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Alice war gerade mit einer weiteren Akte fertig und sah auf die Uhr. Sie las nun schon seit dreieinhalb Stunden, und noch immer hatte sie keine Spur gefunden, die weiterzuverfolgen sich gelohnt hätte. Achtunddreißig der sechsundvierzig Dokumente, die ihr selbstgeschriebenes Programm markiert hatte, war sie bereits durchgegangen.

Kopfschüttelnd und mit mürrischem Blick beäugte sie die zwei noch unberührten Kartons voller Akten, die auf ihrem Schreibtisch standen. Diesmal hatte sie sich übernommen, das stand fest. Um bis zum Abend sämtliche Unterlagen durchzuarbeiten, hätte sie ein ganzes Team von Leuten und noch ein oder zwei Programmierer gebraucht. Vielleicht sollte sie stattdessen lieber einen weiteren Versuch machen, etwas über die Bedeutung des neuen Schattenbilds herauszufinden. Womöglich hätte sie damit mehr Erfolg.

Alice goss sich eine frische Tasse Kaffee ein und ließ sich gegen die Wand sinken. Dabei blieb ihr Blick einen Moment lang an der Pinnwand hängen. Die Grausamkeit der Bilder jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Wie konnte jemand so abgrundtief böse sein? So krank? Und trotzdem noch intelligent genug, solche Skulpturen und Schattenbilder auszutüfteln? Intelligent genug, sich Zugang zu einem fremden Haus oder Boot zu verschaffen, dort sein Opfer stundenlang zu quälen, es in Stücke zu schneiden und dann unerkannt zu verschwinden? Ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen – mit Ausnahme derjenigen, von denen er wollte, dass die Polizei sie findet?

Alice zwang sich, den Blick abzuwenden, und verjagte die Bilder aus ihrem Kopf. Sie konzentrierte sich wieder auf die Dokumentenberge zu ihren Füßen. Auf den Deckblättern der Akten waren jeweils die Fallnummer sowie der Name des Angeklagten beziehungsweise Verurteilten vermerkt. Sie starrte eine Weile grübelnd darauf und wog ihr weiteres Vorgehen ab. Sie hatte bereits einige der Fälle überflogen, an deren Ermittlungen Dupek entweder als Detective oder in anderer Funktion beteiligt gewesen war. Bei der Mehrzahl der Verhafteten handelte es sich um Gang-Mitglieder, Schläger, Diebe und ganz gewöhnliche Kleinkriminelle. Personen, die – zumindest ihrer Auffassung nach – auf keinen Fall als der gesuchte Mörder in Frage kamen. Sie bezweifelte, dass sie dort eine Verbindung finden würde. Allerdings hatte sie mit der Liste der Opfer, die möglicherweise Derek Nicholson und dem Staat Kalifornien für einen verlorenen Prozess die Schuld gaben, noch nicht einmal angefangen.

Sie trank zu hastig von ihrem Kaffee und verbrühte sich den Gaumen. Dann erstarrte sie plötzlich. Ihr war soeben eine Idee gekommen, gerade weil es scheinbar keine Verbindungen zwischen den Listen gab.

Auf ihrem Computer rief Alice das Programmierfenster ihrer selbstgeschriebenen Anwendung auf. Ein paar kleine Modifikationen hier und da, schon hätte sie ein neues, verbessertes Suchprogramm. Sie brauchte dreißig Minuten, um alle Änderungen vorzunehmen. Mit Hilfe ihres Sicherheitsschlüssels konnte sie ihrem neuen Programm erlauben, auf die Datenbank der Bezirksstaatsanwaltschaft zuzugreifen. Hunter hatte ihr außerdem ein Passwort gegeben, mit dessen Hilfe sie sich Zugang zur Datenbank des LAPD und der Nationalen Verbrecherdatenbank verschaffen konnte.

Während das Programm arbeitete, wandte sich Alice wieder ihren Akten zu. Das Programm musste sich in zwei verschiedene Datenbanken auf zwei unterschiedlichen Servern einklinken und sie durchsuchen. Es war damit zu rechnen, dass der Vorgang eine ganze Weile dauern würde.

Die ersten Ergebnisse lagen nach einer guten halben Stunde vor. Vierunddreißig Namen. Alice rief die Zusammenfassungen der dazugehörigen Fallakten auf und druckte sie aus. Sie ging sie einzeln durch und machte sich beim Lesen am Rand Notizen. Bei der vierundzwanzigsten angekommen, spürte sie plötzlich, wie ihr kalt wurde. Sie ließ das Blatt sinken und suchte rasch unter den restlichen Dokumenten nach dem zweiten Fall, den ihr Programm mit Nummer vierundzwanzig verknüpft hatte. Als sie ihn gefunden hatte, schnappte sie überrascht nach Luft, und es war, als führe ein eisiger Wind in ihre Lungen.

»Na, wenn das nicht interessant ist.«

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