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Das Aufheulen einer Polizeisirene in der Ferne zerriss die unheimliche Stille, die sich in Hunters Wohnzimmer ausgebreitet hatte. Alice versuchte, in Hunters Gesicht zu lesen, aber es gelang ihr nicht.

»Der Täter lässt uns wissen, was er von Derek Nicholson hält«, sagte Alice. »Er sagt uns, dass Derek in seinen Augen ein Lügner, Betrüger und Schwindler ist.« Sie hob abwehrend die Hand, noch ehe Hunter etwas darauf erwidern konnte. »Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Derek war Anwalt, und viele Menschen sind der Meinung, dass Anwälte gewissermaßen von Berufs wegen nichts anderes tun als lügen und betrügen.«

Hunter schwieg.

»Aber Derek war kein Rechtsverdreher oder einer dieser Winkeladvokaten, die es nur auf Unfallmandate abgesehen haben, weil die viel Geld bringen. Er war Staatsanwalt. Er hatte einen einzigen Mandanten, und zwar den Staat Kalifornien. Seine Aufgabe war es, Angeklagten, die vom LAPD oder der California State Police gefasst worden waren, den Prozess zu machen. Sein Gehalt bemaß sich nicht danach, ob er einen Prozess gewonnen oder verloren hat oder wie viel Geld er aus der Gegenseite herauspressen konnte.«

Noch immer sagte Hunter nichts.

Alice wurde lebhafter. »Der springende Punkt ist doch der: Ich glaube kaum, dass der Täter sich selbst als Betrüger sieht. Er meint definitiv Derek, aber nicht in dessen Funktion als Staatsanwalt. Da muss es noch einen anderen Grund geben. Einen, auf den wir noch nicht gestoßen sind.«

»Sind Sie mit der Liste der Straftäter, die Derek Nicholson im Laufe seiner Karriere ins Gefängnis gebracht hat, schon weitergekommen?«, erkundigte sich Hunter.

»Bis jetzt noch nicht«, sagte Alice und stand auf. »Ich habe niemanden gefunden, der zu einer Tat solchen Ausmaßes fähig wäre, weder unter den entlassenen Straftätern noch unter den Angehörigen oder Freunden. Aber falls es ihn gibt, kriege ich ihn. Haben Sie was dagegen, wenn ich mir noch ein Bier hole?« Sie zeigte in Richtung Küche.

»Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«

Alice öffnete Hunters Kühlschrank und runzelte die Stirn, als sie die gähnende Leere sah, die darin herrschte. »Wow, wovon ernähren Sie sich eigentlich? Proteinshakes, Scotch und …« Sie ließ den Blick einmal rasch durch die Küche wandern. »Luft?«

»So essen Sieger«, gab Hunter zurück. »Wie sieht es mit denen aus, die Nicholson nicht ins Gefängnis gebracht hat? Die wegen eines Formfehlers oder aus anderen Gründen einer Haftstrafe entgangen sind? Was ist mit ihren Opfern? Denen, die vielleicht das Gefühl hatten, dass der Staat in seiner Pflicht versagt hat. Wäre es denkbar, dass sich einer von ihnen gerächt hat? Ist bekannt, ob Derek Nicholson jemals von einem dieser Leute für einen verlorenen Prozess verantwortlich gemacht wurde?«

Alice goss das neue Bier in ihr Glas und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück. »Ich muss zugeben, dass ich noch keine Zeit hatte, das zu überprüfen. Aber verlassen Sie sich darauf, wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Mord an Derek und einem seiner Fälle gibt, dann finde ich ihn.«

Hunter musterte Alice. Ihre gelassene, souveräne Art zu sprechen verriet ihm, dass ihr Selbstbewusstsein nicht nur Großspurigkeit und Angeberei war. Eine erstaunliche Tatsache, wenn man bedachte, dass sie für Bezirksstaatsanwalt Bradley arbeitete – den großspurigsten, selbstverliebtesten Gesetzesvertreter in ganz Kalifornien. Nein, ihr Selbstvertrauen gründete sich auf mehr als hohle Worte. Es war buchstäblich ein Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten.

»Das zweite Mordopfer …«, fragte Alice, bevor sie ihr Bierglas an die Lippen hob. »War das auch ein Anwalt oder Staatsanwalt?«

Hunter stand auf und trat ans Fenster. »Schlimmer. Ein Polizist beim LAPD.«

Alices Augen wurden groß vor Erstaunen, während sie sich in Gedanken die Konsequenzen auszumalen versuchte.

»Er hieß Andrew Dupek«, sagte Hunter.

»War er Detective?«

»Bis vor acht Jahren.«

Sie wollte trinken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Was ist passiert?«

»Dupek hat in Inglewood einen Verdächtigen verfolgt und wurde in den Bauch geschossen. Das Ergebnis: eine kollabierte Lunge, ein Monat im Krankenhaus und dann ein halbes Jahre Beurlaubung. Danach konnte er nicht mehr im aktiven Dienst arbeiten, deswegen hat er einen Schreibtischjob im South Bureau angenommen.«

»Und wie lange hat er davor als Detective gearbeitet?«

Hunter konnte sehen, dass Alice mitdachte. »Zehn Jahre.«

Ein Leuchten trat in Alices Augen. Ihr schien derselbe Gedanke gekommen zu sein wie der, den Hunter einige Stunden zuvor gehabt hatte.

»Er und Derek könnten doch zusammen an einem Fall gearbeitet haben«, sagte sie. »Oder sogar an mehreren. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Da kann man viele Verbrecher fangen.«

Hunter sah das genauso.

»Derek war sechsundzwanzig Jahre lang Staatsanwalt.« Alice war kaum noch zu bremsen. »Da ist die Wahrscheinlichkeit doch groß, dass er mindestens einem Straftäter den Prozess gemacht hat, der von … wie hieß er noch gleich?«

»Andrew Dupek.«

»Dupek verhaftet wurde.«

Auch dieser Schlussfolgerung konnte Hunter nicht widersprechen.

»Das könnte unsere erste richtige Spur sein. Vielleicht sogar der Durchbruch. Ich prüfe das nach. Mal sehen, was ich finden kann.«

Hunter sah auf die Armbanduhr. »Ja, aber nicht jetzt. Wir brauchen beide Schlaf.«

Alice nickte, machte allerdings keine Anstalten, aufzustehen. Ihr Blick ruhte auf Hunter. »Sie haben gesagt, es gibt eine zweite Skulptur.«

Hunter schwieg.

»Hatten Sie schon Gelegenheit, sie sich anzusehen? Gab es diesmal auch Schattenbilder?«

»Alice, haben Sie gehört, was ich gesagt habe? Wir brauchen Schlaf. Und Sie müssen wenigstens für ein paar Stunden aufhören, an den Fall zu denken.«

»Es gab welche, oder? Jetzt haben wir noch mehr Anhaltspunkte. Einen neuen Hinweis vom Mörder. Ein neues Schattenbild. Was stellt es dar?«

»Das wissen wir noch nicht«, log Hunter.

»Natürlich wissen Sie das«, widersprach Alice. »Warum wollen Sie es mir nicht sagen?«

»Weil Sie, wenn ich es Ihnen sage, nach Hause gehen, sich an Ihren Computer setzen und so lange im Internet surfen, bis Sie irgendwas ausgegraben haben. Und wir brauchen Schlaf. Das schließt Sie mit ein. Lassen Sie es gut sein. Genehmigen Sie Ihrem Hirn ein paar Stunden Ruhe, sonst sind Sie bald ausgebrannt.«

Alice schlenderte zum Sideboard, auf dem mehrere gerahmte Fotos standen. Sie griff nach dem Foto ganz rechts. Es zeigte einen jungen, strahlenden Hunter in schwarzer Robe bei seiner College-Abschlussfeier. Neben ihm stand sein Vater, dessen Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran ließ, dass er an diesem Tag der stolzeste Vater der Welt war. Sie betrachtete das Bild lächelnd und stellte es zurück aufs Sideboard, bevor sie sich zu Hunter umdrehte. »Du erinnerst dich überhaupt nicht mehr an mich, oder?«

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