27

Die anderen folgten Garcias Blick.

Neben der Küchenecke im hinteren Teil der Kajüte saß auf einem Holzstuhl eine nackte männliche Leiche. Sie hatte weder Kopf noch Arme und war über und über mit Blut bedeckt. Ihre Knie waren leicht angewinkelt, so dass sich die Waden unterhalb des Stuhls befanden. Die Füße waren an den Knöcheln abgetrennt worden.

Hunter sah den Kopf als Erster. Er stand hinter einer Topfpflanze auf einem niedrigen Tischchen. Der Mund war weit offen, als wäre er im Begriff gewesen, einen letzten Entsetzensschrei auszustoßen. Die milchig eingetrübten Augen waren in ihre Höhlen gesunken, was darauf hindeutete, dass Dupek seit mindestens einer Stunde tot war. Doch der Ausdruck in ihnen war noch immer lebendig: starr, ungläubig, angsterfüllt. Hunter folgte der Blickachse und stieß auf das, wovor sie sich alle gefürchtet hatten: eine neue Skulptur, geschaffen aus den Gliedmaßen des Toten. Sie stand in einer Ecke auf der Frühstückstheke.

Garcia und Dr. Hove brauchten eine Weile, bis sie sie entdeckt hatten.

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es Garcia. Der Strahl seiner Taschenlampe glitt über die Skulptur.

»Die Antwort auf meine Frage von eben lautet dann wohl: Ja, es ist derselbe Täter«, murmelte Hove.

Hunter richtete seine Maglite auf den Fußboden, und nacheinander betraten sie den Raum, wobei sie darauf achteten, die Blutlachen weitestgehend zu meiden. Plötzlich nahm Hunter ein seltsames, beißendes Aroma in der Luft wahr. Er kannte es, aber der Cocktail an Gerüchen in der Kajüte machte es ihm unmöglich, es zu identifizieren.

»Können wir Licht anmachen, Doc?«, fragte Garcia.

»M-hm.« Sie nickte.

Garcia betätigte den Schalter an der Wand.

Die Deckenlampe flackerte zweimal, bevor sie anging. Sie spendete nur unwesentlich mehr Helligkeit als die Kerzen.

Dr. Hove ging gleich hinter der Tür in die Hocke. Ihre Aufmerksamkeit galt der ersten großen Blutlache. Sie tippte mit der Spitze des Zeigefingers hinein und rieb sie dann gegen den Daumen, um die Viskosität zu prüfen. Der strenge, metallische Geruch des Blutes brannte ihr in der Nase, doch sie blieb gefasst. Sie richtete sich wieder auf und ging an den Wänden entlang zum Stuhl, auf dem die kopflose, verstümmelte Leiche saß.

Hunters Interesse wiederum galt dem Couchtisch, auf dem der Täter den Kopf des Toten platziert hatte. Nackte Angst spiegelte sich in Dupeks Zügen, und die blutigen Schlieren in seinem Gesicht sahen aus wie Kriegsbemalung. Hunter beugte sich vor, um in den Mund zu schauen. Anders als beim ersten Mordopfer hatte der Täter Dupek nicht die Zunge herausgeschnitten. Zwar war sie tief nach hinten in den Schlund gerutscht, so dass sie fast die Mandeln berührte, aber sie war noch da. Dupeks linke Gesichtshälfte wies eine schwere Verletzung auf. Am Kiefer war eine offene Fraktur zu erkennen, dort stach ein fünf Millimeter breiter, blutiger Knochensplitter durch die Haut.

»Die Totenstarre hat noch nicht eingesetzt«, meldete die Rechtsmedizinerin. »Ich würde sagen, er ist seit weniger als drei Stunden tot.«

»Der Täter wollte, dass wir das Opfer möglichst schnell finden«, gab Hunter zurück.

Das brachte ihm einen fragenden Blick von Dr. Hove ein.

»Der Officer, der als Erster am Tatort war, sagte, es sei sehr laute Rockmusik auf der Stereoanlage gelaufen.«

»Hat der Täter sie eingeschaltet?«

»Wer sonst?«, fragte Garcia. »Er wollte, dass jemand auf das Boot aufmerksam wird. Es war ja klar, dass früher oder später jemand herkommen und sich beschweren würde.«

»Genau.« Hunter ging zurück zum Kajüteneingang. Es war genau, wie Officer Rogers gesagt hatte: Auf einem Stuhl neben der Tür lag eine schlanke schwarze Fernbedienung. »Der Officer meinte, Song drei sei auf Repeat gelaufen.«

»Nur der dritte?« Hove sah sich suchend um und entdeckte schließlich die Stereoanlage hinten auf der Frühstückstheke.

»Das waren seine Worte.«

»Na, dann hören wir doch mal rein«, schlug sie vor.

Hunter wählte den dritten Song und drückte auf »Play«.

Ohrenbetäubende Musik erfüllte den Raum. Zuerst Bassgitarre, dann Schlagzeug, rasch gefolgt von Keyboard. Wenige Takte später setzten E-Gitarren und Gesang ein.

»Verdammt, ist das laut!«, rief Garcia und presste sich die Hände auf die Ohren.

Dr. Hove verzog das Gesicht.

Hunter stellte die Musik leiser, ließ sie aber weiterlaufen.

»Den Song kenne ich«, sagte die Rechtsmedizinerin und dachte nach, die Stirn gerunzelt.

Hunter nickte. »Der ist von Faith No More. Offenbar hat unser Killer einen Sinn für Humor.«

»Inwiefern?«, wollte Garcia wissen.

»Das ist einer ihrer berühmtesten Songs«, klärte Hunter seinen Partner auf. »Ziemlich alt – späte Achtzigerjahre, wenn mich nicht alles täuscht. Er heißt ›Falling to Pieces‹. Im Refrain geht es um jemanden, der in Stücke fällt und wieder zusammengesetzt werden möchte. Im übertragenen Sinne natürlich.«

Garcia und Dr. Hove tauschten einen Blick.

»Gleich kommt die Stelle«, sagte Hunter. »Ihr könnt euch selbst davon überzeugen.«

Instinktiv drehten sich Garcia und Hove mit dem Ohr zur Stereoanlage. Sobald der Refrain zu Ende war, drückte Hunter die Stopptaste.

Einen Moment lang herrschte Stille.

»Woher wussten Sie das?«, fragte Dr. Hove. »Und jetzt sagen Sie bloß nicht, Sie lesen viel.«

Hunter hob die Schultern. »Ich mag Rockmusik. Das Album habe ich früher rauf und runter gehört.«

»Der Kerl hat doch einen Knall«, verkündete Garcia und machte einen Schritt rückwärts. »Wie verstrahlt muss man sein, um so was hier zu veranstalten …«, er hob die Hände und sah sich in der Kajüte um, »… und dann noch Witze darüber zu machen?«

Weder Hunter noch Dr. Hove gaben darauf eine Antwort.

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