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Mike Brindle kam um den Schreibtisch herum auf die beiden Detectives zu. Er war Ende vierzig, hochaufgeschossen und dünn wie ein Hering, mit einem Schopf dichter, graumelierter Haare und einer spitzen Nase. Er hatte schon bei mehr Fällen mit Hunter und Garcia zusammengearbeitet, als er zählen konnte. »Wir sind uns ziemlich sicher, dass das Opfer schon tot war, als es zerstückelt wurde, Robert«, erklärte er anstelle von Dr. Hove.

Hunter betrachtete den geschundenen Torso auf dem Lederstuhl. »War das Absicht?«

Brindle nickte. »So wie es aussieht, ja.«

Garcia wirkte einen Moment lang perplex.

»Soweit wir hier vor Ort feststellen konnten, hat der Täter ihn erst so lange wie möglich gefoltert, bevor er mit der Amputation der größeren Gliedmaßen begonnen und damit das Risiko eines zu hohen Blutverlusts in Kauf genommen hat. Es gibt zahlreiche kleinere Schnittwunden an Torso und Extremitäten. Tief genug, um starke Schmerzen zu verursachen, aber nicht tödlich. Die linke Brustwarze scheint mit einem nicht sehr scharfen Messer abgeschnitten worden zu sein. Die rechte weist schwere Verbrennungen auf.«

Jetzt wurde Hunter klar, weshalb die Haut um die rechte Brustwarze herum so anders ausgesehen hatte. Die ledrige Textur der Haut war Folge einer Brandverletzung, allerdings sah die Wunde nicht so aus, als sei Feuer die Ursache gewesen.

»Die Menge des ausgetretenen Blutes lässt den Schluss zu, dass die kleineren Schnitte dem Opfer zugefügt wurden, als es noch am Leben war«, fuhr Brindle fort.

»Aber hier ist unheimlich viel Blut«, wandte Garcia ein. »Das stammt doch nicht alles von den kleinen Schnittwunden.«

»Nein«, räumte Dr. Hove ein. »Die Autopsie wird uns den genauen Tathergang verraten, aber wenn ich spekulieren müsste, würde ich sagen, dass der Täter sein Vergnügen bis zum Letzten ausgereizt hat, bevor er seinem Opfer die erste Extremität abgetrennt hat – allem Anschein nach das rechte Bein. Zu diesem Zeitpunkt hat das Herz des Opfers höchstwahrscheinlich noch geschlagen. Trotzdem gibt es einen ganz entscheidenden Unterschied zu den bisherigen Opfern. Bei denen hat der Täter alles unternommen, um ein frühzeitiges Verbluten zu verhindern – Medikamente, Naturheilmittel, umstochene und ligierte Gefäße …« Sie schüttelte den Kopf, während ihr Blick wie ferngesteuert zum Toten auf dem Stuhl glitt. »Das war diesmal anders.«

»Die Amputationen bei den ersten beiden Opfern waren sauber durchgeführt«, ergänzte Brindle. »Die hier nicht. Die Formspuren am Gewebe und das wenige, was wir durch eine erste Untersuchung der Knochen feststellen konnten, deuten darauf hin, dass die Amputationen mit unglaublicher Brutalität vorgenommen wurden. Er hat eher gehackt als geschnitten. Die Arme …« Er hielt inne und rieb sich mit einer behandschuhten Hand über Nase und Mund. »Bei den Armen sieht es so aus, als hätte der Täter sie zunächst teilweise abgeschnitten, dann die Geduld verloren und sie einfach ausgerissen.«

Garcias Augen weiteten sich ein Stück.

»Zweifellos war das Opfer zu diesem Zeitpunkt bereits tot«, beeilte sich Dr. Hove hinzuzufügen.

Hunter richtete den Blick auf den Fußboden und die verschiedenen Schuhabdrücke. »Wurde irgendwas angefasst?«

Dr. Hove hob verzagt die Schultern. »Das LAPD hat versucht, jeden neugierigen Angestellten im Gebäude ausfindig zu machen, der auf die glorreiche Idee gekommen war, einen Blick hier ins Zimmer zu werfen. Bis jetzt haben alle beteuert, sie hätten nichts angerührt. Dasselbe gilt für die Detectives und Uniformierten, die hier waren. Aber letztlich lässt sich die Frage wohl nicht mit absoluter Sicherheit beantworten.« Sie wandte sich der Skulptur zu. »Wir haben keine Möglichkeit, festzustellen, ob irgendwas am ursprünglichen Aufbau verändert wurde.« Das Erwartungsvolle in ihrem Ton entging Hunter nicht. »Ich habe mir den Schatten noch nicht angesehen«, setzte sie hinzu. »Das ist Ihre Baustelle.«

Garcia sah Hunter an, wie um zu fragen: Und? Wie wollen wir es angehen?

Hunter wusste, dass es unmöglich war, die Skulptur zu bewegen, ohne Kleinigkeiten zu verändern. Wie er Alice erklärt hatte, war der Täter beim Anfertigen seiner ersten Skulptur überaus akribisch gewesen, während er auf die zweite deutlich weniger Mühe verwandt hatte. Hunter konnte nicht wissen, was der Täter ihnen mit dieser dritten Skulptur mitteilen wollte. Er wusste nur eins, nämlich dass ihnen die Zeit mit Riesenschritten davonlief. Sie konnten nicht darauf warten, dass ihnen das kriminaltechnische Labor wieder eine Nachbildung anfertigte.

»Hat jemand eine Taschenlampe?«, fragte er in die Runde.

»Hier.« Brindle reichte ihm eine mittelgroße Maglite.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Hunter. Er nahm die Taschenlampe entgegen und musterte Littlewoods verstümmelte Leiche auf dem Stuhl. Am zweiten Tatort hatte der Mörder den Kopf des Toten genau in dem Winkel zur Skulptur platziert, aus der der Lichtstrahl kommen musste, damit man sein Kunstwerk so sah wie von ihm beabsichtigt. Eins von Littlewoods Augen fehlte, das andere jedoch starrte geradeaus zum Schreibtisch. Das musste ein Hinweis sein. Hunter sah erneut zu Boden.

»Wurde alles schon fotografiert, Doc?« Es würde ihm nicht gelingen, dieselbe Perspektive einzunehmen wie Littlewoods einäugiges, totes Starren, ohne dabei in Blut zu treten oder womöglich sogar den Stuhl ein Stück beiseitezuschieben.

Dr. Hove musste nicht nachhaken. Sie war Hunters Blick gefolgt und wusste, weshalb er fragte. »Ja, keine Sorge«, antwortete sie.

Die Jalousien waren bereits heruntergelassen. Brindle löschte die gleißenden Tatortlampen, und Hunter nahm seinen Platz unmittelbar vor der Leiche ein. Er achtete darauf, die Taschenlampe genau entlang Littlewoods Blickachse auszurichten.

Es schien, als würden alle zur selben Zeit tief Luft holen.

Hunter wappnete sich. Dann schaltete er die Taschenlampe ein.

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