Alice Beaumont wurde immer frustrierter. Sie hatte den ganzen Tag damit zugebracht, sich Bilder im Internet anzusehen und darauf zu warten, dass das kalifornische Staatsgefängnis in Lancaster ihr die benötigten Unterlagen schickte. Trotz mehrerer Telefonate und erhöhter Dringlichkeitsstufe schien man dort keine Eile zu haben, ihrem Wunsch nachzukommen.
Mit ihren Bildrecherchen war sie kein Stück weitergekommen. Sie hatte stundenlang die Inhalte mythologischer und religionsgeschichtlicher Websites durchforstet, ohne dabei etwas Neues zutage zu fördern.
Alice war keine Frau, die Däumchen drehte und darauf wartete, dass andere Leute Dinge für sie erledigten. Sie wollte immer mittendrin sein, außerdem hatte sie allmählich vom Warten die Nase voll.
Also verließ sie das PAB und fuhr höchstpersönlich die knapp über zwei Stunden zum kalifornischen Staatsgefängnis in Lancaster. Zuvor hatte sie Bezirksstaatsanwalt Bradley telefonisch von ihrem Anliegen unterrichtet. Zwei Anrufe und knapp fünfzehn Minuten später war alles in die Wege geleitet. Gefängnisdirektor Clayton Laver ließ ausrichten, Alice könne gerne herkommen und sich die benötigten Unterlagen persönlich zusammensuchen. Sie würden es natürlich gerne für sie übernehmen, hatte der Direktor hinzugefügt, allerdings hätten sie nur wenig Personal und seien ohnehin schon überlastet, weshalb es noch ein oder zwei Tage dauern könnte, bevor sie dazu kämen. Unter Umständen auch länger.
Alice parkte auf dem zweiten der beiden großen Besucherparkplätze und machte sich auf den Weg zum Empfangsgebäude. Dort wurde sie von Gefängnisaufseher Julian Healy begrüßt, einem eins fünfundneunzig großen Afroamerikaner von der Breite eines Staudamms.
»Direktor Laver lässt sich entschuldigen«, sagte Healy mit einem nicht näher identifizierbaren Südstaatenakzent. Er zog die Vokale in die Länge, und seine Stimme hatte etwas Schleppendes, als wäre es ihm zu anstrengend, schneller zu sprechen. »Er ist im Moment leider verhindert und kann Sie nicht empfangen. Also wurde mir aufgetragen, Sie zu begleiten.« Er lächelte, während er Alices Erscheinungsbild musterte. Sie trug ein marineblaues Kostüm mit einer hellgrauen Seidenbluse. Der oberste Knopf der Bluse war geöffnet und gab den Blick auf ihren Halsansatz und eine feine Weißgoldkette mit Diamant-Anhänger frei.
»Besser, Sie knöpfen sich die Bluse zu. Und ich würde vorschlagen, die Jacke ebenfalls zu schließen.«
»Hier drin ist es so heiß wie in Afrika«, protestierte Alice, während sie ihm ihre Tasche zur Durchsuchung aushändigte.
»Das ist nichts im Vergleich zu der Hitze da drin, wenn die Häftlinge Sie in diesem dünnen Oberteil zu sehen kriegen.« Er warf einen Blick auf ihre Pumps. »Na, wenigstens tragen Sie keine offenen Schuhe.«
»Was ist so schlimm an offenen Schuhen?«
»Haben Sie eine Ahnung, wie viele Häftlinge auf Frauenfüße stehen? Vor allem auf Zehen. Und wenn dann noch die Nägel rot lackiert sind … Das macht sie wahnsinnig. Da könnten Sie genauso gut nackt sein. Damit die Triebe bei den Insassen nicht verrücktspielen, müssen alle Besucher Schuhe tragen, die vorne geschlossen sind.«
Alice wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Also sagte sie gar nichts.
»Hier steht, Sie wollen sich unsere Bibliothek ansehen?«, fragte Healy nach einem kurzen Blick auf ein Blatt Papier, das er mitgebracht hatte.
»Ja, das stimmt.«
»Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
Alice sah ihn an.
»Geht mich nichts an, was?« Healy grinste. »Alles klar. Folgen Sie mir.« Er führte Alice durch die Hintertür aus dem Empfangsgebäude hinaus und über eine dreispurige Straße. Sie befanden sich jetzt innerhalb des Gefängnisareals. Hinter ihnen ragte die nördliche Gefängnismauer auf. Sie war über eine halbe Meile lang, und alle zweihundert Meter gab es einen bemannten Wachtturm. Lancaster war auf zweitausenddreihundert Häftlinge ausgelegt, beherbergte aber mehr als doppelt so viele. Es gab Gefangene der Sicherheitsstufen I bis IV – Stufe IV bezeichnete die höchste Sicherheitsstufe in kalifornischen Justizvollzugsanstalten mit Ausnahme der Todeskandidaten. Das kalifornische Staatsgefängnis in Lancaster zu bewachen war keine leichte Aufgabe.
Sie erreichten das erste Gefängnisgebäude, einen rechteckigen, zweigeschossigen Klotz aus Stahl und Beton. Healy zog seinen Sicherheitsausweis durch den Schlitz in der Tür und tippte dann eine achtstellige Ziffernfolge ein. Die schwere Metalltür öffnete sich unter lautem Summen und Klicken. Drinnen kamen sie an weiteren bewaffneten Wärtern vorbei, die allesamt dafür konstruiert schienen, einem Erdbeben der Stärke acht standzuhalten. Schweigend liefen Healy und Alice durch die Gänge. Healy nickte jedes Mal kurz, wenn sie einer anderen Wache begegneten. Schließlich verließen sie auch dieses Gebäude und gelangten in einen offenen Verbindungsgang.
»Die Bibliothek ist im Keller von Block F«, gab Healy Auskunft. »Es gibt einen wesentlich schnelleren Weg, aber dazu müssten wir übers innere Gelände gehen, und da halten sich Häftlinge auf. Ich versuche uns beiden die Sache so leicht wie möglich zu machen.«
Nach etwa drei Minuten hatten sie die Eingangstür zu Block F erreicht, wo Healy den Vorgang mit seinem Ausweis und der Eingabe des Zahlencodes wiederholte. Einzige Lichtquelle waren durch Käfige aus Maschendraht geschützte Leuchtröhren an der Decke. Sie bogen nach links in einen langen Gang ein. Ein Häftling im orangefarbenen Overall war gerade dabei, den Boden in der Nähe der Treppe zu wischen. Seine braungebrannten, muskulösen Arme zierten zahlreiche Tätowierungen und Narben. Er hielt inne und trat zur Seite, um Alice und Healy vorbeizulassen. Der Korridor erstrahlte in einem solchen Glanz, dass Alice sich unwillkürlich fragte, ob der Häftling, sobald er mit dem Wischen fertig war, zurückging und wieder von vorne anfing und immer so weiter von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.
»Vorsicht mit dem Fußboden, Boss, der ist ein bisschen rutschig«, sagte der Häftling. Er zog dabei den Kopf ein, und sein Blick war zu Boden gerichtet.
Die Bibliothek war größer, als Alice erwartet hatte. Sie nahm das gesamte Untergeschoss ein. Healy nickte dem bewaffneten Wachtposten am Eingang zu und führte Alice in einen kleinen Nebenraum.
»Bitte setzen Sie sich, ich hole den Bibliothekar. Der hilft Ihnen bei allem, was Sie brauchen.«