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Hunter sah keinen Sinn darin, Olivia und Allison noch länger in ihrer Trauer zu stören. Allerdings hatten sie mit ihrer Aussage seine Neugier geweckt, weshalb er vor Feierabend unbedingt noch einmal zu Derek Nicholsons Haus zurückkehren und im Arbeitszimmer einen Blick auf die vier anderen Skulpturen werfen wollte, die Lindsay Nicholson, Dereks verstorbene Frau, angefertigt hatte.

»Kompliment für dein Pokerface eben«, meinte Garcia, als sie wieder ins Auto stiegen. »Ein kleines Stück Metall, das der Täter zurückgelassen hat und das möglicherweise von einer Skulptur stammt? Wie einfallsreich. Ich hätte dir selber fast geglaubt. Aber eins möchte ich doch zu gerne wissen: Was, wenn ihre Mutter auch Skulpturen aus Metall gemacht hätte?«

»Eher unwahrscheinlich«, gab Hunter zurück, während er den Sicherheitsgurt anlegte.

»Wieso?«

»Die meisten Bildhauer, erst recht solche, die es nur als Hobby betreiben, arbeiten immer mit demselben Material, weil sie sich damit auskennen. Die wenigen, die unterschiedliche Materialien verwenden, wechseln nur selten von einem weichen, formbaren Material wie Ton zu einem harten Material wie Metall. Das erfordert eine ganz andere Bearbeitungstechnik.«

Garcia betrachtete seinen Partner mit verdutztem Gesicht. »Ich habe dich nie für einen Kunstkenner gehalten.«

»Bin ich auch nicht. Ich lese bloß viel.«

Hunter war bisher nur einmal kurz in Derek Nicholsons Arbeitszimmer gewesen. Dort hatte Melinda Wallis gesessen, als er am Morgen des Vortages an den Tatort gekommen war. Am Abend, bei seinem zweiten Besuch, hatte seine Aufmerksamkeit ausschließlich dem Schlafzimmer im ersten Stock gegolten.

Die Fahrt nach Cheviot Hills dauerte nur zehn Minuten. Sie sperrten die Eingangstür auf und betraten ein Haus, in dem früher einmal eine glückliche Familie gelebt hatte. Nun war es auf ewig durch einen brutalen Mord vergiftet. Jede freudige Erinnerung, die diese Wände bargen, war durch einen einzigen Akt des Bösen für immer ausgelöscht.

Die Luft im Haus war warm und muffig, und es schwebte eine charakteristische Mischung von Gerüchen darin. Garcia rieb sich die Nase, räusperte sich mehrmals und ließ seinem Partner den Vortritt.

Hunter öffnete die Tür zu einem langgestreckten, holzgetäfelten Zimmer, in dem an zwei Wänden Bücherregale standen. Vom Aussehen her erinnerte der Raum mit seinem wuchtigen Schreibtisch, den bequemen Sesseln und dem stockigen Geruch alter, in Leder gebundener Bücher an ein Richterzimmer.

Die vier von Olivia erwähnten Skulpturen fielen ihnen sofort ins Auge. Zwei standen in den Bücherregalen, eine auf Derek Nicholsons Schreibtisch, die vierte auf einem Tischchen neben einem whiskyfarbenen Ledersessel. Obwohl sie ungewöhnlich aussahen, hatte keine von ihnen auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit dem monströsen Kunstwerk, das der Mörder ihnen hinterlassen hatte.

»Na ja, wenigstens wissen wir jetzt, dass der Täter nicht die Absicht hatte, eine von denen hier nachzubilden«, sagte Garcia und stellte die Skulptur, die er in der Hand gehabt hatte, zurück auf den Beistelltisch. »Der Himmel weiß, was seine Absicht war.«

Hunter hatte sich alle Skulpturen angesehen und studierte nun einige der Bücher im Regal. Die überwiegende Mehrheit waren Abhandlungen über Strafrecht, allerdings gab es auch eine Handvoll Bände zum Thema Töpferei und Keramik. Zwei von ihnen beschäftigten sich mit zeitgenössischer Bildhauerei. Hunter zog eins der Bücher aus dem Regal und blätterte die ersten Seiten um.

»Meinst du, der Mord könnte tatsächlich mit dem zu tun haben, was er zu seiner Pflegerin gesagt hat?«, wollte Garcia wissen. »Dass er sich mit jemandem aussprechen und über irgendwas die Wahrheit sagen wollte?«

»Ich weiß es nicht genau. Alles, was ich weiß, ist, dass jeder Geheimnisse hat, von denen einige mehr, andere weniger wichtig sind. Derek Nicholsons Geheimnis war ihm offenbar so wichtig und hat ihm so schwer auf der Seele gelegen, dass er nicht sterben wollte, ohne sich zuvor davon zu befreien. Ohne ›seinen Frieden zu machen‹.« Hunter zeichnete mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft.

»Und das muss was zu bedeuten haben, stimmt’s?«, sagte Garcia.

»Das muss was zu bedeuten haben«, pflichtete Hunter ihm bei. »Leider wissen wir nicht, ob er es auch tatsächlich getan hat. Sich ausgesprochen, meine ich.«

»Amy zufolge hat er irgendwann zwischen der ersten und zweiten Woche mit ihr darüber gesprochen. Und es sieht ja so aus, als hätte er, wenn man die Pflegeschülerin und seine zwei Töchter einmal ausklammert, danach lediglich noch zu zwei weiteren Personen Kontakt gehabt.«

Hunter nickte. »Zu Bezirksstaatsanwalt Bradley und zu unserem mysteriösen, eins achtzig großen braunäugigen Fremden.« Er stellte das Buch ins Regal zurück und nahm sich das zweite vor. »Vielleicht kennt der Bezirksstaatsanwalt ihn ja. Ich werde morgen mal versuchen, mit ihm zu sprechen.«

»Amy Dawson hatte ein Zimmer im ersten Stock«, sagte Garcia. »Aber Melinda hat in der Gästewohnung über der Garage gewohnt, weiter weg vom Haus. Es ist kein Zufall, dass der Täter sich für den Mord eine Nacht am Wochenende ausgesucht hat, oder?«

»Nein.« Ohne bestimmten Grund glitt Hunters Blick zur Decke und dann zu den Wänden. »Irgendwie muss sich der Täter mit den Abläufen hier im Haus ausgekannt haben. Er wusste, wer wann kam und ging. Er wusste, dass Derek Nicholsons Töchter ihren Vater jeden Tag für ein paar Stunden besucht haben, aber jedes Mal wieder nach Hause gefahren sind. Er wusste, wann Nicholson allein war und wann er am besten zuschlagen konnte. Vielleicht wusste er sogar, dass die Alarmanlage meistens ausgeschaltet war oder dass Derek Nicholson eine Abneigung gegen Klimaanlagen hatte und deshalb die Balkontür zu seinem Zimmer zu dieser Jahreszeit höchstwahrscheinlich offen stehen würde.«

»Was bedeuten muss, dass der Täter das Haus beobachtet hat«, konstatierte Garcia. »Und nicht nur einen Tag lang.«

Hunter wiegte den Kopf hin und her, als sei er mit Garcias Schlussfolgerung nicht ganz einverstanden.

»Du glaubst, da steckt noch mehr dahinter, oder?«, sagte Garcia.

Hunter nickte. »Ich glaube, der Killer war schon mal hier. Ich glaube, der Killer kannte die Familie.«

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