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»Der Killer hat sein Opfer gelähmt, indem er ihm mit einem Stich in den Nacken das Rückenmark durchtrennt hat?« Captain Blake versagte fast die Stimme, als sie aus der Kopie des Autopsieberichts vorlas, die Garcia ihr soeben überreicht hatte.

Hunter nickte.

Bezirksstaatsanwalt Dwayne Bradley saß in einem der zwei ledernen Besuchersessel vor Captain Blakes Schreibtisch. Auch er hielt eine Kopie des Berichts in der Hand.

»Jetzt mal langsam«, sagte er mit einem irritierten Kopfschütteln. »Dem Bericht hier zufolge würde ein durchtrenntes Rückenmark auch das Nervensystem lahmlegen, das heißt, das Opfer hätte überhaupt keine Schmerzempfindung mehr.«

»Das ist richtig«, sagte Garcia.

»Ja, verdammt noch mal, warum hat er es denn dann gemacht? Wenn der Killer wollte, dass sein Opfer leidet, warum hat er ihm dann jedes Schmerzgefühl genommen, bevor er angefangen hat, ihn in Stücke zu schneiden? Das ist doch nun wirklich absolut hirnrissig.« Bradleys Wangen hatten sich bereits verdächtig gerötet.

»Weil der Täter, aus welchem Grund auch immer, wollte, dass das Opfer auf andere Art leidet«, antwortete Hunter, den Ellbogen auf das Bücherregal an der Wand gestützt. »Seelisch.«

Bradley sah ihn ungläubig an.

»Stellen Sie sich vor, Sie müssten mit ansehen, wie Ihr Körper zerstückelt wird, wie das Blut nur so spritzt, ohne dass Sie auch nur das Geringste spüren, ohne dass Sie irgendwas tun könnten. Stellen Sie sich vor, Sie müssten völlig hilflos Ihren eigenen Tod mit ansehen wie einen Film auf einer Leinwand. Sie wissen, dass Sie sterben werden, aber Ihr Körper fühlt nichts.«

Bezirksstaatsanwalt Bradley fixierte Hunter, während er sich dessen Worte durch den Kopf gehen ließ. »Na, Sie wissen jedenfalls, wie man die Dinge in schillernden Farben malt.«

»Wie lange hat es gedauert?«, wollte Captain Blake wissen. »Ich meine die Verstümmelungen, die psychologische Folter?«

»Schwer zu sagen. Aber wenn man überschlägt, wie viel Zeit man bräuchte, um die einzelnen Gliedmaßen abzutrennen und den Blutfluss ordnungsgemäß zu stoppen, so wie der Täter es gemacht hat … mindestens eine Stunde, vielleicht auch länger.«

»Himmelherrgott noch mal«, stieß Bezirksstaatsanwalt Bradley aus, bevor er im Bericht eine Seite umblätterte. »Hier steht, der Todeszeitpunkt lag schätzungsweise zwischen sechzehn und neunzehn Uhr.«

»Stimmt«, sagte Garcia.

»Und die Leiche wurde gegen zwanzig Uhr von der Bootsnachbarin entdeckt, richtig?«

»Ja, das ist richtig.«

»Sieht man irgendwas auf den Bändern der Überwachungskameras an der Marina?«, wollte Captain Blake wissen. »Leute, die kommen oder gehen?«

Garcia lachte freudlos auf. »Darauf hatten wir auch spekuliert, aber sie verwenden da noch ein uraltes System. Es nimmt auf VHS auf, ob man’s glaubt oder nicht. Außerdem ist es schon seit über zwei Monaten kaputt.«

»Typisch«, lautete der Kommentar des Bezirksstaatsanwalts. »Aber es ist doch bestimmt jemand von Tür zu Tür gegangen – oder in diesem Fall von Boot zu Boot – und hat die Nachbarn befragt. Hat denn niemand einen Fremden gesehen, der um die fragliche Zeit, als die laute Musik losging, den Anleger verlassen hat?«

»Ich glaube nicht, dass der Täter so dumm ist«, warf Hunter ein.

»Dumm? Was meinen Sie damit?«

»Es gibt natürlich keine Möglichkeit, es zu beweisen, aber die Anlage auf Dupeks Boot verfügt über einen Timer. Meine Vermutung ist, dass der Täter den Timer so eingestellt hat, dass die Musik erst später anging, frühestens eine halbe Stunde nachdem er den Tatort verlassen hatte. Außerdem muss man noch den Umstand mit einbeziehen, dass die Leute sich erst dann an lauter Musik stören, wenn sie schon eine ganze Weile läuft. Ich denke, man kann davon ausgehen, dass der Täter längst über alle Berge war, als die Leute den Lärm bemerkt haben.«

Captain Blake klappte ihr Exemplar des Autopsieberichts zu und schob es von sich weg an den Rand des Schreibtischs. »Was ist mit der Wohnung des Opfers? Haben wir da was gefunden? Computer? Handy?«

»Die Spurensicherung hat einen Laptop sichergestellt«, berichtete Hunter. »Sie untersuchen ihn gerade und schauen sich die Daten an – Textdateien, Fotos, E-Mails, alles, was sie finden können. Kein Handy.«

»Dupek wollte in seinen zweiwöchigen Jahresurlaub starten«, fügte Garcia hinzu. »Insofern ist davon auszugehen, dass er sein Handy dabeihatte. Wir glauben, dass der Täter es entweder mitgenommen oder entsorgt hat. Möglicherweise hat er es ins Wasser geworfen oder zerstört.«

»Wir können doch die Nummer ermitteln und seinen Anbieter kontaktieren«, schlug Bezirksstaatsanwalt Bradley vor.

»Das haben wir bereits getan«, gab Hunter zurück. »Das Handy ist ausgeschaltet, man kann es also nicht orten – falls es nicht sowieso kaputt ist. Aber vielleicht können wir uns eine Funkzellen-Analyse seiner Gespräche besorgen.«

»›Vielleicht‹ ist keine Option«, gab der Bezirksstaatsanwalt zurück. »Alice wird Ihnen eine Funkzellen-Analyse besorgen.« Er warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr.

»In Ordnung«, sagte Hunter. »Außerdem wollte ich heute noch mal bei Amy Dawson vorbeischauen.«

Bezirksstaatsanwalt Bradley und Captain Blake kniffen die Augen zusammen und schüttelten ratlos die Köpfe.

Hunter half ihnen auf die Sprünge. »Derek Nicholsons Pflegerin – die, die ihn unter der Woche betreut hat. Ich möchte ihr gerne ein Foto von Andrew Dupek zeigen, vielleicht war er der Unbekannte, der Derek Nicholson besucht hat. Wir konnten den zweiten Besucher immer noch nicht identifizieren. Ich habe Bezirksstaatsanwalt Bradley gefragt, und er hat sich in sämtlichen Büros der Bezirksstaatsanwaltschaft in Los Angeles County umgehört. Niemand hat sich gemeldet, wir gehen also davon aus, dass besagter zweiter Besucher kein Kollege von der Staatsanwaltschaft war.«

Der Bezirksstaatsanwalt bestätigte dies mit einem Nicken.

Captain Blake begann mit einem Bleistift auf die Schreibtischplatte zu trommeln, während ihre Gedanken einen Gang hochschalteten. »Verraten Sie mir mal eins«, wandte sie sich an Hunter. »Ich weiß, dass die Vorgehensweise bei beiden Morden dieselbe war, aber Dwaynes Einwand von eben hat mich ins Grübeln gebracht. Warum beim ersten Opfer körperliche Folter und beim zweiten seelische? Das ist nicht besonders einleuchtend.«

»Ist es doch nie, Captain«, lautete Hunters Antwort.

»Von mir aus, aber tun Sie mir trotzdem den Gefallen und hören Sie mich kurz an. Denken Sie, es besteht die Möglichkeit, dass es mehr als einen Täter gibt? Vielleicht sind es zwei, die gemeinsame Sache machen? Einer hat Nicholson gehasst und der andere Dupek? Vielleicht haben sie sich hinter Gittern kennengelernt. Sie saßen zufällig im selben Gefängnis, wegen zweier völlig unterschiedlicher Vergehen, haben sich angefreundet und zusammengetan. Sie hätten jahrelang Zeit gehabt, ihren morbiden Racheplan auszubrüten.«

»Da hat sie nicht ganz unrecht«, meinte Bezirksstaatsanwalt Bradley.

»Das ist mehr als unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, wie die Opfer zugerichtet wurden.«

»Und wieso?«

Hunter trat in die Mitte des Raumes. »Wenn man das Ausmaß der psychotischen Störung bedenkt, die sich in beiden Morden offenbart, ganz zu schweigen vom Wahnsinn der Taten an sich, schließt das zwei Täter praktisch aus. Die Tatorte lassen eine ungeheure Getriebenheit erkennen, es gibt da einen Handlungsfaden, den der Täter akribisch bis ins kleinste Detail ausagiert. Man muss sich nur die Skulpturen anschauen. Die Motivation für so was kann man unmöglich mit anderen teilen. Seine Opfer zu töten, ihre Körper zu verstümmeln und aus ihren Gliedmaßen Skulpturen zu machen – all das verschafft dem Täter Befriedigung. Es stillt ein tiefsitzendes Bedürfnis in ihm, das nur er allein versteht. Niemand anders könnte durch dieselbe Tat dasselbe Maß an Befriedigung erlangen. Eine solche seelische Störung kommt nicht gleichzeitig bei zwei Individuen vor. Es ist ein Täter, Captain, glauben Sie mir.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie.

»Ja«, rief Captain Blake.

Die Tür wurde ein Stück aufgeschoben, und Alice Beaumonts Kopf erschien im Spalt. Sie war ins Büro der Bezirksstaatsanwaltschaft gefahren, um einige Akten einzusehen, die nicht übers Internet zugänglich waren. Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen, und sie blieb verunsichert stehen. Sie hatte nicht gewusst, dass Hunter und Garcia schon aus der Rechtsmedizin zurück waren. Und mit der Anwesenheit ihres Chefs hatte sie erst recht nicht gerechnet.

Alle wandten sich zur Tür.

Drei Sekunden verstrichen.

»Tut mir leid, falls ich störe.« Alice ließ den Blick einmal in die Runde schweifen, um sich der allgemeinen Aufmerksamkeit zu versichern. »Aber ich glaube, ich habe endlich eine Spur.«

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