53

Detective Seb Stokes hielt mitten im Trinken inne und stellte seinen Kaffeebecher zurück auf den Tisch. Ein Sahneklecks hing vorn an seiner knolligen Nase, und ein fast perfekter Schnurrbart aus weißem Schaum zierte seine Oberlippe.

»Als Mechaniker?«, wiederholte er, während er sich mit einer Papierserviette die Sahne aus dem Gesicht wischte. »Sie haben das Schwein auf Band?«

»Nein, die Überwachungskameras waren kaputt«, sagte Hunter mit ruhiger Stimme.

»Das sind sie doch immer, wenn man sie mal braucht. Woher wissen Sie dann, dass der Mörder sich als Mechaniker ausgegeben hat?«

»Gestern Abend habe ich entdeckt, dass Dupeks Innenbordmotor ein Ölleck hatte. An dem Tag, als er ermordet wurde, wollte er zu seinem alljährlichen Segeltörn aufbrechen. Ich vermute, dass ihm das Problem wahrscheinlich beim letzten Check aufgefallen ist und er nicht mit einem defekten Motor in See stechen wollte.«

»Typisch Andy. Er war immer sehr gründlich. Ist nie ein Risiko eingegangen. Haben Sie schon beim Büro der Marina nachgefragt? Haben die Vertragsmechaniker?«

»Ja, ich habe mich erkundigt.« Hunter nippte an seinem Kaffee. »Sie haben keine eigenen Mechaniker auf Abruf, sondern bloß eine Liste von Mechanikern, die sie den Bootsbesitzern bei Bedarf vermitteln. Dupek hat sich mit seinem Problem allerdings nicht ans Büro gewandt, aber die meisten Bootsbesitzer haben ohnehin einen festen Mechaniker, dem sie vertrauen.«

»Andy auch?«

Hunter nickte. »Ein Mann namens Warren Donnelly. Ich habe heute Morgen schon mit ihm gesprochen. Er sagte, Dupek hätte sich nie bei ihm wegen eines Öllecks gemeldet.«

»Sie denken also, der Mörder hat am Motor rumgefummelt, kurz bevor Andy aufs Boot kam«, sagte Stokes, der Hunters Miene richtig gedeutet hatte. »Vielleicht sogar ein, zwei Tage vorher.«

»Möglicherweise.«

»Dann musste er nur noch in der Nähe bleiben und den richtigen Moment abpassen, damit er ihm seine Dienste anbieten konnte.«

»Das ist die Theorie, der wir momentan nachgehen«, bestätigte Hunter.

»Aber warum hat er sich nicht einfach in der Kajüte versteckt und auf Andy gewartet? Warum musste er es so kompliziert machen und diesen ganzen Mechaniker-Zirkus aufführen?«

»Ich bin mir nicht sicher«, gestand Hunter. »Vielleicht weil das Boot so klein ist. Es ist sehr eng in der Kajüte, eigentlich gibt es gar keinen Platz, um sich zu verstecken. Dupek wäre die Anwesenheit eines Fremden aufgefallen, noch bevor er das Boot überhaupt betreten hätte. Damit hätte der Täter seinen Vorteil verspielt – kein Überraschungsmoment mehr.«

»Andy war immer noch ein Cop«, sagte Stokes, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rieb sich mit der Hand den grummelnden Magen. »Und ein guter noch dazu. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr hätte er sofort die Waffe gezogen und wäre auf der Hut gewesen.«

Wieder nickte Hunter. »Dupek war groß und kräftig, er wusste sich zu verteidigen. Vielleicht war dem Täter klar, dass er es unter keinen Umständen auf einen Zweikampf ankommen lassen durfte. Unser Täter geht keine unnötigen Risiken ein.«

Stokes begann auf seiner Unterlippe herumzukauen. »Das heißt, der Killer musste dafür sorgen, dass er von Andy aufs Boot eingeladen wird. Auf die Art hätte Andy auch keinen Verdacht geschöpft. Er wusste, wenn er erst mal an Bord ist, würde sich früher oder später schon eine Gelegenheit ergeben, Andy zu überwältigen.«

»Den Blutspritzern und dem Fundort seiner Zähne nach zu urteilen, hat Dupek vor der Luke zum Innenborder gekniet. Vielleicht hat der Täter ihn gebeten, einen Blick auf etwas zu werfen oder etwas zu halten, während er nach einem Werkzeug sucht.«

»Zähne?«

»Dupek hat einen Schlag ins Gesicht bekommen, der seinen Kiefer zertrümmert und ihm drei Zähne ausgeschlagen hat.«

Die Kellnerin brachte Stokes’ Frühstück. »Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nicht auch was bringen kann?«, wandte sie sich an Hunter.

»Nein, danke, für mich nichts.«

»Na gut. Sagen Sie Bescheid, falls Sie es sich anders überlegen.« Die Kellnerin zwinkerte Hunter neckisch zu, bevor sie eine Drehung auf den Zehenspitzen vollführte und wieder verschwand.

Hunter kratzte behutsam die Narbe einer alten Schusswunde an seinem rechten Trizeps. Die Sache lag über zwei Jahre zurück, aber manchmal juckte die Wunde noch wie verrückt. »Wer auch immer der Täter ist«, sagte er, »er muss Dupek abgrundtief gehasst haben. Und deswegen bin ich hier. Sie haben mit ihm gearbeitet. Sie gehörten zur selben Abteilung. Können Sie sich an irgendeinen Fall erinnern, in dem Sie zusammen ermittelt haben? Fällt Ihnen irgendjemand ein, von dem Sie glauben, dass er imstande wäre, so was zu tun?«

Stokes säbelte eine große Ecke von seinem spanischen Omelett ab und nahm sie in die Hand, als wäre sie ein Stück Pizza. »Nach unserem Telefonat gestern Abend habe ich gewusst, dass die Frage kommt. Ich habe gründlich drüber nachgedacht. Und der Einzige, der mir einfällt, ist Raul Escobedo.«

»Wer ist das?«

»Mehrfachvergewaltiger. Wurde verurteilt, weil er innerhalb von acht Monaten drei Frauen in Lynwood Park und Paramount angegriffen hatte. In Wahrheit hat er wohl um die zehn Frauen vergewaltigt, aber nur drei haben gegen ihn ausgesagt. Ein sadistisches Schwein. Hat seine Opfer vor der eigentlichen Vergewaltigung brutal zusammengeschlagen. Er ist uns nur ins Netz gegangen, weil er, ohne dass er es ahnen konnte, einen Fehler gemacht hat.«

»Was für einen Fehler?« Hunters Neugier war geweckt.

»Das war so. Escobedo ist hier in L. A. geboren, aber seine Eltern stammen aus einem kleinen Bundesstaat in Mexiko. Colima.«

»Heimat des gleichnamigen Vulkans.«

»Stimmt genau. Das wissen Sie?«

Hunter nickte.

»Hm. Ich musste das erst nachlesen. Na ja, ist ja auch egal, jedenfalls sind Escobedos Eltern in die USA ausgewandert, bevor seine Mutter schwanger wurde. Sie stammten aus einem kleinen Ort namens Santa Inés. Obwohl Escobedo in Paramount aufgewachsen ist, wurde bei ihm zu Hause nur Spanisch gesprochen. Und genau das hat ihm das Genick gebrochen. Die Leute aus Santa Inés sprechen nämlich einen ganz bestimmten Dialekt. Ich persönlich höre da keinen Unterschied, aber bitte.« Stokes biss erneut von seinem Omelett ab. »Er hatte die Heimatstadt seiner Eltern nie gesehen, sprach aber den Santa-Inés-Dialekt wie ein Einheimischer. Und genau das war sein Verhängnis. Er hat den Frauen gerne Schweinereien ins Ohr geflüstert, während er sie vergewaltigt hat. Sein letztes Opfer stammte aus Las Conchas, das ist ein Nachbarort von Santa Inés.«

»Sie hat seinen Dialekt wiedererkannt«, sagte Hunter.

»Nicht nur das.« Stokes lachte leise. »Escobedo hat damals bei der Post am Schalter gearbeitet. Zwei Wochen nach der Vergewaltigung war die Frau bei einer Freundin in South Gate zu Besuch. Es war eine Woche vor dem mexikanischen Muttertag, deswegen sind sie zusammen auf die Post, weil die Freundin ihrer Mutter eine Karte schicken wollte. Und wer bedient sie? Kein Geringerer als Escobedo. Kaum hatte die Frau seine Stimme gehört, hat sie angefangen zu zittern. Aber sie hat die Nerven behalten. Statt in Panik zu geraten und ihn misstrauisch zu machen, ist sie einfach wieder rausspaziert, hat eine Telefonzelle gesucht und die Polizei gerufen. Wir haben ihn observiert, und – zack – drei Wochen später haben wir ihn in flagranti erwischt, als er sich gerade an einer weiteren Frau vergehen wollte. Andy und ich haben ihn festgenommen.« Stokes wandte sich wieder seinem Kaffee zu, doch Hunter spürte sein Zögern. Da war noch mehr. Stokes hielt mit etwas hinterm Berg.

»Was ist bei der Festnahme passiert?«

Stokes legte sein Omelettstück hin, fuhr sich mit der Serviette über den Mund und sah Hunter über den Tisch hinweg forschend an.

»Von Cop zu Cop?«

Hunter antwortete mit einem nachdrücklichen Nicken. »Von Cop zu Cop.«

»Na ja, nach der Verhaftung haben wir ihn uns ein bisschen vorgeknöpft.«

»Vorgeknöpft?«

»Sie wissen doch selbst, wie das ist, Mann. Bei so einem Zugriff ist man voller Adrenalin, da kocht das Blut hoch. Andy war als Erster bei ihm. Escobedo hatte eine Achtzehnjährige in ein leerstehendes Gebäude der Heilsarmee in Lynwood gezerrt. Andy war immer schon ein ziemlicher Choleriker gewesen. Seine Sicherung …« Stokes verzog den Mund zu einer Seite und neigte den Kopf. »Na ja, sagen wir mal, er hatte keine Sicherung. Es gab ständig Zoff mit unserem Captain, weil Andy dauernd die Beherrschung verlor. Er war nicht gerade gemeingefährlich, aber viel hat nicht gefehlt, wenn Sie wissen, was ich meine. Als er ins Gebäude kam, hatte Escobedo dem Mädchen schon die Bluse runtergerissen und sie übel zugerichtet. Als Andy das sah, hat er vergessen, dass er ein Cop ist, und mit Escobedo ein paar Runden Hau-den-Lukas gespielt. Verstehen Sie?«

Hunter erwiderte nichts. Eine Zeitlang herrschte Schweigen.

»Die Wahrheit ist …«, fuhr Stokes schließlich fort, »… dass der Mistkerl jeden einzelnen Schlag verdient hatte. Andy hat ihm das Gesicht zu Brei geschlagen.«

Hunter trank unberührt von seinem Kaffee. »Und wo ist er jetzt? Escobedo?«

»Keine Ahnung. Das war vor zwölf Jahren. Escobedo hat zehn Jahre gekriegt und jede Sekunde davon abgesessen. Soweit ich weiß, wurde er vor zwei Jahren entlassen.«

Ein Gefühl wie ein Stromstoß jagte Hunter das Rückgrat hinauf.

»Und eins sag ich Ihnen jetzt gleich«, fuhr Stokes fort, »wenn dieser Drecksack derjenige ist, der Andy auf dem Gewissen hat, dann …«

»Wo hat er eingesessen?«, unterbrach Hunter ihn. Er war bis an die Kante seines Stuhls vorgerückt.

»Was?« Stokes kniff die Augen zusammen und schob sich eine Strähne seines schlaffen Haares aus der Stirn.

»Escobedo, in welchem Gefängnis war er?«

»Im Staatsgefängnis von Los Angeles County.«

»Lancaster?«

»Ja.«

Im selben Gefängnis wie Ken Sands, durchfuhr es Hunter.

»Im Ernst, wenn Escobedo ihn auf dem Gewissen hat, dann werde ich …«

»Sie werden überhaupt nichts tun«, schnitt Hunter Stokes abermals das Wort ab. Das Letzte, was er wollte, war, dass Stokes das Café verließ und dachte, er kenne die Identität des neuesten Copkillers von L. A. Die falsche Information würde sich ausbreiten wie ein Lauffeuer, und noch vor der Mittagspause wären die Cops der halben Stadt auf dem Kriegspfad. Davon musste er Stokes unbedingt abbringen. »Hören Sie, Seb, wenn Escobedo der Einzige ist, der Ihnen einfällt, dann überprüfen wir ihn natürlich, aber momentan ist er für uns nicht mal ein Verdächtiger. Er ist bloß ein Name auf einer Liste. Wir haben nichts, was ihn mit dem Tatort in Verbindung bringen könnte – keine Fingerabdrücke, keine DNA, keine Fasern, keine Augenzeugen. Wir wissen nicht mal, wo er war, als Dupek ermordet wurde, oder ob er über die Fähigkeiten verfügt, die zur Ausführung der Tat notwendig waren.« Hunter ließ ein paar Sekunden verstreichen, damit seine Worte ihre volle Wirkung entfalten konnten. »Sie sind ein guter Detective, ich habe Ihre Akte gelesen. Sie wissen genau, wie es abläuft. Wenn jetzt irgendein Gerücht die Runde macht, gerät die gesamte Ermittlung in Gefahr. Und wenn das passiert, dann kommt der Schuldige vielleicht davon. Das wissen Sie.«

»Dieses Arschloch wird garantiert nicht davonkommen.«

»Da haben Sie recht, das wird er nicht. Und falls Escobedo unser Mann ist, werde ich ihn fassen.«

Die Entschlossenheit in Hunters Tonfall ließ Stokes’ harten Blick ein wenig weicher werden.

Hunter legte eine Visitenkarte auf den Tisch und schob sie Stokes hin. »Wenn Ihnen außer Escobedo noch jemand einfällt, rufen Sie mich an.« Bevor er aufstand, fügte er hinzu: »Noch eins. Tun Sie mir den Gefallen und seien Sie auf der Hut, in Ordnung? Der Kerl ist schlauer als die Verbrecher, mit denen Sie es normalerweise zu tun kriegen.«

Stokes grinste. »Wie gesagt …« Er tätschelte die Ausbuchtung unter seinem Jackett. »Der soll nur kommen …«

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