46

Ein leises Lächeln flog über Alices Lippen, bevor sie vier Kopien eines Verbrecherfotos aus ihrer grünen Plastikmappe zog.

»Das ist Alfredo Ortega.«

Sie reichte jedem eine Kopie. Das Foto sah alt aus. Der darauf abgebildete Mann hatte ein asymmetrisches Gesicht mit kantigem Kinn, einer spitzen Nase, Ohren, die für seinen Kopf zu klein waren, schiefen Zähnen und fleischigen Lippen – nicht gerade die Attraktivität in Person. Seine Haare waren mitternachtsschwarz und reichten ihm bis über die Schultern.

»Okay«, sagte Captain Blake. »Finster genug sieht er schon mal aus. Was ist das für ein Kerl?«

»Also, Mr Ortega war ein amerikanischer Staatsbürger mexikanischer Abstammung. Er hat als Packer und Gabelstaplerfahrer in einer Lagerhalle in East L. A. gearbeitet. Ein Hüne – eins dreiundneunzig groß und einhundertzehn Kilo schwer. Die Art Mann, mit der man besser keinen Streit anfängt. Eines regnerischen Tages im August klagte er auf der Arbeit über Bauchschmerzen, angeblich hatte er was Falsches gegessen. Am Nachmittag hatte sein Chef schließlich Mitleid mit ihm und hat ihm den Rest des Tages freigegeben. Ortega war zu dem Zeitpunkt seit zwei Jahren verheiratet – Kinder hatte er keine. Er kam also früher als gewöhnlich nach Hause und hat seine Frau Pam im Bett mit einem anderen Mann erwischt. Einem seiner Kumpels, mit dem er öfter mal ein Bier trinken ging, um genau zu sein.«

Garcia verzog das Gesicht. »Das hört sich nicht gut an.«

Alice verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, dann fuhr sie fort. »Statt auszurasten und die beiden zur Rede zu stellen, ist Ortega einfach klammheimlich verschwunden. Er ist nach San Bernardino gefahren, wo die Familie seiner Frau wohnte, und hat dort ihre Mutter, ihren Vater, ihre Großmutter und ihren jüngeren Bruder getötet. Den Hund hat er am Leben gelassen. Nach dem Blutbad hat er den Leichen die Köpfe abgeschnitten und sie auf den Küchentisch gestellt.«

Vier besorgte Augenpaare waren auf Alice gerichtet. Sie wartete einen Moment, um die Spannung zu steigern.

»Dann ist Ortega zurück nach L. A. zum Haus des Freundes gefahren. Der war zum fraglichen Zeitpunkt bereits wieder daheim bei seiner Frau und seinem fünfjährigen Kind.« Alice zögerte kurz und holte tief Luft. »Ortega hat sie auf dieselbe Art und Weise getötet wie zuvor die Familie seiner Frau – mit einer Machete. Und er hat ihre Köpfe auf den Küchentresen gestellt. Danach hat er in ihrem Haus noch seelenruhig geduscht und sich aus dem Kühlschrank bedient. Erst dann ist er nach Hause zurückgefahren. Dort hatte er Sex mit seiner Frau, bevor er ihr ebenfalls den Kopf abschlug.«

Alle starrten Alice wie gelähmt an.

»Wow … das ist aber eine inspirierende Geschichte«, sagte Garcia schließlich und blies die Backen auf. »Wann ist das passiert?«

»Vor einundzwanzig Jahren. Er hat bei der Festnahme keinen Widerstand geleistet. Vor Gericht hat er auf unschuldig wegen vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit plädiert. Deswegen ist er vor ein Geschworenengericht gekommen. Derek Nicholson war der zuständige Staatsanwalt.«

Beklommenes Schweigen.

»Ich kann mich noch an den Fall erinnern«, meinte Bezirksstaatsanwalt Bradley irgendwann.

»War Dupek damals der Officer, der ihn verhaftet hat?«, fragte Garcia.

»Das geht ja gar nicht«, widersprach Hunter mit einem energischen Kopfschütteln. »Das war vor einundzwanzig Jahren, Carlos. Damals war Dupek noch kein Detective.«

»Einen Augenblick.« Captain Blake ließ das Foto sinken. »Sie sagten gerade, Sie hätten nach Straftätern gesucht, die innerhalb der letzten fünf Jahre freigekommen sind oder auf Bewährung entlassen wurden. Wollen Sie mir etwa sagen, dass sich dieser Charmebolzen wieder auf freiem Fuß befindet? Wie kann das sein?«

»Nein.« Alice schüttelte den Kopf. »Das Urteil der Geschworenen war einstimmig. Ortega hat die Todesstrafe bekommen. Er saß sechzehn Jahre lang in der Todeszelle. Vor fünf Jahren wurde er per Giftspritze hingerichtet.«

Verblüffte Blicke.

Jetzt riss Captain Blake endgültig der Geduldsfaden. »Wollen Sie mich verarschen?« Sie knallte die Kopie des Fotos auf ihren Schreibtisch und stand auf. Ihr Blick ging zwischen Alice und dem Bezirksstaatsanwalt hin und her. »Erst eine Liste mit Namen, die wir uns Ihrer Meinung nach gar nicht erst anzusehen brauchen, dann ein Foto von jemandem, der bereits tot ist. Was soll dieser Unfug, zum Donnerwetter noch mal? Macht es Ihnen Spaß, mir die Zeit zu stehlen? Was für Vollidioten arbeiten eigentlich in Ihrem Büro, Dwayne?«

»Die Art Vollidioten, die Ihren Vollidioten allemal auf den Kopf scheißen können, Barbara.« Dabei deutete Bezirksstaatsanwalt Bradley auf Hunter und Garcia.

»Alfredo Ortega ist das Bindeglied auf Nicholsons Seite«, fuhr Alice in betont gelassenem Tonfall fort, damit der Streit nicht noch weiter eskalierte. Dann zog sie ein zweites Foto aus ihrer Mappe. Auch von diesem Foto bekam jeder ein Exemplar. »Darf ich vorstellen: Ken Sands.«

Dieses Foto schien neuer zu sein als das von Ortega. Der Mann darauf sah aus wie Mitte zwanzig. Sein goldbronzener Teint war weniger seiner ethnischen Herkunft als ausgiebigen Sonnenbädern geschuldet. Die Haut seiner Wangen war pockennarbig und porös wie ein Schwamm – Spuren einer verheilten Akne, wahrscheinlich ein Andenken aus der Pubertät. Seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Er hatte den weggetretenen Blick eines Junkies, aber in seinem aufsässigen Blick lag noch etwas anderes – etwas Kaltes, Angsteinflößendes. Etwas Böses. Seine dunklen Haare waren kurz geschnitten, und er hatte das selbstsichere Lächeln eines Mannes, der wusste, dass er seine Rechnung irgendwann begleichen würde.

»Okay, und was bringt dieser Ken Sands zu unserer Party mit?«, wollte Garcia wissen.

Alice grinste verschmitzt. »Eine ganze Menge.«

Загрузка...