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Garcia zog ein DIN-A4-Blatt aus der Mappe und gab es Hunter.

»Sands’ Besuchsprotokolle sind nicht weiter bemerkenswert. Während der ersten sechs Jahre seiner Haft hat er vier Besuche pro Jahr bekommen, alle von derselben Person.«

Hunter sah nach. »Seiner Mutter.«

»Genau. Sein Vater hat ihn nie besucht, aber das ist angesichts ihrer Beziehung ja auch nicht weiter verwunderlich. Während der restlichen dreieinhalb Jahre hatte Sands dann keinen Besuch mehr.«

»Er war wohl nicht sehr beliebt, was?«

»Nicht wirklich. Sein einziger richtiger Freund war Ortega, und der saß in San Quentin.«

»Zellengenossen?«, fragte Hunter.

»So ein harter Hund namens Guri Krasniqi«, antwortete Alice.

»Albaner, einer der großen Bandenchefs.« Hunter nickte. »Habe von ihm gehört.«

»Genau der war es.«

Garcia lachte leise. »Tja, wahrscheinlich sind die Chancen größer, auf dem Weg aus dem Büro in Einhornkacke zu treten, als einen albanischen Gangsterkönig zum Reden zu bringen.«

Auch wenn Garcias Bemerkung als Scherz gemeint war, traf sie im Kern zu, darüber machte sich Hunter keine Illusionen.

»Im sechsten Jahr seiner Haft hat Ken Sands gleich zwei Schicksalsschläge erlitten«, führte Alice ihren Bericht fort. »Zuerst wurde Ortega nach sechzehn Jahren im Todestrakt per Giftspritze hingerichtet. Ein halbes Jahr später ist Sands’ Mutter an einer Gehirnblutung gestorben. Deswegen haben auch die Besuche aufgehört. Man hat ihm erlaubt, zur Beisetzung zu gehen – natürlich schwer bewacht. Es waren insgesamt nur zehn Trauergäste da, unter anderem sein Vater, aber mit dem hat Sands kein Wort gesprochen. Angeblich war er völlig emotionslos. Keine einzige Träne.«

Das wunderte Hunter nicht. Ken Sands hatte einen Ruf als knallharter Schlägertyp, für Kerle wie ihn war Stolz alles. Niemals hätte er seinem Vater oder den Wachen die Genugtuung verschafft, ihn dabei zu sehen, wie er litt oder gar weinte, nicht einmal am Grab seiner Mutter. Falls er Tränen vergossen hatte, dann in der Abgeschiedenheit seiner Zelle.

Garcia stand auf und ging bis zur Mitte des Raums. »Okay, das ist alles schon ganz interessant – aber nicht so interessant wie das, was jetzt kommt.« Er deutete mit dem Kinn auf die Akte in seinen Händen. »Du weißt ja sicher, dass die Gefängnisse als Rehabilitationsanstalten ihren Insassen die Möglichkeit bieten, verschiedene Kurse zu belegen, eine Lehre zu machen oder einer Arbeit nachzugehen. Sie nennen das edukativ-berufliche Programmierung. Ihrem Leitbild zufolge soll das Ganze bei den Insassen Produktivität, Verantwortungsbewusstsein und den Willen zur Selbstvervollkommnung fördern. Obwohl es in der Realität nicht immer ganz so erfolgreich funktioniert.«

»Aha.« Hunter verschränkte die Arme vor der Brust.

»Einige Häftlinge dürfen auch, sofern sie einen entsprechenden Antrag stellen und dieser bewilligt wird, an Fernkursen teilnehmen. Mehrere Universitäten in den Vereinigten Staaten sind Kooperationspartner des Programms und bieten eine ganze Bandbreite von Studiengängen an.«

»Sands hat so ein Fernstudium gemacht«, schlussfolgerte Hunter.

»Er hat zwei gemacht. Und beide abgeschlossen.«

Hunter hob verblüfft die Brauen.

»Sands hat einen Abschluss in Psychologie vom College of Arts and Sciences, das gehört zur American University in Washington, DC, und …«, Garcia warf Alice einen Blick zu und machte eine bedeutungsvolle Pause, »… einen in Gesundheits-und Krankenpflege von der University of Massachusetts. Um das Examen zu machen, braucht man keine Praxiserfahrung im Umgang mit Patienten, allerdings hätte er im Rahmen des Studiengangs die Erlaubnis gehabt, medizinische Fachbücher anzufordern. Bücher, die die Gefängnisbibliothek nicht im regulären Bestand hatte.«

Hunter spürte, wie es in seinem ganzen Körper zu kribbeln begann.

»Weißt du noch«, warf Alice ein, »wie ich gesagt habe, dass Sands’ Schulnoten wesentlich besser waren, als man von einem Problemkind wie ihm erwartet hätte?«

»Ja.«

»Er hat beide Examen mit Bestnoten bestanden. Lobende Erwähnung bei seinem Abschluss in Psychologie und herausragende Noten während seines gesamten Krankenpflege-Studiums.« Sie begann mit dem silbernen Bettelarmband zu spielen, das sie am rechten Handgelenk trug. »Wenn wir also nach jemandem suchen, der über medizinische Fachkenntnisse verfügt, ist Sands ein klarer Anwärter.« Alice trank erneut einen Schluck von ihrem Kaffee, während sie Hunter vielsagend ansah. »Aber das ist immer noch nicht alles.«

Hunter warf Garcia einen fragenden Blick zu.

Dieser führte den Vortrag weiter. »Den Gefängnisinsassen wird die Gestaltung ihrer Freizeit in der Regel nicht selbst überlassen. Alle werden dazu angehalten, sich in irgendeiner Weise sinnvoll zu betätigen: mit Lesen, Malen oder was auch immer. Das Staatsgefängnis in Lancaster bietet diverse …«, Garcia malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »… persönlichkeitsfördernde Beschäftigungsmaßnahmen an. Sands hat viel gelesen und regelmäßig Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen.«

»Das Problem ist leider«, klinkte sich Alice in den Vortrag ein, »dass der Katalog der Bibliothek nicht online verfügbar ist. Prinzipiell überrascht mich das nicht, aber es bedeutet natürlich, dass ich mich nicht einfach in den Katalog hacken und mir Sands’ Ausleihliste besorgen kann. Wir müssen warten, bis Lancaster sie uns schickt.«

»Außerdem hat Sands viel Zeit im Fitnessraum verbracht«, sagte Garcia nach einem Blick in die Akte. »Und wenn er nicht gerade gelesen, Gewichte gestemmt oder für einen seiner Fernstudiengänge gebüffelt hat, ist er seinem Hobby nachgegangen. Ein Hobby, das er sich erst drinnen zugelegt hat.«

»Und zwar?« Hunter ging zum Wasserspender und ließ ein Glas volllaufen.

»Kunst.«

»Aber nicht Malen oder Zeichnen«, ergänzte Alice und sah Hunter auffordernd an, offenbar wollte sie, dass er sich den Rest selbst zusammenreimte.

»Bildhauerei«, sagte er.

Garcia und Alice nickten.

Hunter wollte nicht zu früh jubeln. Er verstand den psychologischen Ansatz, den der Staat Kalifornien in seinen Strafvollzugsanstalten verfolgte, sehr gut. Die Häftlinge sollten dazu ermutigt werden, ihre negativen Energien in etwas Kreatives, Konstruktives umzulenken. Jede Haftanstalt in Kalifornien verfügt über ein umfangreiches Kunstprogramm, und alle Insassen werden dazu angehalten, die Angebote wahrzunehmen. Die große Mehrheit tut dies auch. Wenn es auch sonst nichts bringt, so hilft es immerhin dabei, die Zeit totzuschlagen. Die drei beliebtesten künstlerischen Aktivitäten in kalifornischen Gefängnissen sind Malen, Zeichnen und Bildhauerei. Viele Insassen beschäftigen sich mit allen dreien.

»Und wir haben immer noch keinen möglichen Aufenthaltsort für Ken Sands?«, fragte Hunter.

Alice schüttelte den Kopf. »Es ist, als hätte er sich nach seiner Entlassung in Luft aufgelöst. Niemand weiß, wo er stecken könnte.«

»Es gibt immer jemanden, der irgendwas weiß«, widersprach Hunter.

»Das stimmt«, sagte Garcia, der emsig auf seine Computertastatur eintippte. Kurz darauf erwachte der Drucker neben seinem Schreibtisch aus dem Ruhezustand. »Das ist die letzte Liste, die du haben wolltest«, sagte er, angelte den Ausdruck aus dem Ausgabefach und hielt ihn Hunter hin. »Alle Insassen, die während der Zeit von Sands’ Haft im selben Zellenblock gesessen haben wie er. Es sind über vierhundert Namen, aber ich nehme dir das Suchen ab. Schau auf der zweiten Seite nach. Kommt dir da jemand bekannt vor?«

Alice warf Garcia einen verdutzten Blick zu. »Als du vorhin die Liste durchgegangen bist, hast du mir nicht gesagt, dass du einen der Namen kennst.«

Garcia lächelte. »Du hast mich auch nicht danach gefragt.«

Hunter blätterte auf Seite zwei und überflog die Namen. Nach etwa zwei Dritteln hielt er inne. »Da sieh mal einer an.«

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