18

Hunter und Garcia legten gleichzeitig ihre Hörer auf. Hunter faltete die Hände, stützte beide Ellbogen auf die Armlehnen seines Schreibtischstuhls und lehnte sich zurück.

»Also gut«, sagte er und drehte sich zu seinem Partner um. »Ich weiß, es ist ein Schuss ins Blaue, aber da alle drei Medikamente, die die Toxikologie nachgewiesen hat, verschreibungspflichtig sind, fangen wir am besten damit an, dass wir in Drogerien und Apotheken nachfragen, ob irgendwo alle drei Medikamente auf einmal ausgegeben wurden. Soll heißen, auf ein und dasselbe Rezept für ein und dieselbe Person. Wer weiß, vielleicht haben wir ja Glück.«

Garcia war bereits in die E-Mail vertieft, die sie soeben von Dr. Hove erhalten hatten, und schrieb sich die Namen aller drei Arzneimittel auf.

»Wie steht es mit der Liste von Verbrechern, denen Nicholson den Prozess gemacht hat?«, erkundigte sich Hunter.

»Liegt noch nicht vor, aber das Team arbeitet dran.«

»Sag ihnen, wir müssen die Liste nach neuen Kriterien ordnen. Sie sollen prüfen, ob irgendjemand auf der Liste über eine medizinische Ausbildung verfügt oder in einem Krankenhaus, Pflegeheim oder Fitnessstudio gearbeitet hat.«

Garcia wackelte fragend mit den Brauen.

»Fitnessstudio-Mitarbeiter und Personal Trainer müssen in Erster Hilfe geschult sein«, erklärte Hunter. »Wenn einer von denen auch nur weiß, wie man ein Pflaster richtig aufklebt, dann will ich darüber Bescheid wissen.«

Es klopfte.

»Herein«, rief Hunter vom Schreibtisch.

Die Tür öffnete sich, und eine zierliche, ausnehmend hübsche Frau in einem dunklen Kostüm trat ein. Sie hatte lange, glatte blondierte Haare und tiefbraune Augen. In der rechten Hand trug sie einen Aktenkoffer aus schwarzem Leder. Ihr Erscheinungsbild ließ keinen Zweifel daran, dass sie entweder Anwältin war oder für einen Anwalt arbeitete.

»Detective Hunter?«, fragte sie, wobei sie sofort Blickkontakt aufnahm.

»Ja. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?« Hunter erhob sich.

Die Frau machte einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin.

»Ich bin Alice Beaumont. Ich arbeite für das Büro des Bezirksstaatsanwalts. Also, für Bezirksstaatsanwalt Bradley persönlich. Er sagte, Sie könnten im Fall Nicholson meine Hilfe brauchen.« Sie schüttelte Hunters Hand mit festem, selbstsicherem Griff.

Garcia runzelte die Stirn.

Hunter nahm sich einen Augenblick Zeit, die Frau zu mustern. Aus ihren Augen sprach Intelligenz – sowohl die Art, wie man sie an Universitäten lernt, als auch die, die man sich auf der Straße aneignet. Ihm entging nicht, dass sie den Blick aufmerksam, aber unauffällig durch den Raum schweifen ließ. Nach nicht einmal zwei Sekunden hatte sie alles gesehen. Sie kam ihm vage bekannt vor.

»Bezirksstaatsanwalt Bradley hat mir Ihre Karte gegeben«, sagte er. »Aber vielleicht habe ich ihn falsch verstanden. Ich dachte, er hätte gesagt, ich soll Sie anrufen, falls wir Ihre Hilfe brauchen.«

»Glauben Sie mir, Detective, Sie brauchen meine Hilfe.« Ihr Tonfall drückte ebenso viel Selbstbewusstsein aus wie ihre Körperhaltung. Als Nächstes wandte sie sich an Garcia. »Sie müssen Detective Carlos Garcia sein.«

»Die Legende höchstpersönlich«, witzelte dieser und schüttelte ihr die Hand.

Alice lächelte nicht; stattdessen ging sie zu Hunters Schreibtisch, legte ihren Aktenkoffer darauf ab, ließ den Deckel aufschnappen und holte mehrere zusammengeheftete Blätter heraus.

»Das hier ist eine Liste sämtlicher Straftäter, die direkt oder indirekt durch Derek Nicholsons Zutun ins Gefängnis gekommen sind.« Sie reichte die Blätter an Hunter weiter. »Da stehen einige ziemlich unangenehme Zeitgenossen drauf. Sie ist nach Schwere der Verbrechen geordnet – extrem brutale und sadistische Gewalttaten stehen ganz oben –, außerdem nach Personen, die entlassen wurden oder auf Bewährung beziehungsweise Kaution draußen sind.« Ihr Blick pendelte zwischen Hunter und Garcia hin und her. »Ich habe es bereits überprüft: Kein Gewaltverbrecher, dem Nicholson den Prozess gemacht hat, wurde kürzlich freigelassen – weder auf Bewährung noch nach verbüßter Haftstrafe. Geflohen ist auch keiner. Denjenigen, die minderschwere Straftaten begangen und ihre Zeit abgesessen haben oder, aus welchen Gründen auch immer, frühzeitig entlassen wurden, traue ich nicht zu, dass sie zu einem Verbrechen wie dem hier fähig sind.«

»Sie würden sich wundern, wozu die Leute fähig sind«, meinte Garcia und gesellte sich zu Hunter, um ebenfalls einen Blick auf die Liste zu werfen. »Gerade die, denen man es nicht zutraut.«

»Sie haben die dazugehörigen Akten gelesen?«, wollte Hunter wissen.

»Die wichtigsten, ja.«

»Und wer hat über ihre Wichtigkeit entschieden, Sie?«

Darauf gab Alice keine Antwort.

Hunter fixierte sie einen Moment lang, ehe er in der Liste zu blättern begann. Sie enthielt mehr als neunhundert Namen. »Sie sagten eben, keiner der Gewaltverbrecher auf dieser Liste sei kürzlich freigekommen. Was meinen Sie mit ›kürzlich‹?«

»Innerhalb des letzten Jahres.«

»Wir müssen weiter zurückgehen«, sagte Hunter.

»Kein Problem. Wie weit hätten Sie’s denn gern?«

»Fürs Erste fünf Jahre, vielleicht auch zehn.«

»Geben Sie mir einen Computer mit schnellem Internetzugang und ein paar Minuten Zeit, und Sie kriegen, was Sie wollen.«

»Ich muss wissen, wofür jede einzelne Person auf dieser Liste vor Gericht stand.«

»Das steht doch drauf, direkt neben Name und Alter«, sagte Alice leicht kratzbürstig und deutete mit dem Kinn zur Liste.

Hunters Blick ruhte auf ihrem Gesicht. »Da steht ›Mord‹, ›Mord im besonders schweren Fall‹, ›bewaffneter Raubüberfall‹ und so weiter. Wir müssen genau wissen, um welche Verbrechen es sich handelt und wie sie begangen wurden. Welche Waffen wurden benutzt? War der Tatort ungewöhnlich blutig? Hat der Täter im Affekt gehandelt, oder hat ihm die Ausübung von Gewalt Vergnügen bereitet? Wir brauchen exakte Angaben.«

»Wie gesagt, kein Problem. Geben Sie mir einfach einen Rechner.«

»Außerdem müssen wir zu den Namen auf der Liste sämtliche Familienangehörigen, Verwandten oder Mitglieder derselben Gang finden, die auf freiem Fuß sind und irre genug sein könnten, stellvertretend für jemand anderen Rache zu nehmen.«

»Kein Problem.«

Hunter sah auf die Liste, dann zu Garcia und dann wieder zu Alice. »Sie sind sich Ihrer Fähigkeiten ja sehr sicher. Halten Sie sich für so gut?«

Einen Moment lang erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. »Sogar für noch besser«, gab sie seelenruhig zurück. »Besorgen Sie mir einen Rechner, und ich mache mich sofort an die Arbeit.« Sie zeigte auf die Liste in Hunters Händen. »Bis dahin haben wir immerhin schon mal einen Anfang.«

Eine Weile sagte niemand etwas.

Bis Garcia schließlich fragte: »Wir …?«

»Bezirksstaatsanwalt Bradley wünscht, dass ich Ihnen, so gut ich kann, unter die Arme greife. Das heißt doch, wir sind ein Team, oder nicht?« Ihr Blick kehrte zu Hunter zurück.

»Ms Beaumont«, sagte dieser und legte die Liste auf seinen Schreibtisch. »Dies hier ist das Morddezernat, nicht der Club Med. Wir sind uns bewusst, dass Bezirksstaatsanwalt Bradley so schnell wie möglich Ergebnisse sehen möchte, und uns geht es genauso. Wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen, und diese Liste ist ein guter Ansatzpunkt für uns, da gebe ich Ihnen zu hundert Prozent recht. Aber ich habe gar nicht die Befugnis, irgendjemanden in diese Ermittlung mit einzubeziehen, ohne das vorher mit meinem Captain abzuklären. Und mein Captain ist in der Regel alles andere als begeistert, wenn Zivilisten in den Angelegenheiten des Dezernats mitmischen.«

Alice lächelte und trat zur Pinnwand, an der die Tatortfotos aufgehängt waren. Sie hatte einen sinnlichen Gang. Langsam und geschmeidig, als wüsste sie genau, dass Männer sie gerne beim Gehen beobachteten.

»Nur nicht so bescheiden, Detective. Sie haben absolut die Befugnis, jemanden in Ihr Team zu holen, wenn Sie das wollen«, gab sie ohne jede Spur von Aggression zurück. »Ich habe mich erkundigt. Hier tanzen alle nach Ihrer Pfeife. Aber wie dem auch sei, Bezirksstaatsanwalt Bradley hat mit Polizeichef Martin Collins gesprochen, und der wiederum hat mit Ihrem ›alles andere als begeisterten‹ Captain gesprochen. Ihr blieb gar keine Wahl. Und ich fürchte, für Sie gilt dasselbe. Bezirksstaatsanwalt Bradley kriegt immer seinen Willen.«

Hunter war erfahren genug, um einzusehen, dass weiterer Protest nicht das Geringste an der Situation ändern würde. Er hasste es, wenn sich andere Leute in seine Ermittlungen einmischten und ihm vorschrieben, was er zu tun und zu lassen hatte – daher auch sein Ruf als jemand, der sich nicht immer sklavisch an die Dienstvorschrift hielt. Aber das LAPD hatte eine klare Hierarchie, und in der rangierte er ziemlich weit unten. In manchen Situationen musste der Klügere eben nachgeben, und das hier sah verdammt noch mal nach genau so einer Situation aus. Er seufzte schicksalsergeben.

Alices Blick streifte die Fotos an der Pinnwand. »O mein Gott«, entfuhr es ihr. Hastig wandte sie sich ab.

Hunter fixierte sie erneut.

»Ich habe Derek gut gekannt«, sagte sie in weicherem Tonfall. »Ich habe bei Dutzenden von Fällen für ihn recherchiert und ihm dabei geholfen, viele der Leute auf der Liste da hinter Gitter zu bringen. Er war ein anständiger Mensch, und so einen Tod hat er nicht verdient. Ich will für Sie arbeiten. Und ich weiß, dass ich es kann, weil ich nämlich auf meinem Gebiet die Beste bin. Bitte geben Sie mir die Chance, Ihnen dabei zu helfen, das Schwein zu kriegen, das Derek auf dem Gewissen hat.«

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