Es war kurz vor ein Uhr nachts, als Hunter endlich in seine Wohnung zurückkam. Er musste dringend duschen. In der Kajüte war so viel Blut gewesen, dass er trotz Schutzkleidung das Gefühl hatte, etwas davon würde an seiner Haut und sogar an seiner Seele kleben.
Er lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die weißgekachelte Wand der Duschkabine und ließ sich vom starken, heißen Wasserstrahl die verspannten Nacken-und Schultermuskeln massieren. Langsam fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. Dabei streiften seine Fingerspitzen die hässliche Narbe in seinem Nacken, und er betastete kurz die raue, wulstige Haut. Sie war eine Mahnung, ja nicht zu vergessen, wie zielstrebig, wie gefährlich ein böser Verstand sein konnte. Nicht dass es dieser Mahnung bedurft hätte. Obwohl sie bereits mehrere Jahre zurücklag, war seine Begegnung mit dem Ungeheuer, das die Presse auf den Namen »Kruzifix-Killer« getauft hatte, noch so frisch in seinem Gedächtnis, als wäre sie erst wenige Minuten her. Die schmerzhafte Narbe in seinem Nacken würde ihn auf ewig daran erinnern, wie nahe er und Garcia dem Tod gekommen waren.
Schlimm war nur die Erkenntnis, dass es letztlich vollkommen egal war, was er tat oder wie schnell und hart die Polizei arbeitete. Sie konnten niemals Schritt halten. Kaum hatten sie einen wahnsinnigen Mörder hinter Gitter gebracht, tauchten zwei, drei, vier neue auf. Das Verhältnis fiel immer zu ihren Ungunsten aus. Es war eine traurige Ironie, dass die Stadt der Engel mehr Böses hervorzubringen schien als jede andere Stadt in den USA.
Hunter wusste nicht, wie lange er unter der Dusche stand, doch als er endlich die bösen Erinnerungen verdrängt und das Wasser abgedreht hatte, war seine braungebrannte Haut gerötet, und seine Fingerspitzen waren runzlig wie Backpflaumen.
Er trocknete sich ab, schlang sich ein frisches weißes Handtuch um die Hüften und ging zurück ins Wohnzimmer. Sein Barschrank war klein, doch die beeindruckende Sammlung von Single Malt darin verriet den Whiskykenner. Hunter brauchte jetzt etwas Kräftiges, aber zugleich auch Sanftes und Beruhigendes. Er suchte nicht lange. Die Wahl war getroffen, sobald sein Blick auf die Flasche fünfzehn Jahre alten Balvenie Single Barrel fiel.
Hunter goss sich einen großzügigen Schluck ein, gab ein wenig Wasser dazu und ließ sich auf das schwarze Kunstledersofa fallen. Er gab sich alle Mühe, nicht an den Fall zu denken, aber die Bilder der letzten Tage hatten sich in seinem Kopf eingenistet und kreisten nun unablässig darin herum. Garcia und er waren gerade ansatzweise hinter den Sinn der ersten Skulptur gekommen, aber noch ehe sie Gelegenheit hatten, ihre wahre Bedeutung zu entschlüsseln, konfrontierte sie der Täter schon mit einem zweiten Opfer, einer zweiten Skulptur und einem zweiten Schattenbild, das noch rätselhafter war als das erste. Er hatte keine Ahnung, wo er ansetzen sollte.
Hunter trank einen großen Schluck von seinem Whisky und konzentrierte sich ganz auf das Geschmackserlebnis. Der höhere Alkoholgehalt verlieh dem Single Malt etwas mehr Intensität, ohne das vollmundige, fruchtige Aroma zu beeinträchtigen.
Wenige Minuten und einen Schluck später setzte allmählich die Entspannung ein, als plötzlich Hunters Handy zu klingeln anfing.
Aus Reflex warf er einen Blick auf die Uhr. »Das darf doch wohl nicht wahr sein.« Er ließ sein Handy aufschnappen und hob es ans Ohr. »Detective Hunter.«
»Robert, hier ist Alice.«
Hunter zog die Brauen zusammen. »Alice …? Was gibt’s?«
»Na ja, ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht was trinken gehen wollen.«
»Was trinken …? Es ist fast zwei Uhr morgens.«
»Das weiß ich.«
»Dann wissen Sie ja wahrscheinlich auch, dass wir in Los Angeles sind, wo so ziemlich jede Bar um zwei Uhr schließt.«
»Ja, das weiß ich auch.«
»Und macht das Ihr Vorhaben, was trinken zu gehen, nicht mehr oder weniger zunichte?«
Eine kurze Pause.
»Vielleicht könnten Sie mich ja zu sich nach Hause einladen, und wir könnten bei Ihnen was trinken?«
Hunter runzelte die Stirn. »Sie wollen hierherkommen und bei mir was trinken?«
»Na ja, ich bin sowieso gerade in der Gegend. Ich könnte in … zwei Minuten da sein. Oder auch schneller.«
Instinktiv ging Hunters Blick zum Wohnzimmerfenster. Er hatte noch keine Zeit gehabt, es zu überprüfen, war sich jedoch relativ sicher, dass Alice Beaumont nicht in diesem Teil der Stadt wohnte. Zwei Minuten von seiner Wohnung entfernt befand man sich ziemlich genau in der Mitte von Nirgendwo. Oder auf Gang-Territorium.
Er zögerte.
»Könnte sein, dass ich was rausgefunden habe«, sagte Alice.
»Was denn?«
»Ich glaube, ich weiß jetzt, was die Schattenbilder bedeuten.«