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Die nächsten anderthalb Stunden verbrachte Hunter im Gespräch mit Garcia, Captain Blake und Alice. Er musste ihnen haarklein berichten, was sich seit dem vergangenen Abend zugetragen hatte.

»Ich muss gestehen«, meinte Alice zu Hunter. »Als du mich angerufen und mir gesagt hast, ich soll mich in die Datenbank der Sozialbehörden einhacken und nach Adoptionsunterlagen für Olivia Nicholson suchen, fand ich das ziemlich eigenartig. Trotzdem bin ich nie auf die Idee gekommen, sie könnte eine Verdächtige sein. Das Einzige, was mir bei meinen Recherchen komisch vorkam, war, wie schnell die Adoption damals über die Bühne gegangen ist. Die kalifornischen Adoptionsgesetze sind relativ lax«, fuhr sie erklärend fort. »Die einzige Voraussetzung ist, dass der Adoptierte mindestens zehn Jahre jünger sein muss als der Adoptierende. Derek Nicholson hatte gerade sein Jura-Examen gemacht. Er hatte Freunde an wichtigen Stellen. Er kannte überhaupt viele Leute.«

»Richter«, sagte Garcia.

»Unter anderem. Mit den richtigen Beziehungen und seinem juristischen Fachwissen hat er es geschafft, alles innerhalb von kürzester Zeit abzuwickeln. In der Regel dauert eine Adoption in Kalifornien zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Derek Nicholson hat weniger als neunzig Tage gebraucht, um alle notwendigen Unterlagen zu beschaffen und anerkennen zu lassen. Es wurden keine Fragen gestellt, alles hatte scheinbar seine Ordnung.«

»Man muss das Gesetz kennen, um es zu umgehen«, merkte Hunter an.

»Das ist wahr«, pflichtete Alice ihm bei. »Und wenn man einflussreiche Freunde hat, ist alles möglich.«

»Okay, aber woher hast du gewusst, dass Olivia sich heute Abend ihr nächstes Opfer holen würde?«, fragte Garcia.

»Gewusst habe ich es nicht. Ich hatte lediglich einen Verdacht, also habe ich es mit einem kleinen Bluff probiert.« Hunter fuhr sich mit den Fingerspitzen über die zwei Wunden auf seiner linken Wange. Einen Verband hatte er abgelehnt.

»Einem kleinen Bluff?«, fragte Captain Blake.

»Ich bin heute früh bei Olivia vorbeigefahren, unter dem Vorwand, dass ich neue Informationen hätte und ihr noch ein paar Fragen stellen müsste. Als Garcia und ich gestern Abend bei Olivia und ihrer Schwester zu Besuch waren, habe ich sie um ein altes Foto von ihrem Vater gebeten. Allison hatte ein Hochzeitsfoto im Wohnzimmer stehen, allerdings war Olivia diejenige, die es mir gegeben hat. Als sie es in der Hand hatte und es sich angeschaut hat, habe ich etwas in ihren Augen bemerkt – eine sehr starke Emotion, die ich zu dem Zeitpunkt noch für Trauer gehalten habe. Als ich heute Morgen dann noch mal bei ihr war, habe ich ihr das Bild zurückgegeben, und da war genau derselbe Ausdruck. Aber es war keine Trauer. Es war irgendwas viel Tiefersitzendes, viel Schmerzhafteres.« Hunter rieb sich flüchtig die Augen. »Also habe ich sie ganz spontan gefragt, ob ihr Vater mit ihr oder ihrer Schwester früher manchmal Schattentheater gespielt hat.«

»Und hast ihr damit zu verstehen gegeben, dass wir die wahre Bedeutung hinter den Skulpturen kennen«, konstatierte Alice.

Hunter nickte. »Aber Olivia ist ganz ruhig geblieben. Sie hat sich nichts anmerken lassen, nur so getan, als fände sie die Frage seltsam. Dann wollte ich noch von ihr wissen, ob ihre Mutter jemals mit ihr Schattentheater gespielt hätte, und dabei hat ihre Fassade für einen ganz kurzen Moment angefangen zu bröckeln. Ihr Blick hat sich verschleiert, und ihr Gesicht wurde ganz weich und zärtlich, bevor es dann plötzlich so hart wurde, wie ich es bis dahin überhaupt nicht von ihr kannte. Da habe ich beschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Ich habe behauptet, dass es in der Nacht eine entscheidende Wende bei den Ermittlungen gegeben hätte. Wir wären jetzt sicher, dass der Täter nur noch einen weiteren Namen auf seiner Todesliste hätte. Ich habe ihr gesagt, dass wir den Namen dieses letzten Opfers innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden herausfinden würden. Und ab dann würde er rund um die Uhr unter Polizeischutz stehen.«

Garcia schmunzelte. »Mit anderen Worten: Falls du mit deinem Verdacht recht hattest und sie tatsächlich der Totenkünstler war, hattest du ihr damit durch die Blume mitgeteilt, dass sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zuschlagen muss, wenn sie ihr letztes Opfer noch erwischen will. Du hast sie unter Zugzwang gesetzt.«

Ein erneutes Nicken von Hunter. »Aber ich hatte keine Zeit, zurück ins PAB zu fahren und einen Antrag auf Observierung zu stellen. Es gab ja nicht mal stichhaltige Gründe dafür. Ein vager Verdacht und ein Kosename – mehr hatte ich nicht in der Hand.«

»Also haben Sie beschlossen, die Dienstvorschrift – wieder mal – Dienstvorschrift sein zu lassen, und sich kurzerhand selbst zum Ein-Mann-Observierungs-Team ernannt«, stellte Captain Blake fest, aber es lag kein Tadel in ihrer Stimme.

»Nur für vierundzwanzig Stunden«, räumte Hunter ein.

»Und was hat sie gemacht?«, wollte Alice wissen.

»Den Großteil des Tages hat sie nicht mal das Haus verlassen.«

»Wahrscheinlich musste sie einen neuen Plan austüfteln«, meinte Captain Blake.

»Als sie dann schließlich doch aufgebrochen ist, ist sie nach Woodland Hills gefahren, wo sie sich auf einem Parkplatz mit Scott Bradley getroffen hat. Er ist von seinem Wagen in ihren umgestiegen.«

Alle runzelten verwirrt die Stirn.

»Meine Vermutung ist, dass Olivia schon seit längerem Kontakt zu Scott hatte. Er ist verheiratet, hat aber eine Schwäche für schöne Frauen, erst recht, wenn sie ihm sagen, dass sie devot sind. Olivia wusste genau, womit sie ihn ködern konnte. Ich bin mir sicher, sie war seit Tagen an ihm dran.«

»Das erklärt auch die veränderte Vorgehensweise«, warf Garcia ein. »Alle vorherigen Morde fanden an Orten statt, an denen sich die Opfer sicher fühlten – bei Nicholson zu Hause, auf Dupeks Boot, in Littlewoods Praxis. Scott Bradley hatte eine Frau und zwei Töchter, das machte es schwierig, ihn zu Hause zu töten. Ein eigenes Büro besaß er auch nicht. Er war Aktienbroker und hat in einem Großraumbüro gearbeitet.«

Hunter nickte zustimmend.

»Also hat sie ihn angerufen und gesagt, dass sie ihn an dem Abend sehen will«, sagte Alice. »Bestimmt hat er sofort alles stehen und liegen lassen.«

»Sie hatte nie vor, lebend aus der Sache rauszukommen, oder? Auch wenn wir sie nicht gefasst hätten.« Diese Feststellung kam von Captain Blake. »Es stand von vorneherein fest, dass sie nicht ins Gefängnis gehen würde. Sie wusste, dass sie die Sache nicht überleben würde.«

Hunter schwieg.

»Indem Derek Nicholson ihr alles gebeichtet hat«, sagte Alice, »hat er sie seelisch vernichtet. So eine Wahrheit – das war mehr, als sie ertragen konnte. Wenn man aus heiterem Himmel erfährt, dass man sein ganzes Leben lang belogen worden ist, dass die eigene Mutter brutal ermordet, zerstückelt und wie Müll entsorgt wurde – und wenn einem dann noch gesagt wird, wer die Täter waren, man aber gleichzeitig weiß, dass sie niemals für ihr Verbrechen bestraft wurden und auch keine Strafe mehr zu erwarten haben, was tut man dann? Wie soll man jemals wieder ein normales Leben führen, wenn man dieses Wissen mit sich rumträgt? Für sie wäre jeder Tag eine Qual gewesen, ganz egal ob im Gefängnis oder in Freiheit.«

»Olivia hat ihr Leben geopfert, damit ihrer Mutter Gerechtigkeit widerfährt«, sagte Hunter. »Eine Gerechtigkeit, die unser Rechtssystem ihr niemals hätte geben können. Letzten Endes haben diese vier Männer die Mutter und die Tochter getötet.«

Ein beklommenes Schweigen senkte sich über sie.

»Ich weiß ja, dass wir nur unsere Pflicht getan haben«, meinte Captain Blake schließlich mit einem Kopfschütteln. »Aber vielleicht hätten wir uns damit nicht ganz so beeilen sollen. Ich für meinen Teil hätte nichts dagegen gehabt, wenn es Olivia Nicholson gelungen wäre, alle vier zu beseitigen. Absolut nichts. Scott Bradley, dieses Schwein, ist noch mal mit einem blauen Auge davongekommen – beziehungsweise mit einem abgeschnittenen Finger. Verdient hätte er weit Schlimmeres. Er behauptet übrigens, Sie hätten ihn bewusstlos geschlagen.«

Da Hunter nichts sagte, fuhr Blake fort. »Wenn Sie mich fragen, hat es sich so abgespielt: Er war in einem emotionalen Ausnahmezustand, darunter kann die Realitätswahrnehmung schon mal ein bisschen leiden. In Wirklichkeit hat er sich bloß eingebildet, Sie hätten ihn geschlagen.« Sie hielt inne, und ihr Blick ging durch den Raum. »Ja, die Erklärung klingt für mich absolut plausibel.«

Als Nächstes berichtete Garcia von den Ereignissen in Pomona. Ken Sands befand sich in Polizeigewahrsam, und Garcia würde Detective Ricky Corbí anrufen, der die Ermittlungen im Mordfall Tito leitete, um ihn davon zu unterrichten. Sands war sein Hauptverdächtiger.

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