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Minuten nachdem Hunter und Garcia in ihrem Büro eingetroffen waren, kam Captain Blake zur Tür hereingerauscht. Alice Beaumont war bereits da.

»Diesmal war der Tote ein Psychotherapeut?«, fragte Blake. Sie las von einem Blatt Papier ab, das sie bei sich hatte.

»Stimmt«, sagte Garcia. »Nathan Littlewood, zweiundfünfzig Jahre alt, geschieden, allein lebend. Seine Exfrau wohnt mit ihrem neuen Ehemann in Chicago. Sie haben ein gemeinsames Kind, Harry Littlewood, wohnhaft in Las Vegas. Er geht da aufs College. Nathan selbst hat sein Examen an der UCLA gemacht. Ist seit fünfundzwanzig Jahren Mitglied im Berufsverband der Psychologen. Seit achtzehn Jahren betreibt er eine Praxis in Silver Lake. Er wohnt in einer Dreizimmerwohnung in Los Feliz, die werden wir uns später noch ansehen. In seiner Praxis hatte er hauptsächlich mit ganz alltäglichen psychischen Problemen zu tun – Depressionen, Beziehungskrisen, mangelnde Selbstachtung, Unzulänglichkeitsgefühle und so weiter.«

Captain Blake hob die Hand, um Hunters Redefluss zu stoppen. »Sekunde mal. Was ist mit Aufträgen von der Polizei? Hat er das LAPD jemals bei einem Fall beraten?«

»So weit waren wir auch schon, Captain«, gab Garcia zurück, der emsig auf seiner Computertastatur tippte. »Falls ja, dann könnte sich eine Verbindung zu den anderen beiden Toten ergeben, was wiederum die Theorie eines Rachemotivs stärken würde. Wir überprüfen das, aber dazu müssen wir Unterlagen aus fünfundzwanzig Jahren durchackern, und überhaupt erst an diese Unterlagen zu kommen ist nicht so einfach, wie es sich vielleicht anhört. Wir sind gerade erst vom Tatort zurück, aber ich habe schon ein kleines Team zusammengestellt, das sich darum kümmern soll.«

Captain Blakes fragender Blick wanderte zu Alice. Die war darauf vorbereitet.

»Ich habe die Infos eben erst bekommen«, sagte sie. »Ich habe also noch nicht mit den Nachforschungen angefangen, aber wenn Nathan Littlewood jemals in irgendeiner Weise an einer polizeilichen Ermittlung beteiligt war, werde ich das rausfinden.«

Captain Blake trat zur Pinnwand und betrachtete aufmerksam die neuen Tatortfotos. Der Unterschied fiel ihr sofort ins Auge. »Der Körper ist voller Schnittwunden und Blutergüsse. Wurde er gefoltert?«

»Ja«, sagte Hunter. »Wir müssen noch auf das Ergebnis der Autopsie warten, aber Dr. Hove hat die Vermutung geäußert, dass der Täter sein Opfer gequält hat, bis es starb, erst dann fing er an, die Gliedmaßen abzutrennen.«

Blake war sofort ganz Ohr. »Aus welchem Grund?«

»Das wissen wir nicht.«

»Bei seinen ersten beiden Opfern hat der Täter doch nichts dergleichen getan. Die Amputationen waren die Folter. Warum ist das hier auf einmal anders?«

»Wir wissen es nicht, Captain«, sagte Hunter erneut. »Es könnte sein, dass sich seine Wut hochschaukelt, aber am wahrscheinlichsten ist, dass er individualisiert.«

»Und das bedeutet was genau?«

»Dass jedes seiner Opfer neue, ganz eigene Empfindungen in ihm wachruft. Diese Empfindungen werden sehr wahrscheinlich durch die Reaktionen des Opfers beeinflusst. Manche Opfer sind zu verängstigt, um Widerstand zu leisten. Andere kooperieren mit dem Täter oder versuchen, auf ihn einzureden, weil sie denken, dass sie sich dadurch irgendwie einen Vorteil verschaffen können. Wieder andere begehren vielleicht auf, schreien oder wehren sich … sie tun alles, nur nicht aufgeben. Jeder Mensch reagiert anders auf Angst und Gefahr.«

»Und die Reaktion dieses Opfers hat den Täter vielleicht so richtig in Rage gebracht«, schloss Captain Blake.

Hunter nickte. »Sofern er Gelegenheit und Nerven hatte, hat Littlewood garantiert versucht, als Psychologe mit dem Täter zu sprechen. Ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Vielleicht hat der Täter seine Art in irgendeiner Weise als herablassend empfunden und ist explodiert. Wir wissen nicht, was vor dem Mord passiert ist, Captain. Wir wissen nur, dass bei dieser Tat deutlich mehr Wut im Spiel war als bei den letzten beiden.«

»Mehr Wut?« Captain Blake betrachtete die Tatortfotos der vorangegangenen Morde. »Wie ist das denn überhaupt noch möglich?«

»Die Schnitte und Hämatome am Körper der Leiche deuten darauf hin, dass der Täter das Leiden seines Opfers so weit wie möglich in die Länge ziehen wollte. Er wollte einen qualvollen Tod, und das wäre unmöglich gewesen, wenn er zu früh mit den Amputationen begonnen hätte. Littlewoods Sekretärin hat das Büro gegen neunzehn Uhr dreißig verlassen. Wir haben noch keine endgültige Bestätigung, aber ich vermute, dass der Täter kurze Zeit später zugeschlagen hat. Wenn das stimmt, dann standen ihm mindestens zehn Stunden zur Verfügung.« Hunter deutete auf das Foto von Littlewoods verstümmelter Leiche auf dem Stuhl. »Und die meisten davon hat er genutzt, um ihn zu foltern.«

»Und niemand hat einen Mucks gehört?«

»Es ist ein kleines Gebäude mit kleinen Büros«, erklärte Garcia. »Fast alle waren schon nach Hause gegangen. Als Letzter ein Grafikdesigner aus dem ersten Stock, der um Viertel nach acht Feierabend gemacht hat. Es gibt keine Überwachungskameras im Gebäude.«

»Falls sich Dr. Hoves Verdacht bewahrheitet«, fuhr Hunter fort, »hat der Täter seine Vorgehensweise bei den Amputationen ebenfalls geändert.«

»Was soll das heißen?«

»Bei den ersten beiden Opfern waren die Eingriffe ziemlich professionell durchgeführt«, antwortete Garcia. »Beim dritten nicht. Dr. Hove meinte, es gebe Anzeichen auf Hacken und Reißen. Das Werk eines Metzgers, nicht das eines Chirurgen.«

Captain Blake stieß besorgt den Atem aus. »Okay, und was zum Henker sagt uns die neue Skulptur? Ich nehme mal an, es gibt auch diesmal wieder ein Schattenbild?«

»Nein«, sagte Garcia.

»Was?«

»Es gibt zwei.«

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