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Nachdem Alice das Diktiergerät ausgeschaltet hatte, brachte Hunter sie auf den neuesten Stand und berichtete ihr, was er tags zuvor in Nathan Littlewoods Wohnung gefunden hatte. Sie konnte ihre Enttäuschung darüber, dass ihre bahnbrechende Entdeckung letzten Endes gar nicht so bahnbrechend war, nicht verbergen. Doch trotz allem hatte sie etwas sehr Wichtiges herausgefunden. Anhand des Fotos aus Littlewoods Wohnung konnten sie lediglich beweisen, dass Andrew Dupek und Nathan Littlewood sich vor etwa dreißig Jahren gekannt hatten. Alice hingegen hatte entdeckt, dass sie auch kurz vor ihrem Tod noch miteinander zu tun hatten, und das war eine nicht unbedeutende Tatsache. Zu alten Bekannten, seien es Schulkameraden, Kommilitonen, Nachbarn, Kollegen, verlor man schnell den Kontakt. Dass Dupek und Littlewood irgendwann einmal vor dreißig Jahren einen Nachmittag lang zusammen Bier im Park getrunken hatten, bedeutete noch lange nicht, dass sie Freunde gewesen waren. Alices Entdeckung aber bewies genau das – und mehr noch: dass die beiden immer noch befreundet gewesen waren.

»Ich habe mir sämtliche Telefonrechnungen angesehen«, sagte Alice. »Es gab keinen direkten Kontakt zwischen Dupek und Littlewood, wenigstens nicht telefonisch. Aber wie Sie ja wissen, haben viele Leute mehr als ein Handy, und manchmal ist das zweite ein Wegwerfhandy.«

»Was ist mit Derek Nicholson?«

»Ich habe die halbe Nacht in seinen Einzelgesprächsnachweisen gesucht«, antwortete Alice. »Ich bin sechs Monate zurückgegangen, noch vor die Krebsdiagnose. Weder Dupeks noch Littlewoods Handynummer taucht irgendwo bei ihm auf. Und seine Nummer steht auch nicht auf ihren Rechnungen.«

Gegen Ende des Nachmittags bekam Garcia einen vorläufigen Bericht von seinem Recherche-Team. Bislang hatten sie die Schul-und Collegeakten sowie frühere Meldeadressen der Mordopfer überprüft. Sie hatten nichts gefunden, was den Schluss zuließe, dass die drei sich aus der Nachbarschaft, von Schule oder Studium her gekannt hatten. Garcia bat sie weiterzusuchen – nach Mitgliedschaften in Fitnessclubs oder Vereinen, nach allem, was in irgendeiner Weise schriftlich dokumentiert wurde; allerdings war ihm klar, dass diese Dokumente, selbst wenn es sie einmal gegeben hatte, inzwischen vielleicht nicht mehr aufzufinden wären.

Die Sonne war untergegangen, und ein weiterer frustrierender Tag neigte sich dem Ende zu.

Hunter stieß an seinem Schreibtisch einen müden Seufzer aus. Er stellte die Ellbogen auf die Tischplatte und ließ das Gesicht in die Hände sinken. Zum zigsten Mal war er seine Notizen sowie sämtliche Tatortfotos durchgegangen. Die Schattenbilder kamen ihm sinnloser vor denn je. In seinem Schädel pochte ein Schmerz, der, das wusste er, so schnell nicht wieder verschwinden würde. Sein Kopf schwirrte vor tausend Fragen, und die Antworten schienen in unerreichbarer Ferne.

Was war in den Schatten zu sehen? Ein Kojote und ein Rabe, die einen Lügner entlarven sollten? Ein Teufel, der auf seine vier Opfer herabblickte? Eine Gestalt, die auf jemanden zeigte, der in einer Kiste lag? War es ein Sarg? Sollte das Bild eine Beerdigung darstellen? Sah deshalb das nächste Schattenbild aus wie eine Gestalt, die kniend betete? Oder war es ein Kind? Und wie um alles in der Welt hingen die einzelnen Bilder zusammen?

»Was trinken?«, fragte Garcia von seinem Schreibtisch her.

»Hm?« Hunter hob den Kopf und blinzelte mehrmals.

»Wollen wir was trinken gehen?« Garcia warf einen Blick auf seine Uhr und erhob sich. »In dem Büro hier kriegt man Beklemmungen, außerdem könnte ich schwören, dass ich vor zwei Minuten gesehen habe, wie dir Rauch aus den Ohren kommt. Wir brauchen beide eine Pause. Lass uns was trinken gehen, vielleicht einen Happen essen, und dann legen wir uns schlafen. Morgen sind wir dann wieder frisch.«

Hunter fiel nichts ein, was dagegen sprach. Hätte er Sicherungen im Hirn gehabt, wären die meisten schon vor geraumer Zeit durchgebrannt. Achselzuckend schaltete er seinen Rechner aus.

»Ja. Was trinken. Das klingt jetzt genau richtig.«

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