Alice angelte sich die Zeitung von Hunters Schreibtisch und las den Artikel.
»Das sind doch alles reine Mutmaßungen«, meinte sie und brach damit das grimmige Schweigen, das sich über den Raum gesenkt hatte. »Mehr nicht. Es gibt zwei Fotos, eine Außenaufnahme vom Boot und ein Bild von Andrew Dupek. Was fehlt, sind Zeugenaussagen, irgendwelche Kommentare von Detectives oder Interviews. Die Einzelheiten, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen kann, sind bestenfalls dürftig.«
»Vielen Dank, dass Sie das Offensichtliche aussprechen«, sagte Captain Blake und funkelte Alice an. »Mutmaßungen hin oder her, das ändert nichts an der Tatsache, dass die Geschichte an die Öffentlichkeit gelangt ist. Viel fehlt nicht, und wir haben eine Panik am Start. Dazu brauchen die Leute keine Beweise. Alles, was sie brauchen, ist ein Artikel in der Zeitung oder ein Beitrag im Fernsehen. Jetzt schreien alle nach Antworten, und der Fall soll am besten schon gestern gelöst sein.«
Dem konnte Alice nichts entgegenhalten. Sie wusste selbst, dass Blake recht hatte. Sie hatte es oft genug bei Gerichtsprozessen erlebt: Verteidiger stellten vor den Geschworenen Behauptungen auf, obwohl sie genau wussten, dass die Gegenpartei Einspruch erheben, der Richter dem Einspruch stattgeben und die Bemerkung folglich aus dem Protokoll gestrichen würde. Aber das machte keinen Unterschied. Gesagt war gesagt. Ob die Bemerkung nachträglich aus dem Protokoll getilgt wurde oder nicht, die Geschworenen hatten sie gehört. Mehr war oft nicht nötig, um ihre Gedanken in die gewünschte Richtung zu lenken.
Captain Blake wandte sich an Hunter. »Also gut, klären Sie mich auf, Robert. Wenn Sie mit diesen Schattenbildern richtigliegen, dann bedeutet das doch, dass Dupeks Boot uns neue Hinweise geliefert haben muss.«
Hunter sah Garcia an, der vor der Pinnwand stand und die neuen Tatortfotos in einzelne Gruppen ordnete.
»Hat es auch«, sagte er.
Captain Blake und Alice traten näher und betrachteten aufmerksam jedes Foto, das Garcia an die große weiße Pinnwand heftete. Die Aufnahmen zeigten die Kajüte, das Blut an den Wänden und auf dem Fußboden, die Leiche auf dem Stuhl, Dupeks Kopf auf dem Tisch und die Skulptur auf der Frühstückstheke.
»Gott im Himmel!«, stieß Alice hervor und legte die Finger an die Lippen. Doch trotz ihres Entsetzens war sie zu gebannt, um wegzuschauen.
Blake nahm sich die Bilder der Reihe nach vor. Ihr geübter Blick registrierte jedes Detail. Eigentlich war sie der Überzeugung gewesen, dass sie in ihrer langen Laufbahn jede noch so hässliche Facette von Mord und Verbrechen gesehen hatte, die Ereignisse der letzten drei Tage allerdings hatten ganz neue Maßstäbe gesetzt. Das Böse schien keinerlei Schwierigkeiten zu haben, sich immer wieder neu zu erfinden.
Ganz zum Schluss richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Fotos der neuen Skulptur aus scheinbar wahllos zusammengesetzten blutverschmierten Armen, Händen und Fingern.
»Hat der Täter diesmal auch wieder Draht und Sekundenkleber benutzt?«, fragte Alice, die mit zusammengekniffenen Augen das Foto ganz rechts betrachtete.
»Ja, hat er«, bestätigte Garcia.
»Aber diesmal gab es keine Botschaft an der Wand.«
»Dazu bestand kein Anlass«, sagte Hunter. »Die Botschaft in Derek Nicholsons Schlafzimmer hatte nichts mit der Tat an sich zu tun. Der Täter ist nur einer spontanen Eingebung gefolgt.«
»Okay, das verstehe ich. Aber warum?«, hakte Alice nach. »Aus welchem Grund hat er überhaupt so eine Botschaft hinterlassen? Nur um die Seele einer armen jungen Frau zu zerstören?«
»Die Botschaft war nicht ausschließlich an die Pflegerin gerichtet.«
Alice war perplex. »Wie bitte?«
»Nein. Sie war gleichzeitig auch für uns gedacht.«
»Was?« Endlich riss sich Captain Blake von der Pinnwand los. »Robert, wovon reden Sie da?«
»Entschlossenheit, Zielstrebigkeit, Hingabe.« Mehr sagte Hunter nicht.
»Reden Sie ruhig weiter, Superhirn«, ermunterte Captain Blake ihn. »Ich gebe schon Bescheid, wenn mir ein Licht aufgeht.«
Hunter war den bissigen Tonfall seiner Chefin gewohnt.
»Damit wollte uns der Täter auf seine Art zu verstehen geben, dass er durch nichts aufzuhalten ist«, erklärte er. »Und dass er, wäre er von einer vollkommen unschuldigen Person gestört worden und hätte diese Person sein Ziel in irgendeiner Weise gefährdet, sie ebenfalls getötet hätte. Ohne Reue. Ohne Skrupel. Ohne Zögern.«
»Das sagt uns, dass der Mord an Derek Nicholson alles andere als willkürlich war«, nahm Garcia den Faden auf. »Robert hat es eben schon angesprochen – Zielstrebigkeit. Und ein Ziel hatte unser Killer auf jeden Fall: Derek Nicholson zu töten und seine Gliedmaßen zu einer makabren Skulptur zu verarbeiten. Die Pflegerin zu töten gehörte nicht zu seinem Plan, also hat er sie verschont, weil sie ihm nicht in die Quere gekommen ist. Was anders gewesen wäre, wenn sie Licht gemacht hätte.«
»Und die Botschaft verrät uns noch etwas anderes, überaus Wichtiges«, fiel Hunter ein. »Nämlich dass diesen Täter so schnell nichts aus der Ruhe bringt.«
»Wieso?«, fragte Alice.
»Eben weil er die Pflegerin verschont hat.« Hunter trat ans Fenster, nahm die Arme nach hinten und streckte seinen steifen Rücken durch. »Als der Mörder gehört hat, wie die Pflegerin mitten in der Nacht zurück ins Haus kam, war er besonnen genug, um mit dem, was er gerade tat, aufzuhören, das Licht in Nicholsons Schlafzimmer zu löschen und abzuwarten. Ihr Schicksal lag in ihren eigenen Händen, nicht in seinen.«
»Wohingegen die meisten Täter, wären sie von einem Unbeteiligten überrascht worden, entweder in einem Anfall von Panik den Zeugen getötet hätten«, nun war bei Blake der Groschen gefallen, »oder aber sie wären vom Tatort geflohen, ohne ihr Werk zu vollenden.«
»Korrekt. Die Botschaft an der Wand war nicht geplant. Sie war ein spontaner Einfall. Aber der Täter hat sie als Chance gesehen, uns … seine Entschlossenheit zu demonstrieren, ungeachtet der verheerenden Wirkung auf Melinda.« Hunter entriegelte das Fenster und öffnete es. »Anfangs war uns das nicht klar, weil wir nicht wissen konnten, dass er erneut töten würde.«
»Der Kerl ist sehr selbstsicher, und er scheut sich nicht, uns das auch zu zeigen«, sagte Garcia, während er das letzte Foto an die Pinnwand heftete. »Gestern Abend hat er uns keine Botschaft hinterlassen, sondern uns stattdessen eine Kostprobe seines Humors gegeben.«
»Der Heavy-Metal-Song, den er auf der Anlage hat laufen lassen«, sagte Blake.
Alice schauderte. »Das stand im Artikel. Was hatte es damit auf sich?«
»Der Täter hat die Stereoanlage auf Dupeks Boot eingeschaltet – auf volle Lautstärke«, erläuterte Garcia. »Es lief immer wieder derselbe Song, in Endlosschleife.«
»Und inwiefern sagt das was über seinen Sinn für Humor aus?«, fragte Alice kopfschüttelnd.
»Der Song, den der Mörder ausgesucht hat, ist schon etwas älter. Er heißt ›Falling to Pieces‹«, klärte Hunter sie auf.
»Der Refrain handelt von jemandem, der in Stücke zerfällt und will, dass jemand kommt und ihn wieder zusammensetzt«, fügte Garcia hinzu.
Das musste Alice erst mal verdauen.
»Mit anderen Worten, er macht sich über uns lustig«, sagte Captain Blake und lehnte sich gegen Garcias Schreibtisch. Ihre Stimme und ihr Blick waren voller Wut. »Nicht nur ist unser Täter wahnsinnig genug, um einen Staatsanwalt und einen Polizisten des LAPD zu töten, er ist außerdem noch so dreist, uns mit Botschaften an der Wand, zweideutigen Liedern, Skulpturen aus dem Fleisch seiner Opfer und Schattenbildern zu provozieren. Er macht einen gottverdammten Zirkus aus dem Fall.« Ihre Augen loderten. »Und wir sind die Clowns.«
Niemand antwortete.
Alice hatte sich zwischenzeitlich wieder der Pinnwand gewidmet. »Was habt ihr gesehen, als ihr sie angestrahlt habt?« Sie zeigte auf eins der Fotos von der neuen Skulptur. »Ich weiß, dass ihr diesmal nicht darauf wartet, dass das Labor eine Nachbildung anfertigt, also habt ihr es gestern Abend gleich an Ort und Stelle überprüft, stimmt’s?«
»Ja.«
»Und? Was haben Sie gesehen?« Diesmal kam die Frage von Captain Blake. »Die vier Reiter der Apokalypse?«
Garcia ging zu seinem Schreibtisch zurück, griff nach einem braunen Papierumschlag und zog ein einzelnes Foto heraus. Er drehte es um und hielt es für alle gut sichtbar in die Höhe.
»Das hier.«