111 Il Bizzarro


Saliceti und seine zwei Gäste kehrten in das Kriegsministerium zurück. Saliceti hatte erraten, welchen Eindruck René auf König Joseph gemacht hatte. Manhès hatten die wenigen Worte beruhigt, die der König zu ihm gesagt hatte, nachdem René gegangen war. Und der Händedruck zwischen Manhès und René hatte genügt, Letzterem zu verstehen zu geben, was Ersterer ihm sagen wollte.

Die Herzogin von Lavello erwartete ihren Vater und die beiden Gäste im Salon.

Die Herzogin war eine ausnehmend hübsche Frau, noch jung, und ihr Vater liebte sie abgöttisch. Als der Palast, in dem das Kriegsministerium untergebracht war, im Jahr darauf einstürzte und man befürchtete, die Herzogin könnte unter den Trümmern begraben sein, wäre Saliceti fast gestorben, nicht wegen der Verletzungen, die er selbst bei diesem Unglück erlitten hatte, sondern aus Sorge um seine Tochter.

René wurde ihr vorgestellt, und als geschmackvolle, elegante Frau erkannte sie sogleich die Eleganz und Weltgewandtheit des jungen Mannes.

Man begab sich zu Tisch.

Saliceti hatte Wert darauf gelegt, en famille zu speisen, um ungezwungen mit den neuen Gästen plaudern zu können; aus René allein hätte er nicht viel herausbekommen, denn er hatte erraten, wie ungern dieser von sich sprach, ob aus Bescheidenheit oder aus Vorsicht; doch er hoffte, Manhès gesprächiger über die Themen zu finden, zu denen René sich ausschwieg.

Der sechste Gast war der erste Sekretär des Ministers, Korse wie Saliceti.

Als das Gespräch lebhafter wurde, was immer erst geschieht, wenn man bereits einige Zeit zu Tisch sitzt, sagte Saliceti zu seinem jungen Gast: »Monsieur, unter welchem Namen wollen Sie in Dienst treten? An Ihrer Stelle nähme ich den Namen an, den Ihnen Ihr Freund Manhès verliehen hat: Graf Leo ist ein schöner Name, nicht wahr, Tochter?«

»Vor allem, wenn Leo Löwe heißen soll, was ich annehme«, erwiderte die Herzogin von Lavello.

»Ich werde ihn nicht annehmen, weil Leo Löwe heißt, Madame, sondern weil er mir von einem Mann gegeben wurde, den ich zuerst lieben und dann schätzen lernte; Ihre Exzellenz und Sie, Madame, finden Gefallen an dem Namen, was ein weiterer Grund ist, ihn zu behalten.«

»Und nun, mein lieber Gast«, sagte Saliceti, »wollen wir versuchen, unsere Sache im Familienkreis zu regeln; wie mein Freund Fouché Ihnen seinerzeit erklärt hat, dass es Kaperschiffe und Schiffe der Kriegsmarine gibt, werde ich Ihnen nun erklären, dass wir hier reguläre Truppen und Banditenjäger haben. In den regulären Truppen gibt es nicht oft Gelegenheit, sich auszuzeichnen und befördert zu werden. Bei den Banditenjägern hingegen, deren Arbeit wesentlich gefährlicher ist als das normale Kriegshandwerk, hat man zehnmal mehr Gelegenheit, Aufmerksamkeit zu erregen. Major Hugo – wir sind unter uns, ich darf offen sprechen – wurde trotz seines heldenmütigen Betragens in der Schlacht von Caldiero nicht befördert, sondern blieb Major, weil man höheren Ortes dazu neigt, nachtragend zu sein. Aber inzwischen hat er Fra Diavolo zur Strecke gebracht, und es wird kein Monat vergehen, bis er zum Oberst befördert sein wird.«

»Was sagen Sie dazu, Freund Manhès?«, fragte René.

»Dass der Herr Minister Ihnen da einen ausgezeichneten Rat gibt, sapperlot! – Oh, Verzeihung, Frau Herzogin, ich bitte um Vergebung. Am liebsten bliebe ich hier, um mit Ihnen zusammen auf die Jagd zu gehen.«

»Umso mehr«, sagte der Sekretär, »als ich Ihnen einen prächtigen Banditen anbieten kann, neben dem ein Benincasa, ein Taccone und ein Panzanera sich wie Taschendiebe ausnehmen, wenn er so weitermacht wie bisher.«

»Haben Sie heute Depeschen erhalten?«, fragte Saliceti.

»Ja, der Adjutant General Verdiers hat mir geschrieben.«

»Und wie heißt Ihr Bandit?«, fragte der Minister.

»Er ist noch nicht allzu bekannt, doch sein Einstand in das Räubergewerbe gibt zu vermuten, dass er es bald sein wird; er heißt Il Bizzarro; er ist noch jung, keine fünfundzwanzig Jahre alt; man darf noch nicht zu viel von ihm verlangen.«

»Seien Sie unbesorgt«, sagte Manhès, »das werden wir schon selbst entscheiden.«

»Als Kind«, fuhr Salicetis Sekretär fort, »trat er in den Dienst eines reichen Pächters, dessen Tochter er verführte; das junge Paar war so unvorsichtig, die gegenseitige Neigung nicht zu verbergen, der Argwohn der Brüder wurde geweckt, sie lauerten dem Liebespaar auf, überraschten es in einem Augenblick, in dem an der schuldhaften Liebe kein Zweifel bleiben konnte -«

»Monsieur, Monsieur!«, sagte die Herzogin von Lavello. »Nehmen Sie sich in Acht!«

»Aber Frau Herzogin«, erwiderte der Sekretär lachend, »ich muss mich doch verständlich ausdrücken.«

»Das genügt, Robert«, sagte Saliceti.

»- an der schuldhaften Liebe kein Zweifel bleiben konnte«, wiederholte der Sekretär hartnäckig, »durchbohrten den Liebhaber mit Messerstichen und ließen ihn als tot auf einem Misthaufen liegen. Gute Menschen, die vorbeikamen, sahen den Leichnam, trugen ihn in die Dorfkirche, wo er bis zum nächsten Morgen bleiben sollte, bis man die Totengebete über ihn gesprochen haben würde.

Die Mörder dachten, sie hätten einen Toten liegen lassen, und in der Tat hatte er im Sarg die Totengebete reglos über sich ergehen lassen und darauf gewartet, dass die Nacht hereinbrach und die des Gebetesprechens müden Priester aus der Kirche vertrieb.

Die Priester verschwanden ausnahmslos in der Überzeugung, dass sie nur noch den Deckel auf den Sarg nageln mussten, bevor sie den armen Liebhaber in eine der offenen Gruben in der Kirche senkten.

Doch kaum war der letzte Priester verschwunden, öffnete der Tote zuerst ein Auge und dann das zweite, reckte den Kopf aus dem Sarg und sah im Licht der Kerzen, die noch brannten, dass die Kirche menschenleer war.

Zuerst wusste er nicht, was ihm widerfahren war und wo er sich befand; doch das Blut, das an seinem Körper klebte, die Schwäche, die der Blutverlust bewirkt hatte, und die schmerzenden Wunden riefen ihm ins Gedächtnis, was geschehen war; er biss die Zähne zusammen, stieg aus dem Sarg, verließ die Kirche und schleppte sich in die Berge, das ewige Asyl all jener, die auf der Flucht sind.

Dieser Prolog zu dem Drama, dessen ersten Akt ich schildern werde, ereignete sich um das Jahr 1800; der Bizzarro, wie der Held meiner Erzählung heißt, war damals keine neunzehn Jahre alt.

Vier, fünf Jahre lang hörte niemand mehr von ihm; als man den leeren Sarg vorgefunden hatte, war man der zutreffenden Ansicht gewesen, dass er geflohen war. Man nahm an, er habe sich einer Bande von Räubern und Mördern angeschlossen, die seit einigen Jahren die Gegend von Soriano unsicher machte und die anlässlich der zweiten französischen Invasion und der Ernennung Prinz Josephs zum König von Neapel in aller Bauernschläue beschlossen hatte, sich zu politischen Partisanen zu erklären und sich unter das Banner der Bourbonen zu begeben.

Mut und Kaltblütigkeit des Bizzarro setzten ihn bald bei seinen Gefährten in großes Ansehen. Er wurde zum Chef der Bande ausersehen, und sobald er die unumschränkte Macht in Händen hielt, schien ihm der Augenblick der Rache gekommen zu sein.

Eines Sonntags vor ungefähr einem halben Jahr war die ganze Bewohnerschaft von Varano – so heißt das Dorf, in dem man ihn als tot hatte liegen lassen -, die ganze Bewohnerschaft von Varano und darunter die Familie seines früheren Herrn in ebenjener Kirche versammelt, in der er eine so wenig heimelige Nacht zugebracht hatte, als der Bizzarro mit seiner Bande die Kirche betrat, zum Altar schritt, sich umdrehte und allen befahl, die Kirche zu verlassen.

Die Menge hatte einen Augenblick lang verwirrt und erschrocken gezaudert, doch sie gehorchte, als der Bizzarro seinen Namen sagte und zu schießen drohte; er war bereits so berüchtigt, dass niemand Widerstand leistete; alle stürzten zur Tür, und an den Briganten zog eine stumme, verschreckte und zu Tode verängstigte Menge vorbei.

Zwei Opfer erspähte der Bizzarro mitten unter den Flüchtenden, zwei Söhne seines einstigen Herrn, Brüder seiner Geliebten, zwei Rächer, die ihn mit Messerstichen traktiert hatten.

Weniger glücklich als einst der Bizzarro, stürzten die zwei armen Teufel tödlich getroffen zu Boden, um sich nie wieder zu erheben; doch die Rechnung des Bizzarro war noch nicht beglichen, denn sein ehemaliger Herr hatte fünf Söhne, seine Tochter hatte fünf Brüder, und fünf, nicht zwei Rächer waren über ihn hergefallen, so dass ihm noch drei Opfer fehlten.

Der Bizzarro durchsuchte mit seinen Leuten die Kirche, und hinter dem Altar fand er die Gesuchten, die sich dort versteckt hatten; er erstach sie mit eigener Hand, denn die Rache wollte er ganz allein auskosten; doch zwei weitere Personen suchte er noch immer, den Vater seiner Geliebten und die Geliebte selbst.

Er eilte zum Haus des alten Mannes und fand diesen krank im Bett vor, von seiner Tochter gepflegt. Diese erkannte ihren einstigen Geliebten, ahnte, dass er gekommen war, um schreckliche Rache zu üben, und warf sich zwischen ihn und ihren Vater; doch der Bizzarro stieß sie weg, vollendete am Vater das Massaker aller männlichen Familienmitglieder, entführte die in seinen Armen ohnmächtig gewordene Geliebte, warf sie über sein Pferd und ritt mit ihr in die Berge zurück.«

»Und was geschah mit ihr?«, fragte die Herzogin von Lavello. »Hat man seither von ihr gehört?«

»Leider, Madame, muss ich zur Schande oder zur Ehre Ihres Geschlechts – denn ich wüsste wahrhaftig nicht zu sagen, welches von beiden zutrifft – Folgendes bemerken: Die Liebe war stärker als die Blutsbande, sie hatte den Bizzarro als das Opfer ihres Vaters und ihrer Brüder weitergeliebt, sie liebte ihn auch als den Mörder ihres Vaters und ihrer Brüder, und da die Bande des Bizzarro wie eine militärische Truppe geführt wird, sah man sie seit jenem Tag zu Pferde und in Männerkleidung an seiner Seite, und in dem unerbittlichen Partisanenkrieg hat sie eine Kühnheit und einen Mut bewiesen, die sie ihrem Gefährten ebenbürtig machen.«

»Und es war nicht möglich, dieses Elenden habhaft zu werden?«, fragte die Herzogin.

»Auf seinen Kopf wurden zweitausend Dukaten Belohnung ausgesetzt, Madame; doch bislang wagte kein Spitzel, ihn zu verraten, und er ist allen Schlichen und Fallen entschlüpft, die man gegen ihn ersonnen hat.«

»Wohlan, Graf Leo«, sagte Manhès, »an deiner Stelle würde ich, zum Teufel auch, den Kopf des Bizzarro bekommen oder auf meinen Namen verzichten.«

»Ich werde meinen Namen behalten«, sagte Leo, »und seinen Kopf bekommen.«

»An diesem Tag«, sagte die Herzogin von Lavello, »werde ich Sie meine Hand küssen lassen.«


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