Den Rest des Tages verbrachte Hunter im Büro. Ihm spukten tausend Fragen im Kopf herum, und doch konnte er nicht aufhören, über das nachzugrübeln, was Miguel Jalmar gesagt hatte.
Ist das wirklich der springende Punkt?, dachte er. War dies die Kernaussage der Skulptur? Konnte der Täter allen Ernstes so vermessen, so verblendet sein, dass er sich für Gott hielt? Dass er dachte, tun zu können, was immer ihm beliebte, ohne dass ihm jemand Einhalt gebot?
Hunter wusste, dass die Antwort auf diese Frage ein klares, deutliches Ja war. So etwas kam häufiger vor, als sich Kriminalpsychologen eingestehen wollten. Manche bezeichnen das Phänomen als »mörderischen Gott-Komplex«. In den meisten Fällen wird er in dem Moment ausgelöst, in dem ein Mörder erkennt, dass er oder sie eine Macht hat, die sonst nur Gott zukommt – die Macht, darüber zu bestimmen, wer lebt oder stirbt. Die Macht, zum uneingeschränkten Herrscher über den Tod zu werden. Diese Macht kann tausendmal süchtiger machen als jede Droge. Durch sie schwingt sich das ohnehin schon gestörte Ego des Täters in ungeahnte Höhen auf. Für einen Moment scheint er mit Gott auf einer Stufe zu stehen. Und ist er erst auf den Geschmack gekommen, dauert es meistens nicht lange, bis er erneut davon kosten will.
Die Skulptur stand wieder an ihrem Platz vor der Pinnwand. Hunter war nach wie vor nicht in der Lage, sich länger als eine Minute von ihrem Anblick loszureißen. Langsam, aber sicher machte sie ihn ganz wirr im Kopf.
Alice saß in einer Ecke über einen Laptop gebeugt. Ihre Aufgabe war es, die Liste der Straftäter, die Derek Nicholson ins Gefängnis gebracht hatte, in verschiedene Kategorien zu ordnen. Nach seinem Gespräch mit Bezirksstaatsanwalt Bradley hatte Hunter sie außerdem gebeten, noch eine zweite Liste anzufertigen, und zwar von allen Prozessen, die Derek Nicholson eigentlich hätte gewinnen müssen, bei denen es aber aufgrund eines Formfehlers, einer Panne bei der Verhaftung oder Beweissicherung nicht zu einer Verurteilung gekommen war. Er musste herausfinden, wer die Opfer waren, ob sie Nicholson eventuell für den verlorenen Prozess verantwortlich machten und ob sie zu irgendeiner Art von Vergeltung fähig wären.
Garcia wiederum hatte den ganzen Tag damit verbracht, Drogerien und Apotheken abzuklappern. Bislang hatte er keine gefunden, in der ein Rezept für alle drei vom Täter verwendeten Medikamente, Propafenon, Felodipin und Carvedilol, eingelöst worden war. Viel nutzte ihnen diese Erkenntnis nicht. Garcia hatte feststellen müssen, dass es ein Leichtes war, die Präparate über illegale Kanäle im Internet zu beschaffen.
Hunter warf einen Blick auf die Uhr. Es wurde allmählich spät. Er stand auf und trat zum gefühlten hundertsten Mal vor die Skulptur. »Carlos, hast du noch deine Digitalkamera hier?«
»M-hm.« Carlos zog die oberste Schreibtischschublade auf und holte eine ultradünne Kamera von der Größe eines Handys heraus. »Wieso?«
»Ich weiß auch nicht. Ich will dieses Ding von verschiedenen Seiten fotografieren.« Hunter deutete mit einem Nicken auf die Skulptur. »Mal sehen, was dabei rauskommt.«
»Das, was der Experte gesagt hat, überzeugt dich nicht so richtig?«
»Kann schon sein, dass er recht hat. Vielleicht ist der Täter wirklich wahnsinnig genug, um sich für Gott zu halten. Schließlich hat er, nicht Gott, die Entscheidung darüber getroffen, Derek Nicholsons Leben ein Ende zu setzen. Mit so viel Macht muss man erst mal umgehen können. Trotzdem bin ich nach wie vor überzeugt, dass wir irgendwas übersehen. Das Problem ist nur, je öfter ich das Ding anschaue, desto weniger erkenne ich. Vielleicht kann die Kamera helfen.«
»Einen Versuch ist es wohl wert«, meinte Garcia und ging zur Pinnwand.
»Okay. Lass uns hier anfangen.« Hunter zeigte auf eine Stelle unmittelbar vor der Skulptur. »Mach drei Bilder – eins im Stehen, also leicht von oben, eins auf gleicher Höhe und eins von unten aus der Hocke. Dann geh einen Schritt nach links und mach dasselbe noch mal. Und immer so weiter, bis wir einmal rundherum sind.«
»Okay.« Garcia machte sich ans Werk. Alle paar Sekunden flammte der Blitz seiner Kamera auf.
Alice an ihrem Schreibtisch fuhr ein wenig zu heftig zusammen.
Hunter merkte es. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Alice gab keine Antwort.
»Alice, ist alles in Ordnung?«, wiederholte Hunter die Frage.
»Ja, alles klar. Ich mag grelles Licht nur nicht so gern.«
Hunter konnte sehen, dass mehr dahintersteckte. Sie wirkte richtiggehend verängstigt, aber er verkniff sich weitere Fragen.
Garcia hatte ungefähr siebzehn Fotos gemacht, als Hunter etwas sah, bei dem es ihm den Atem verschlug. Unwillkürlich erschauerte er.
»Stopp!«, rief er und hob die Hand.
Alice sah von ihrem Laptop auf.
Garcia hielt inne.
»Nicht bewegen«, befahl Hunter. »Mach noch ein Foto aus genau derselben Position. Beweg dich keinen Zentimeter.«
»Was …? Wieso …?«
»Mach’s einfach, Carlos. Vertrau mir.«
»Also gut.« Carlos tat wie geheißen.
Hunters Herz setzte einen Schlag aus. Adrenalin flutete seine Adern. »Unmöglich«, flüsterte er.
Alice stand auf und trat zu ihnen.
»Noch eins, Carlos.«
Erneut richtete Garcia die Kamera auf die Skulptur und betätigte den Auslöser.
»Mein Gott!«
»Robert, was ist denn los?«
Hunter sah seinen Partner an. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was uns der Täter mit seiner Skulptur sagen will.«