108 La Forca

Sei es aus Erbarmen, sei es, weil er ihnen ungefährlich erschien: Die Banditen ließen den Sterbenden auf der Straße liegen.

Und warum hatte Fra Diavolo seinen Namen nicht genannt?, wird man sich fragen. Weil er wusste, dass auf seinen Kopf sechstausend Dukaten ausgesetzt waren, und weil er keine Sekunde lang bezweifelte, dass die Banditen, erfuhren sie den Namen, ihn sofort ausliefern würden, damit jeder von ihnen fünfzehnhundert Dukaten einstecken konnte.

Er wusste, mit was für Leuten er es zu tun hatte. Als sie fort waren, versuchte er aufzustehen; auf einen abgebrochenen Ast gestützt, wanderte er ziellos weiter; zuletzt erreichte er ein Dorf namens Baronisi. Er ging die erstbeste Straße entlang und gelangte auf den Dorfplatz.

Ein Apotheker hatte seinen Laden geöffnet, und da es geschneit hatte, wunderte er sich, einen Mann mit nackten Füßen auf dem Dofplatz stehen zu sehen, der sich ängstlich und unentschlossen umsah.

Er ging zu ihm hinaus und fragte ihn, was er suche.

»Ich warte auf einen Kameraden«, erwiderte der andere, »ich komme aus Kalabrien und werde weitergehen, sobald mein Freund gekommen sein wird.«

Fra Diavolos Pech wollte es, dass der Apotheker aus Kalabrien stammte; er wunderte sich, dass der vermeintliche Kalabrese den Dialekt nicht beherrschte, argwöhnte, dass er es mit einem Flüchtling zu tun hatte, und lud den Unbekannten ein, sich in seiner Küche zu wärmen, wo er ihm etwas Branntwein anbot; während er ihm diese heuchlerischen Wohltaten erwies, bedeutete er einer jungen Bediensteten, sich im Flüsterton mit ihm zu unterhalten, und wies sie an, zum Bürgermeister zu laufen und die Nationalgarde zu benachrichtigen.

Kurze Zeit später betraten vier Soldaten und ein Korporal den Laden. Der Korporal näherte sich Fra Diavolo und verlangte seine Papiere.

»Was für Papiere?«, fragte Fra Diavolo. »Kann man heute nicht mehr ohne Pass reisen?«

»Oh«, erwiderte der Korporal, »es sind so viele Räuber unterwegs, dass man gar nicht vorsichtig genug sein kann. Und da Sie uns nicht sagen wollen, wer Sie sind, werden wir Sie nach Salerno mitnehmen.«

Dorthin brachte man ihn und übergab ihn dem Schwadronschef Farinas, der ihn verhörte.

Als das Verhör begann, trat zufällig ein Pionier namens Pavese aus den Truppen Major Hugos in den Raum, und als er den Gefangenen erblickte, rief er: »Fra Diavolo!«

Man kann sich denken, welches Erstaunen dieser Ruf auslöste, nicht zuletzt bei dem Gefangenen.

Er wollte leugnen, doch zur Zeit der Bourbonen, als er Oberst und Herzog war und in seiner prunkvollen Uniform und unter seinem Titel in den Straßen Neapels paradierte, hatte der bescheidene Pionier ihm zu oft die militärischen Ehrenbezeigungen erwiesen, um ihn nicht wiederzuerkennen, auch wenn er halbnackt, halbtot und blutbesudelt war. Der Pionier erhärtete seine Aussage so unzweifelhaft, dass man sicher war, den gefürchteten und berüchtigten Fra Diavolo tatsächlich hinter Schloss und Riegel zu haben.

Major Hugo verkündete König Joseph, dass der gefürchtete Partisan verhaftet war, und in Anerkennung und Bewunderung seines Muts und seiner Geistesgegenwart empfahl er ihn der Milde des französischen Herrschers.

Joseph erwiderte, neben seinen politischen Untaten habe Fra Diavolo Verbrechen begangen, die eine Begnadigung durch den König unmöglich machten; den Partisanen und Bourbonenanhänger Fra Diavolo hätte er jederzeit begnadigt, ebenso den Brigadekommandeur der Armee König Ferdinands und den Herzog von Cassano, aber den Mörder und Brandstifter Fra Diavolo, den konnte er nicht begnadigen.

Fra Diavolo war überaus beliebt, und die Schaulustigen drängten sich im Gericht; der Angeklagte wohnte dem Verfahren bei, was vor der Regentschaft Josephs und Murats von den Richtern als unnötige Formalität betrachtet worden war. Aufgefordert, sich zu seiner Verteidigung zu äußern, schwieg er; im Gefängnis wiederholte er immer wieder, er habe nur seine Befehle befolgt; er hörte gleichmütig das Todesurteil an, und als es verlesen war, rief er: »Und doch habe ich nicht einmal die Hälfte dessen getan, was Sidney Smith mir aufgetragen hatte!«

Die Hinrichtung war für die Mittagsstunde des darauffolgenden Tages festgesetzt.


Am Tag darauf erreichten Manhès und Graf Leo um zwölf Uhr den Mercato Vecchio, den alten Marktplatz, wo sie dank der Uniform des Offiziers und ihrer Equipage einen guten Platz fanden.

Durch das Gässchen der »Seufzer aus dem Abgrund« kam wie gesagt Fra Diavolo; seine Miene war bleich, aber gefasst; seine Haare waren im Topfschnitt auf Höhe der Ohren abgeschnitten, damit sie dem Strick nicht in die Quere kamen; um den Hals trug er sein Brigadekommandeurspatent mit dem Wappen Neapels, dem großen roten Siegel und Ferdinands Unterschrift; die Jacke, die er über die Schultern geworfen hatte und die ihm erst am Fuß des Schafotts abgenommen werden würde, ließ seine Arme entblößt, und an einem Arm trug er das Armband mit den blonden Haaren Königin Carolines und mit einer Diamantenschließe.

Fra Diavolo betrug sich weder unterwürfig noch auftrumpfend; er war gelassen, mit jener Gelassenheit, die bezeugt, dass die Seele über den Körper herrscht und der Wille über die Materie. Drei Viertel der Zuschauer waren ihm persönlich bekannt, doch er grüßte nur diejenigen, die ihn zuerst grüßten. Manche Frauen bedachte er mit einem Lächeln, und einige wenige grüßte er. Ein Leibgardist vertrieb die Gaffer um den Karren und am Fuß des Galgens auf einen Umkreis von hundert Schritten; am Fuß der Leiter wartete der Henker Meister Donato mit seinen zwei Henkersknechten.

Der Karren hielt an; man wollte Fra Diavolo hinunterhelfen, doch er sprang ohne Hilfe zu Boden und ging sicheren Schritts auf die Leiter zu; Priester und Gerichtsschreiber folgten ihm; und am Fuß der Leiter verlas der Gerichtsschreiber das Urteil, das gegen ihn ergangen war.

Das Urteil führte alles auf, was die Gesellschaft Fra Diavolo zur Last legte, von dem Mord an seinem Lehrherren, dem Wagner, bis zu der Ermordung zweier französischer Soldaten. Die Bruderschaft der Eremiten des heiligen Paulus oder der Brüder des Todes war zur Gänze dem Karren von Castel Capuano bis zum Schafott gefolgt; ein Bruder des Todes hatte neben dem Delinquenten im Karren gesessen und hatte ihn, die Hand auf seiner Schulter, bis zum Galgen begleitet. Solange der Bruder des Todes den Verurteilten berührte, durfte der Henker nicht Hand an ihn legen, doch sobald er die Hand von ihm nahm, gehörte der Verurteilte dem Scharfrichter.

Nachdem das Urteil verlesen war, sprach Fra Diavolo aufrecht und ohne sichtliche Bewegung einen Augenblick lang leise mit dem Geistlichen; der Henker wartete; dann lehnte Fra Diavolo sich an die Leiter zum Galgen und sagte mit fester Stimme zu dem Bruder des Todes: »Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen, nehmen Sie die Hand von mir, Bruder, ich bin bereit.«

Der Henker ging hinter ihm vorbei und bestieg die Leiter als Erster; er wollte dem Delinquenten unter die Arme greifen, um ihm die Sprossen hinaufzuhelfen, doch dieser schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht nötig«, sagte er, »ich kann allein hinaufsteigen.«

Und obwohl seine Hände gefesselt waren, stieg er rückwärts die Leiter hinauf und sagte bei jeder Sprosse, die er verließ, um die nächste zu erklimmen, dreimal: »Ave Maria.« Als er die Schlinge erreichte, legte der Henker sie ihm um den Hals und wartete einen Augenblick für den Fall, dass der Delinquent noch etwas sagen wollte.

In der Tat rief Fra Diavolo, so laut er konnte: »Ich bitte Gott und die Menschen um Vergebung für meine Verbrechen, und ich empfehle meine Seele der Jungfrau Ma-«

Er konnte nicht aussprechen, denn mit einem Fußtritt zwischen die Schulterblätter hatte Meister Donato ihn in die Ewigkeit befördert.

Der Bandit, der spürte, dass er stürzte, bäumte sich so heftig auf, dass er die Fesseln seiner Hände zerriss. Sogleich stieg der Henker mehrere Sprossen die Leiter hinauf, ergriff das Seil, als es sich näherte, und sprang dem Delinquenten auf die Schulter, um ihm das Rückgrat durch sein Gewicht zu brechen, falls es noch nicht gebrochen war; er schüttelte den Erhängten mehrere Male und ließ sich dann an seinem Körper entlang hinab, um sich an seine Füße zu hängen und von dort zu Boden zu springen.

Doch sei es, dass die Schlinge den Dienst versagt hatte, sei es, dass der Strick zu neu und nicht geschmeidig genug war, oder sei es, dass dieser kraftvolle Organismus schwerer zu zerbrechen war als ein schwächerer – in dem Augenblick, als der Henker die Brust des Gehängten erreichte, umschlang ihn dieser und drückte ihn mit aller Kraft an sich, die er zu Lebzeiten besessen hatte und die in seinem Todeskampf mit letzter Heftigkeit und Gewalt hervorbrach.

Das Volk rief wie aus einer Kehle: »Bravo, Fra Diavolo, bravo!«, während der Henker, der dem Tod fast so nahe war wie der Delinquent, vor Schmerz brüllte.

Die zwei Henkersknechte sprangen herbei, um ihrem Patron zu helfen; für einen Augenblick hingen die vier Männer als unförmige Masse am Ende des Stricks; dann riss das Seil, und alle vier stürzten auf das Schafott.

Bei diesem Anblick begann die Menge zu toben und zu schreien; Steine wurden geworfen, Händler schwenkten ihre Stöcke, die Lazzaroni zeigten ihre Messer, und alle rannten auf das Schafott zu und riefen: »Erschlagt Meister Donato! Erschlagt seine Helfer!«

Doch der neapolitanische Pöbel war nicht mehr der Pöbel, der er gewesen war, als er zu Zeiten König Ferdinands das Schafott demoliert und den Henker in Stücke zerrissen hatte, wenn dieser seinem Handwerk nicht gerecht geworden war.

Die Franzosen, die den Galgen umringt hielten, rückten mit gezückten Bajonetten gegen die Menge vor, drängten sie an den Rand des Marktplatzes zurück und hielten sie dort in Schach.

Unterdessen war dem Offizier, der die Hinrichtung beaufsichtigte, das Grüppchen aufgefallen, das Manhès, der Graf und die zwei Gefangenen in ihrem Wagen samt Postillion bildeten, und höflich hatte er von Offizier zu Offizier einige Fragen gestellt, die einsilbig beantwortet worden waren. Manhès hatte ihm erklärt, um was für Gefangene es sich handelte, und ihn gefragt, was er mit ihnen anfangen solle. Der Offizier hatte ihm geraten, sie im Vicaria-Gefängnis einsperren zu lassen.

Auf die Frage der jungen Männer, welches das beste Hotel der Stadt sei, hatte er ohne zu zögern gesagt: »Das Hotel La Vittoria von Martin Zir.«

»Hörst du«, sagte Manhès zu dem Postillion, nachdem er dem Offizier gedankt hatte.

Der Postillion brachte seine Passagiere zum Vicaria-Gefängnis. Beide stiegen aus und übergaben ihre Gefangenen dem Pförtner, der Name und Anschrift von ihnen verlangte; doch bevor Leo seinen Gefangenen übergab, bedachte er, dass die armen Teufel sicher nicht viel Geld bei sich hatten und sich mit dem Nötigsten versorgen mussten, und deshalb drückte er ihm verstohlen einen Louisdor in die Hand. Zehn Minuten später betraten er und sein Reisegefährte das Hotel La Vittoria, bezahlten den Postillion, bestellten ein heißes Bad und ein Mittagessen, zwei Dinge, die sie nach einer Nacht in den Pontinischen Sümpfen und nach zwölf Meilen in gestrecktem Galopp dringend benötigten.

Doch bevor er sich in das Bad begab, schrieb Manhès dem ersten Kammerherrn Joseph Bonapartes, während Graf Leo dem Polizeiminister Saliceti seine Karte schickte.

Als die beiden jungen Männer sich zu Tisch begaben, erhielt jeder von ihnen eine Antwort: Der erste Kammerherr des königlichen Palastes teilte Manhès mit, dass König Joseph ihn sobald wie möglich zu sehen wünsche und freudig etwaige Neuigkeiten des Kaisers und Murats erwarte.

Graf Leo erhielt ein Schreiben des Sekretärs des Polizeiministers, in dem ihm gesagt wurde, Seine Exzellenz werde ihn mit Vergnügen empfangen, sobald er im Palast vorstellig werde.

Das ließen sich beide gesagt sein, und sie gingen sich umkleiden.


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