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Statt in Venice Beach Volleyball zu spielen oder sich die Dodgers anzusehen, verbrachte Hunter den restlichen Tag mit der Sichtung der Tatortfotos. Es war eine zeitraubende Angelegenheit, und die ganze Zeit hindurch quälte ihn dabei eine Frage:

Was um alles in der Welt ist der Sinn hinter dieser Skulptur?

Er beschloss, noch einmal zu Derek Nicholsons Haus zu fahren.

Die Leiche, ebenso wie das makabre Kunstwerk, war ins Rechtsmedizinische Institut gebracht worden. Alles, was blieb, war ein leeres Haus voller Trauer, Schmerz und Angst. Derek Nicholsons letzte Stunden waren in Blut an die Wände seines Schlafzimmers geschrieben, und Hunter las darin nur eins: unvorstellbare Qualen.

Er starrte auf die Botschaft, die der Täter hinterlassen hatte, und in seinem Innern tat sich ein gähnendes Loch auf. Der Täter hatte Derek Nicholson getötet und dabei noch drei weitere Leben zerstört: die von Nicholsons Töchtern und das der jungen Pflegeschülerin.

Die Spurensicherung hatte Fingerabdrücke von mindestens vier verschiedenen Personen im Haus gefunden, deren Analyse noch ein bis zwei Tage dauern würde. Darüber hinaus waren im Schlafzimmer im ersten Stock diverse Haare und Faserproben sichergestellt worden. Die mehrstündige Untersuchung des Gartens sowie des Rankgerüsts an der Wand unterhalb von Derek Nicholsons Schlafzimmer hatte keine Ergebnisse geliefert. Es gab keine Spuren gewaltsamen Eindringens. Kein Fenster war eingeschlagen, keine Tür, kein Fensterrahmen oder Schloss beschädigt worden. Allerdings waren zwei der Fenster im Erdgeschoss über Nacht nicht verriegelt gewesen, und die Balkontür zu Mr Nicholsons Schlafzimmer hatte einen Spaltbreit offen gestanden.

Hunter hatte versucht, mit Melinda Wallis zu reden, aber was Garcia bereits vermutet hatte, war eingetroffen: Sie hatte dichtgemacht. Sie war die Unglückliche, die Derek Nicholsons Leiche in seinem blutgetränkten Schlafzimmer aufgefunden hatte. Ihr Verstand tat sich schwer, diesen Schock zu verarbeiten. Und noch mehr Mühe hatte er, die Gewissheit zu verdrängen, dass sie selbst nur um Haaresbreite dem Tod entkommen war.

Bei seinem zweiten Besuch am Tatort konzentrierte sich Hunter ganz auf das Schlafzimmer, wo er nach Hinweisen suchte, die er beim ersten Mal womöglich übersehen hatte. Er fand nichts, was die Spurensicherung nicht schon vor ihm gefunden hätte, aber die Brutalität der Szene erschütterte ihn aufs Neue. Es war, als hätte der Täter sich absichtlich bemüht, das Blut im ganzen Raum zu verteilen.

Die Botschaft an der Wand war nicht Teil seines ursprünglichen Plans gewesen, sondern ein spontaner Akt dreister Provokation. Der gesamte Tatort schien wie ein Schaufenster, durch das man die rasende, sinnlose Wut des Mörders betrachten konnte, und das machte Hunter zu schaffen.

Es war bereits dunkel, als er wieder in seine Wohnung kam. Er schloss die Tür hinter sich und lehnte sich erschöpft dagegen. Sein Blick glitt durchs dunkle, verlassen daliegende Wohnzimmer, und er fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee war, diese Nacht zu Hause zu verbringen.

Hunter lebte allein, hatte weder Frau noch Freundin. Er war nie verheiratet gewesen, und keine seiner Beziehungen hatte sonderlich lange gehalten. Auf Dauer kamen die meisten Frauen nicht damit klar, dass sein Beruf ihm so viel abverlangte. Es machte ihm nichts aus, Single zu sein, und allein zu leben störte ihn auch nicht. Aber nach einem Tag, den er zum Großteil umgeben von Tod und bluttriefenden Wänden verbracht hatte, war die Einsamkeit seines kleinen Apartments mehr, als er ertragen konnte.

Das Nachtleben von Los Angeles gehört zu den lebendigsten und aufregendsten der Welt, und die Bandbreite der Vergnügungen ist groß. Sie reicht von luxuriösen, trendigen Clubs, in denen sich die A-Liga der Hollywood-Prominenz tummelt, bis hin zu kleinen Bars, zwielichtigen Untergrund-Kneipen und den Oasen der Ausgeflippten. Ganz gleich in welcher Stimmung man gerade ist, in L. A. findet man garantiert die dazu passende Lokalität.

Hunter machte sich auf den Weg zu Jay’s Rock Bar, die nur zwei Blocks von seiner Wohnung entfernt lag. Es war eine seiner Lieblingskneipen mit einer erstklassigen Auswahl an Scotch, einer Jukebox voller Rockmusik und freundlichen, quirligen Kellnerinnen.

Hunter setzte sich an die Theke und bestellte einen doppelten zwölf Jahre alten Glendronach mit zwei Eiswürfeln. Single Malt Scotch Whisky war seine größte Leidenschaft, und obwohl er das eine oder andere Mal über den Durst getrunken hatte, verstand er es, den Geschmack und die Qualität eines Whiskys zu würdigen, statt sich lediglich damit zu betrinken.

Hunter nippte an seinem Whisky und wartete, bis sich das weiche Aroma von Haselnuss und Eiche in seinem Mund entfaltet hatte. Es herrschte reger Betrieb in der Bar, und nach allem, was er an diesem Tag gesehen hatte, war er froh, unter Menschen zu sein, die lachten und das Leben genossen.

Unweit von Hunter saßen vier Frauen an einem Tisch und tauschten sich gerade über die schlechtesten Anmachsprüche aus, die sie je von Männern zu hören bekommen hatten.

»Ich war mal in einer Bar in Santa Monica«, sagte eine der vier, eine Frau mit kurzen blonden Haaren. »Da ist dieser Glatzkopf auf mich zugekommen und meinte …«, das Folgende sagte sie in einem tiefen Bariton, »›Baby, für dich lasse ich mich in Fred umtaufen, denn du machst mich heiß wie Feuer und hart wie Stein.‹«

Zwei Sekunden geschocktes Schweigen, dann schallendes Gelächter.

»Das ist so was von lahm«, sagte die Jüngste der Runde. »Aber ich habe noch einen besseren. Letztes Wochenende war ich am Sunset Boulevard unterwegs, und jemand hat mich am helllichten Tag auf offener Straße angehalten und gesagt: ›Ist dein Name zufällig Gilette? Du siehst nämlich so aus, als wärst du für das Beste im Mann.‹«

Erneut lachte die Gruppe.

»Okay, okay«, meldete sich eine langhaarige Brünette zu Wort. »Der kriegt definitiv den Preis für den dümmsten Anmachspruch aller Zeiten. So was Schlechtes habe ich meinen ganzen Lebtag noch nicht gehört.«

Hunter, der ihre Meinung teilte, lächelte vor sich hin. Es war das erste Mal an diesem Tag.

»Nachschub?«, fragte Emilio, der junge puerto-ricanische Barkeeper, wobei er mit dem Kinn auf Hunters leeres Glas deutete.

Hunter riss sich von der Unterhaltung der vier Frauen los, warf einen kurzen Blick auf Emilio und dann in sein Glas. Er war müde, wusste aber, dass er, wenn er jetzt nach Hause ginge, keinen Schlaf finden würde. Er schlief ohnehin kaum. Dafür sorgte seine Hyposomnie.

»Sicher, warum nicht.«

Emilio schenkte ihm noch einen doppelten Whisky ein und ließ einen frischen Eiswürfel ins Glas fallen. Hunter sah zu, wie er knackend zersprang, sobald er mit der goldenen Flüssigkeit in Berührung kam. Ein Mann im zerbeulten grauen Anzug, der am Ende des Tresens saß, hustete einen heiseren Raucherhusten, und Hunters Gedanken wanderten zurück zu Derek Nicholson und dem Mordfall. Warum tötete man jemanden, der schon bald an Lungenkrebs sterben würde? Jemanden, der so oder so zu einem qualvollen Tod verdammt war? Ein Monat, vielleicht zwei, und der Krebs hätte dem Mörder die Arbeit abgenommen. Doch das hatte der Täter offenbar nicht zulassen können … oder wollen. Er selbst wollte die Entscheidung über Nicholsons Tod in der Hand haben. Wollte ihm beim Sterben in die Augen schauen. Gott spielen.

Hunter trank einen Schluck und schloss die Augen. Er hatte ein mieses Gefühl, was diesen Fall anging. Ein ganz mieses.

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