19

Noch ehe Hunter etwas erwidern konnte, klopfte es erneut an der Tür.

»Ganz schön viel Verkehr hier heute Morgen«, scherzte Garcia, bevor er »Herein!« rief.

»Tut mir leid, Sir«, kam die Stimme eines Mannes von draußen. »Hände voll.«

Alle im Raum runzelten die Stirn. Garcia ging zur Tür und öffnete.

Draußen stand ein blutjunger Officer. Seine Uniform sah aus, als werde sie zum ersten Mal getragen. Er hatte ein großes, in schwarze Plastikfolie eingepacktes und mit Klebeband umwickeltes Paket auf dem Arm.

»Das hat das kriminaltechnische Labor für Sie abgegeben, Detective.«

»Ah, danke. Warten Sie, ich nehme es Ihnen ab.« Garcia befreite den Officer von seiner Last. Das Paket war leichter, als es aussah, und dank der flachen Unterseite gut zu tragen. »Drüben bei der Pinnwand?«, fragte Garcia, an Hunter gewandt, nachdem er die Tür hinter sich hatte zufallen lassen.

»Ja, ich glaube, das ist gut.« Hunter räumte Platz auf einem kleinen Tisch frei und rückte ihn näher an die Pinnwand heran. Vorsichtig stellte Garcia das Paket darauf ab.

»Was ist das?«, wollte Alice wissen. Sie ging um den Tisch herum.

»Eine Nachbildung von dem da«, antwortete Garcia und deutete auf eins der Fotos an der Pinnwand.

Hunter beobachtete, wie Alice kurz der Atem stockte. »Haben Sie jemals in einem Mordfall eng mit einem Ermittlerteam zusammengearbeitet?«, fragte er.

»Nein«, sagte Alice fest und ohne jede Spur von Scham.

Hunter zückte ein Taschenmesser und klappte es auf. »Tja, wie ich vorhin sagte: Das hier ist nicht der Club Med.« Geschickt durchtrennte er das Klebeband. »Sie können bleiben, wenn Sie wollen. Aber es wird kein Picknick.«

»Ich hasse Picknicks.« Alice ließ sich nicht erschüttern.

Hunter und Garcia zogen die schwarze Plastikfolie ab und ließen sie zu Boden fallen. Lange Zeit war das einzige Geräusch im Raum das Surren des Ventilators auf Garcias Schreibtisch. Dr. Hove hatte recht gehabt: Dem Labor war in der kurzen Zeit eine hervorragende Kopie des makabren Kunstwerks gelungen. Die Nachbildung bestand aus weißem Gips und war auf einem leichten Holzsockel montiert. Sie war nicht angemalt, trotzdem stellten sich Garcia sämtliche Nackenhaare auf, und Alices Kehle war einen Moment lang wie zugeschnürt.

Hunters hatte nur Augen für die Nachbildung. Wie explodierende Feuerwerkskörper leuchteten im Sekundentakt Bilder der echten Skulptur vor seinem inneren Auge auf, und diese Bilder brachten auch die Gefühle zurück, die er beim Anblick des Tatorts empfunden hatte. Er sah die blutverschmierten Wände und die Blutlachen am Boden, sah die Schlieren von Blut auf der Skulptur aus menschlichem Fleisch. Eine Sekunde lang sah er sogar die rote Schrift an der Wand. SEI FROH, DASS DU KEIN LICHT GEMACHT HAST.

»Haben Sie was dagegen, wenn ich mir ein Glas Wasser nehme?«, fragte Alice irgendwann in das Schweigen hinein. Es war, als hätte sie mit ihren Worten eine Trance gebrochen. Beinahe zeitgleich blinzelten Hunter und Garcia.

»Nur zu«, antwortete Hunter und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war nach wie vor ganz auf die Skulptur konzentriert. Er ging um sie herum, um sie von allen Seiten zu betrachten.

Garcia wiederum trat ein paar Schritte zurück, als hoffe er, sich aus der Entfernung eher einen Reim darauf machen zu können.

Fehlanzeige. Nichts an der Skulptur kam ihnen irgendwie bekannt vor. Sie löste keinerlei Assoziationen aus.

»Das ist das Abartigste, was ich je gesehen habe«, verkündete Alice, nachdem sie ihr Wasser hinuntergestürzt hatte, als müsste sie in ihrem Magen ein Feuer löschen. »Und so, wie Sie beide das Ding anstarren, haben Sie nicht die leiseste Ahnung, was es zu bedeuten hat, stimmt’s?«

»Wir arbeiten noch daran«, gab Hunter zurück.

Alice füllte ihr Glas auf. »Vielleicht kenne ich jemanden, der uns helfen kann.«

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