber damit hat sich der Täter nicht aufgehalten. Entweder weil er nicht die entsprechenden Gerätschaften zur Verfügung hatte oder …«
»Weil dazu keine Notwendigkeit bestand«, beendete Hunter den Satz. »Er wusste ja, dass das Opfer innerhalb weniger Stunden, vielleicht Minuten, tot sein würde. Er wollte bloß verhindern, dass er zu viel Blut auf einmal verliert und ihm sofort wegstirbt.«
»Dem würde ich zustimmen«, sagte Hove. »Die Füße wurden definitiv als Erstes amputiert. Der Täter hat den Stumpf mit einem Kompressionsverband aus Mull umwickelt, der von einem elastischen Fixierstrumpf gehalten wurde. Saubere Arbeit.«
»Sauber im Sinne von professionell?«, fragte Garcia.
»Das muss man wohl so sagen, ja. Aber vorher hat er die Wunden noch mit Cayennepfeffer bestäubt.«
»Cayennepfeffer?« Garcia zog die Brauen zusammen. Er überlegte kurz. »Ach du meine Güte!«
Sofort erinnerte sich Hunter an den seltsamen beißenden Geruch, der ihm in der Kajüte in die Nase gestiegen war. Er war sich sicher gewesen, ihn schon einmal gerochen zu haben, allerdings hatte er ihn zu dem Zeitpunkt nicht identifizieren können. »Der Cayennepfeffer hat nicht dazu gedient, die Schmerzen zu vergrößern«, sagte er. Er hatte sofort verstanden, was sein Partner vermutete, konnte seinen Verdacht jedoch zerstreuen. »Sondern um die Blutung zu stillen.«
»Wie bitte?«
»Robert hat recht«, bestätigte Dr. Hove. »Cayennepfeffer wird seit langem als natürliches Heilmittel eingesetzt. Genauer gesagt als Blutgerinnungsmittel.«
Garcias Blick glitt zu Dupeks abgetrennten Füßen auf dem Sektionstisch. »So wie Kaffeepulver?«
»Ja, Kaffeepulver hat eine ganz ähnliche Wirkung«, sagte Dr. Hove. »Beide Stoffe reagieren mit dem Körper und regulieren den Blutdruck, so dass der Blutfluss im Wundbereich vermindert wird. Ist der Blutdruck erst einmal ausgeglichen, koaguliert das Blut in der Regel recht schnell. Es ist eine traditionelle Methode, aber wirkungsvoll. Die Verbände wurden bereits zur Analyse ins Labor geschickt.«
»Hat der Täter sich bei den anderen Amputationen auch so viel Mühe gegeben?«, wollte Garcia wissen.
Dr. Hove neigte den Kopf zur Seite und verzog den Mund. »Im Wesentlichen schon. Die Arterien und Hauptvenen in den Armen wurden ebenfalls mit einem dicken Faden ligiert, allerdings wurden die Wunden nicht verbunden, falls Sie sich noch daran erinnern. Und anders als bei den Fußamputationen wurde hier auch kein Cayennepfeffer eingesetzt, um die Blutgerinnung zu beschleunigen. Aber insgesamt hat der Täter durch seine Maßnahmen mit Sicherheit das Ausbluten des Opfers verzögert.«
»Tox-Ergebnisse gibt es wohl noch nicht?«, fragte Hunter.
»Nein, das dauert noch. Morgen oder übermorgen vielleicht. Meine Vermutung ist, dass wir dieselben herzschlagregulierenden Präparate finden werden, die der Täter schon seinem ersten Opfer verabreicht hat.«
Hunter vermutete dasselbe, trotzdem war da etwas an Hoves Verhalten, das ihn misstrauisch machte. Irgendetwas schien ihr sehr zuzusetzen. »Gibt es sonst noch was?«, fragte er ins Blaue hinein.
Dr. Hove holte tief Luft und vergrub die Hände in den Taschen ihres langen, weißen Kittels. »Sie wissen, dass ich schon lange in der Rechtsmedizin arbeite, Robert. Und wenn man in einer Stadt wie L. A. Rechtsmedizinerin ist, gewöhnt man sich schnell daran, mehr oder weniger täglich mit dem Schlimmsten konfrontiert zu werden, was die menschliche Natur zu bieten hat. Aber eins sage ich Ihnen hier und jetzt: Wenn es so was gibt wie das absolute Böse oder einen Dämon in Menschengestalt, dann ist es dieser Mörder. Ganz im Ernst, es würde mich nicht wundern, wenn Sie bei seiner Verhaftung feststellen, dass er Hörner hat.«
Die Worte ließen Hunter und Garcia innehalten. Wie ein immer wiederkehrender Alptraum erschien das Schattenbild der Skulptur aus Dupeks Kajüte vor ihrem inneren Auge.
»Warten Sie mal.« Garcia hob die Hand, bevor er einen flüchtigen, beunruhigten Blick mit Hunter tauschte. »Wie kommen Sie denn auf so was, Doc?«
Die Rechtsmedizinerin drehte sich um. »Ich zeige es Ihnen.«