31

Hunter schlüpfte in alte Jeans und ein weißes T-Shirt. Der Baumwollstoff spannte sich über seinen breiten Schultern und schmiegte sich wie eine zweite Haut um seinen Körper. In seinem Wohnzimmer lagen jede Menge Unterlagen, Zeitschriften und Bücher herum. Er überlegte, ob er noch rasch aufräumen sollte, doch bevor er damit anfangen konnte, klopfte es bereits. Er griff nach seiner Heckler & Koch USP .45 Tactical, prüfte den Sicherungsmechanismus und steckte sie sich hinten in den Hosenbund. Erst dann ging er zur Tür.

Erneut drei Klopfzeichen.

»Robert? Ich bin’s, Alice«, kam eine Stimme von draußen.

Hunter entriegelte Schloss und Kette und zog die Tür zur Hälfte auf.

Auf der Schwelle stand Alice Beaumont mit ihrem schwarzen Aktenkoffer. Sie hatte den Pferdeschwanz, den sie früher am Tag getragen hatte, gelöst, und ihr blondes Haar glänzte selbst im trüben Licht des Hausflurs. Jetzt sah sie kein bisschen mehr wie eine Anwältin aus. Sie hatte ihr konservatives Kostüm gegen hautenge Jeans, eine schwarze, tief ausgeschnittene Baumwollbluse und schwarze kniehohe Stiefel mit klobigen Absätzen eingetauscht. Ihr Make-up war nach wie vor dezent, allerdings ein klein wenig verruchter als zuvor. Ihr Parfüm roch blumig und aufreizend.

Hunter musterte sie schweigend.

»Darf ich reinkommen, oder sollen wir uns hier im Treppenhaus unterhalten?«

»Klar. Sorry.« Hunter machte einen Schritt nach rechts und ließ sie eintreten. Die Wohnung lag im Halbdunkel. Nur die Lampe auf Hunters Esstisch brannte.

Alice sah sich in dem kleinen Zimmer um. Lange brauchte sie nicht dafür.

»Nett hier … gemütlich«, sagte sie. Es lag kein Sarkasmus in ihrer Stimme. »Aber aufräumen könnte man mal.«

Hunter schloss die Tür hinter sich und ging an ihr vorbei. »Sollten Sie um diese Zeit nicht im Bett liegen und schlafen?«

Alice lachte leise. »Nach allem, was heute los war? Die Sache mit den Schattenfiguren? Dann Sie beide, wie Sie wie zwei Verrückte aus dem Büro stürzen, weil derselbe Täter vielleicht noch mal zugeschlagen hat?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie soll ich denn da abschalten? Keine Chance.«

Hunter konnte sie verstehen. Er löste seinen Blick von ihrem Gesicht.

Alice wartete, aber Hunter sagte nichts weiter.

»Captain Blake hatte recht, oder? Er hat zum zweiten Mal zugeschlagen.«

Hunter nickte.

»Eine neue Skulptur?«

Hunter nickte.

Alice stieß durch zusammengebissene Zähne den Atem aus. »Also, ich könnte wirklich einen Drink vertragen.« Sie stellte ihren Aktenkoffer auf dem Boden ab.

»Ich fürchte, meine Auswahl ist begrenzt. Scotch oder Bier. Was anderes gibt es nicht.«

»Bier ist in Ordnung.«

Hunter nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank, drehte den Kronkorken ab und reichte sie ihr.

Alice starrte erst die Flasche und dann Hunter einen Moment lang an. »Könnte ich ein Glas dazu haben?«

Hunter deutete auf den Hochschrank über der Spüle. »Bedienen Sie sich.«

Alice öffnete den Schrank und fand darin zwei Becher, ein hohes Coca-Cola-Glas, vier Schnapsgläser und ein halbes Dutzend Whisky-Tumbler. Sie entschied sich für das hohe Glas.

Dann kehrten sie ins Wohnzimmer zurück, und Hunter goss sich einen zweiten Scotch ein.

»Sie haben gesagt, Sie wüssten vielleicht, was die Schattenbilder zu bedeuten haben. Ich höre.«

Alice trank einen Schluck von ihrem Bier. »Okay, nachdem Sie und Carlos weg waren, konnte ich nicht aufhören, über die Skulptur und diese Schattenfiguren nachzugrübeln. Was Sie davor gesagt hatten, klang für mich plausibel – dass man die Bedeutung der Bilder nur dann korrekt interpretieren kann, wenn man weiß, um was für einen Vogel und was für einen Hund es sich handelt.«

Hunter nickte und bot ihr mit einer Geste einen Platz auf dem Sofa an. Sie setzte sich und griff nach ihrem Koffer.

Hunter zog einen der Kiefernstühle vom Esstisch heran, drehte ihn mit der Lehne nach vorn und setzte sich rittlings darauf.

»Also habe ich recherchiert, während Sie beide unterwegs waren«, fuhr Alice fort. »Ich habe im Netz nach hundeähnlichen Tieren und mittelgroßen, ›dicken‹ Vögeln gesucht. Wie Sie gesagt haben – Krähe, Rabe, Dohle und so weiter. Dann habe ich die Bilder …«, sie hielt inne und berichtigte sich, »oder besser: ihre Silhouetten mit unseren Schattenbildern verglichen.«

»Und was ist dabei rausgekommen?«

»Eine ganze Menge.« Sie ließ den Aktenkoffer aufschnappen und zog mehrere Blätter heraus. »Zunächst mal gibt es für jedes Tier, das ich mir in dem Zusammenhang angeschaut habe, eine ganze Palette möglicher Interpretationen. Je länger ich recherchiert habe, desto unübersichtlicher wurde es. Und als ich die Suche dann noch auf verschiedene Kulturkreise und Zeitepochen ausgeweitet habe, bin ich von Bedeutungen regelrecht überschwemmt worden.«

Hunter hob fragend eine Braue.

»Zum Beispiel«, Alice legte ein Blatt zwischen sie beide auf den Couchtisch, »gibt es mehrere Stämme amerikanischer Ureinwohner, bei denen der Kojote beziehungsweise der Wolf für eine Gottheit steht oder für einen bösen Geist oder sogar für das Böse an sich. Es ist kein Zufall, dass sowohl in Cartoons als auch in der Kunst die meisten Dämonendarstellungen – sei es nun Satan, Beelzebub, Azazel oder was Ihnen sonst noch so für satanische Kreaturen einfallen – Ähnlichkeiten mit einem Hund haben.«

Hunter griff nach dem Blatt und überflog, was darauf geschrieben stand.

»In der ägyptischen Mythologie ist Anubis ein schakalköpfiger Gott, der die Mumifizierung der Toten überwacht und in Verbindung mit dem Jenseits steht.«

Hunter nickte. »Laut den Pyramidentexten des alten Königreichs war Anubis der wichtigste Totengott. Später wurde er von Osiris abgelöst.«

Alice sah ihn verwundert an.

Hunter tat die Sache mit einem Schulterzucken ab. »Ich lese viel.«

Alice besann sich wieder auf ihren Vortrag. »Überall auf der Welt gibt es Kulturen, in denen der Rabe als Geschöpf der Dunkelheit gilt, ähnlich wie die Fledermaus. Er ist ein Symbol für Geheimnis, Verwirrung, Zorn, Hass, Gewalt und alles, was man gemeinhin mit der Dunkelheit assoziiert.« Sie legte ein zweites Blatt auf den Tisch.

Hunter griff danach.

»Besonders weit verbreitet ist die Symbolik des Raben oder der Krähe als …«, sie machte eine Pause wie eine Lehrerin, die die Neugier ihrer Schüler steigern will, »… Todesbote. In einigen Kulturkreisen schickt man dem Feind eine Krähe oder einen Raben zum Zeichen dafür, dass er dem Tod geweiht ist. Manchmal einen ganzen Vogel, manchmal nur den Kopf.« Sie holte tief Luft. »In Süd-und Mittelamerika existiert dieser Brauch heute noch.« Sie wies Hunter auf die entsprechenden Textstellen hin.

Hunter nahm alles mit einem Nicken zur Kenntnis und trank noch einen Schluck von seinem Whisky. Schweigend las er zu Ende.

»Bevor ich weitererzähle, muss ich Sie noch was fragen«, sagte Alice.

»Nur zu.«

»Wieso um alles in der Welt hat der Täter überhaupt diese Skulpturen und Schattenbilder gemacht? Wenn er uns was zu sagen hat, warum schreibt er dann nicht einfach eine Botschaft an die Wand, so wie für diese arme Pflegeschülerin? Warum macht er sich so viel Mühe und geht so ein hohes Risiko ein, nur um uns irgendwelche mysteriösen Hinweise zu hinterlassen?«

Hunter rollte langsam den Kopf von links nach rechts. Selbst nach der Dusche und zwei Drinks waren seine Trapezmuskeln noch steif.

»Wenn ein Verbrecher absichtlich Hinweise hinterlässt, dann tut er das normalerweise aus einem von zwei Gründen«, sagte er. »Erstens: um die Polizei herauszufordern, also als eine Provokation. Er hält sich für besonders intelligent. Er ist überzeugt, man kann ihn nicht fassen. Für ihn ist es wie ein Spiel, und die Hinweise erhöhen sein Risiko, machen das Spiel spannender.«

»Er hält sich für Gott?«, fragte sie in Anlehnung dessen, was Miguel ihnen gesagt hatte.

»Manchmal auch das, ja.«

Sie ließ sich Hunters Worte durch den Kopf gehen. »Und der zweite Grund?«

»Um Verwirrung zu stiften. Um die Polizei auf die falsche Fährte zu locken, wenn man so will. Wenn das der Fall ist, haben die Hinweise überhaupt keine tiefere Bedeutung, aber natürlich wissen wir das erst mal nicht. Der Täter kann sich sicher sein, dass die Polizei jedem vermeintlich bedeutsamen Hinweis, den sie am Tatort vorfindet, nachgeht. Das ist Vorschrift. Das heißt, wir verschwenden wertvolle Zeit, indem wir versuchen, Sinn in etwas völlig Sinnloses hineinzulesen.«

»Und je kryptischer der Hinweis, desto mehr Zeit geht verloren.«

»Genau.«

Alice deutete Hunters Gesichtsausdruck richtig. »Aber Sie glauben nicht, dass in unserem Fall einer dieser beiden Gründe zutrifft?«

»Der zweite Grund definitiv nicht. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass unser Täter verblendet genug ist, sich selbst für unbesiegbar zu halten. Zu glauben, dass man ihn nicht fassen kann. Dass er Gott ist.«

»Aber so richtig sind Sie nicht davon überzeugt.«

»Nein«, bekannte Hunter ohne Zögern.

»Also, wie sieht Ihre Vermutung aus?«

Hunter blickte in sein Glas, dann wieder hoch zu Alice. »Ich glaube, unser Täter hinterlässt uns Hinweise, weil es ihm wichtig ist. Die Skulptur und die Schattenbilder spielen bei seinen Taten eine ganz konkrete und zentrale Rolle. Wir wissen noch nicht, welche Rolle das ist, aber ich bin mir absolut sicher. Sie müssen eine direkte Verbindung zum Täter, zum Opfer, zur Tat oder sogar zu allen dreien haben. Er hat die Skulptur und die Schattenbilder nicht aus einer Laune heraus geschaffen, nur um die Polizei zu verhöhnen oder abzulenken. Er hat sie geschaffen, weil ohne sie die Tat in seinen Augen nicht vollständig wäre.«

Alice rutschte auf ihrem Platz hin und her. Etwas an Hunters Erklärung löste tiefes Unbehagen in ihr aus.

»Also, was haben Sie sonst noch rausgefunden?«

Alice legte ein drittes und letztes Blatt Papier auf den Tisch. »Etwas sehr Interessantes. Ich glaube, das könnte die Lösung sein, nach der wir gesucht haben.«

Hunter beugte sich vor und überflog das Blatt.

»Mir ist wieder eingefallen, dass Derek sich für Mythologie interessiert hat. Er hat oft Bücher zu dem Thema gelesen, und er hat nie eine Gelegenheit ausgelassen, irgendwelche Analogien anzubringen oder aus einem mythologischen Text zu zitieren, ob in einer ganz normalen Unterhaltung oder während eines Plädoyers. Das hat mich auf eine Idee gebracht.«

»Nämlich?«

»Mir war bereits aufgefallen, dass der Kojote und der Rabe in ihrer mythologischen Funktion viele Eigenschaften gemeinsam haben«, führte Alice aus. »Schnelligkeit, Listenreichtum, Geschick … Deswegen habe ich aufs Geratewohl beide Figuren miteinander kombiniert. Und das hier war das Ergebnis.« Sie zeigte auf das Blatt in Hunters Händen.

Hunter las.

»Die Gestalt des Kojoten, gepaart mit der des Raben, symbolisiert in erster Linie einen Schwindler oder Betrüger … eine Person, der man nicht trauen kann, weil sie andere hintergeht.«

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