80 Eurydike

Auf diese Antwort ließ sich nichts erwidern, denn die Verzweiflung, die in diesem jungen Herzen herrschte, war so übermächtig, dass man ihm nur voller Mitgefühl zur Seite stehen konnte. Janes Kummer und Schmerz hatten ein solches Ausmaß erreicht, dass René es für geraten hielt, sie den ganzen Tag nicht mehr aus den Augen zu lassen.

Die Stunde des Abendessens kam; Hélène löschte alle Spuren der Freude von ihrer Miene und ging zu Jane, um sie zu fragen, ob sie herunterkommen wolle; sie fand sie in einem Zustand so großer Erschöpfung vor, dass sie erkannte, dass ihrer Schwester in ihrem Gemütszustand mit Abwechslung nicht zu helfen war. Deshalb bat Hélène René, bei Jane zu bleiben, denn nichts als die Ursache so überwältigenden Herzeleids konnte dieses wenigstens besänftigen, wenn schon nicht kurieren.

René seinerseits war zutiefst bedrückt; ihm blieben keine Worte, die er zu Jane hätte sagen können; er seufzte, sah sie an und hielt ihre Hände, denn sie hatten untereinander zu einer Sprache gefunden, die mehr sagte als alle Worte, die sie hätten tauschen können. Hätte René geglaubt, einige Tage Aufschub seiner Abreise würden Jane etwas nützen, dann hätte er sich dieser Notwendigkeit ohne zu zögern gebeugt; was ihn entfernte, war ein moralisches Gebot, das für manche Geister schwerer wiegt als alles andere. Und Jane hatte sich zu der gleichen Ansicht durchgerungen: Seit einer Woche wartete sie nur noch auf den Montag; nach diesem Montag interessierte sie nichts mehr; sie war wie eine Uhr, die für die Dauer von acht Tagen aufgezogen worden war und deren Uhrwerk nach Ablauf dieser Zeit den Dienst versagen würde.

Das Gerücht von Janes Erkrankung hatte sich im Haus verbreitet; da alle sie liebten, waren alle tiefbekümmert; gleichzeitig war jeder der Meinung, dass ihr Leiden sich einem bösen Zauber verdanken müsse, den die Schlangenbeschwörerin über sie gesprochen hatte.

Als Schlangenbeschwörerin wurde die Negerin bezeichnet, die René umgeworfen hatte und die am selben Tag aus Janes Zimmer gekommen war. René hörte all diese Gerüchte, die in den unteren Rängen der Bediensteten die Runde machten, doch er erinnerte sich auch an die Worte, die Justin entfahren waren, als sie die Negerin erblickt hatten: »Wird uns denn nie ein vernünftiger Gewehrschuss von dieser Giftmischerin befreien?«

Als René zum Abendessen hinunterging, denn Jane hatte ihn darum gebeten, damit wenigstens er den anderen Gesellschaft leistete, fragte er Justin über die alte Negerin aus, obwohl er besser als alle anderen wusste, was die Ursache für Janes Leiden war.

Die Alte wurde »Schlangenbeschwörerin« genannt, weil sie die Fähigkeit besaß, die giftigsten Reptilien einzuschläfern und zu berühren, doch das war noch nicht alles: Es hieß auch, sie sei mit allen Eigenschaften der Giftkräuter vertraut, jener, die Menschen auf der Stelle töten oder Tiere langsam dahinsiechen lassen. Was konnte Jane mit dieser Frau zu schaffen haben?

Als René zu der Kranken zurückging, wollte er sie dies fragen; doch als er sich wieder in Gegenwart dieses Engels der Reinheit befand, kamen ihm die Worte nicht über die Lippen, während gleichzeitig ein unbenennbares und unabweisbares Gefühl des Schreckens sein Herz bedrängte. Ängste, die man für Vorausahnungen zu halten pflegt, bestürmten seinen Geist, und sein Herz zog sich so schmerzlich zusammen, dass er einen leisen Schrei ausstieß, der Jane erschreckte.

Er setzte sich zu ihr; wie ein Vater sein Kind tröstet, das er zu verlieren fürchtet, drückte er sie ans Herz, küsste sie auf die Stirn und küsste ihr die Hände; diese Liebesbezeigungen waren so zärtlich und zugleich so frei von jeder Sinnlichkeit, dass Jane sie nicht missverstand; doch da sie solche Zärtlichkeiten nicht gewohnt war, kostete sie ihren Zauber mit allen Sinnen und verspürte neues Leben in ihren Adern, das ihren Puls schlagen ließ und ihre Wangen rötete, und sie dankte René für seine fürsorgliche Freundschaft.

Die Nacht kam. Die beiden jungen Leute begaben sich auf die Veranda, wo sie ihren gewohnten Platz einnahmen. Als hätte sich alles verschworen, der armen Jane Frieden zu schenken, hatte es nie eine schönere Nacht gegeben, hatte nie ein leuchtenderer Himmel die Dunkelheit erhellt und die Nacht zu nichts weiter als dem Fehlen des Tageslichts verringert. Der Mond war nicht zu sehen, und die Sterne waren bewölkt, doch überall erstrahlte ein Licht, dessen Ursprung nicht zu erkennen war. Der Windhauch trug Wolken eines herben, durchdringenden und erregenden Parfums herbei, das die Nerven kitzelte, die Adern belebte, die Lunge weitete und den Organismus mit dem eigentümlichen Lebenselixier belebte, dessen Macht nur verstehen kann, wer die glühende Atmosphäre geatmet hat, der man nirgends als in Asien und besonders in Indien begegnet.

René dachte, er hätte in seinen Gesprächen mit Jane alle Fragen und Antworten über die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Lebens und über die Unsterblichkeit der Seele erschöpft.

René war Pantheist; er glaubte an das Weiterbestehen der Materie, weil er wusste, dass ein Sandkorn unter Millionen Sandkörnern zerquetscht wird, aber nicht verschwindet; doch an die Seele glaubte René nicht, weil er sie noch nie in irgendeiner Gestalt zu sehen bekommen hatte und weil er an nichts glaubte, was man nicht sehen oder berühren kann.

Bichat war vor Kurzem gestorben, nachdem er diese Frage behandelt und gelöst hatte; sein schönes Buch über Leben und Tod war während Renés Haft erschienen, und René hatte diese Widerlegung der Gedanken Galls und Spurzheims mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen. Je länger er seine Theorie des Materialismus entwickelte, desto heftiger flossen die stillen Tränen aus Janes Augen und bildeten auf ihren Wangen zwei perlmuttfarbene Bäche.

»René, Sie glauben also«, sagte sie, »dass wir uns ein für alle Mal trennen werden und einander niemals wiedersehen werden?«

»Das will ich nicht behaupten, Jane«, erwiderte René. »Der Zufall hat uns ein erstes Mal zusammengeführt; Sie können nach Paris kommen, ich kann nach Indien zurückkehren, und der Zufall kann uns wieder zusammenbringen.«

»Ich werde nie nach Frankreich reisen«, sagte Jane traurig, »und Sie werden nie nach Indien zurückkommen; unsere Herzen wurden in diesem Leben durch die Kraft Ihrer Liebe zu einer anderen Frau getrennt, und unsere Körper werden für alle Ewigkeit durch die undurchdringliche Erde getrennt bleiben. Sie sagten vorhin, Sie glaubten an nichts, was man nicht sehen oder berühren kann, aber an Ihre Liebe zu Claire de Sourdis muss ich glauben, obwohl sie unsichtbar und unberührbar ist.«

»Gewiss, aber der Gegenstand dieser Liebe ist berührbar und sichtbar. Ich glaube auch an Ihre Liebe zu mir, Jane, obwohl ich sie nicht sehen kann, denn sie umhüllt mich wie die Wolken, die in der Äneis die Götter verbergen.«

»Sie haben recht, René«, sagte Jane, wischte sich die Augen mit ihrem Taschentuch und hielt es auf die Augen gedrückt. »René«, fuhr sie fort und erhob sich, »ich bin grausam und selbstsüchtig; ich quäle Sie mit meinem Unglück und mache Sie unglücklich. Bis morgen, René; morgen werden wir voneinander Abschied nehmen; schwächen Sie meine Seele nicht vor diesem entscheidenden Augenblick, denn ich werde all meine Kraft benötigen, so wie Sie vielleicht die Ihre.«

»Gehen Sie in Ihr Zimmer zurück, Jane?«

»Ja, ich muss mich im Gebet sammeln. Das Gebet ist keine Heilung, ich weiß, aber es betäubt wie das Opium. Sie müssen mir jedoch eines versprechen.«

»Und das wäre, liebe Jane?«

»Dass Sie nicht abreisen werden, ohne vorher Abschied von mir zu nehmen; ich brauche einen langen und tröstlichen Abschied; ich muss wie gewohnt an Ihrer Schulter einschlafen können, nur diesmal in der Gewissheit, nie wieder zu erwachen.«

René verließ Jane fast gegen seinen Willen; er verspürte eine Vorahnung, die er sich nicht erklären konnte; er brachte Jane bis zu ihrer Zimmertür, hielt sie lange an seine Brust gedrückt und ging zu seinem Zimmer, wobei er mehrere Male innehielt, weil ihm war, als hätte Jane nach ihm gerufen. Als er sein Zimmer erreicht hatte, konnte er nicht einschlafen; ihm war zumute, als erwarte ihn ein großes Unglück.

Er trat an das Fenster seines Zimmers in der Hoffnung, dort frischere Nachtluft zu atmen. Tatsächlich schien vom Boden die erste morgendliche Kühle aufzusteigen, während das weißliche Leuchten, das die Nacht erhellte, schwand und einem grauen Nebel wich. Im selben Augenblick war ihm, als höre er, wie die Tür von Janes Zimmer geöffnet wurde, und schon wollte er seine eigene Tür öffnen und hinübereilen, um zu sehen, ob Jane wohlauf sei, als er sich eines Besseren besann und in seinem Zimmer blieb, um nicht den Eindruck zu erwecken, er spioniere hinter ihr her. Da er keine weiteren Geräusche vernahm, trat er wieder an sein Fenster; unterdessen war es draußen noch nebliger geworden, doch das hinderte ihn nicht daran, Jane zu erkennen, die in ihrem Morgenmantel das Haus verließ und sich zögerlichen Schritts der Wiese näherte, als gehe sie barfuß. Sein erster Gedanke war, dass Jane in einem Anfall von Somnambulismus handelte, ohne zu wissen, was sie tat, doch diesen Gedanken verwarf er bald. Jane ging keineswegs mit den steifen, feierlichen und gespenstischen Schritten einer Schlafwandlerin, sondern setzte ängstlich einen Fuß vor den anderen und zuckte zusammen, wenn sie auf einen spitzen Stein trat; außerdem hob sie einmal den Kopf und blickte schnell zu Renés Fenster hinauf, doch er konnte sich rechtzeitig verbergen, so dass sie ihn nicht sah.

Indem sie allein und so leicht bekleidet das Haus verließ, tat Jane nicht nur etwas Ungewohntes, sondern auch etwas Unbedachtes: Der Geruch der vielen Braten für das Hochzeitsbankett hatte möglicherweise wilde Tiere angelockt, die sich in einem Busch oder im hohen Gras versteckten und das junge Mädchen jederzeit anfallen konnten.

René streckte die Hand aus, tastete im Dunkeln nach seinem geladenen Gewehr und trat wieder zum Fenster.

Nun hatte er den Eindruck, als nähere sich Jane eine schwarze Masse, deren Form er nicht erkennen konnte, weil sie sich in der Dunkelheit verlor. Jane schien sich nicht vor ihr zu fürchten, sondern ihr im Gegenteil zu bedeuten, zu ihr zu treten. War es ein Mann? Eine Frau? René hätte es nicht zu sagen vermocht, doch dann hörte er Jane einen klagenden, durchdringenden Schrei ausstoßen; sie ließ sich auf ein Knie sinken und wälzte sich dann am Boden wie unter heftigen Schmerzen. Als René sah, dass der schwarze Schatten in den nahen Waldrand zu verschwinden versuchte, zweifelte er nicht länger daran, dass Jane ein Leid angetan worden war, und er legte an und feuerte.

Ein zweiter Schrei erklang, nicht weniger klagend und durchdringend als der erste, und der Meuchelmörder, ob Mann oder Frau, wälzte sich am Boden und blieb nach einigen heftigen Zuckungen tot liegen.

René warf sein Gewehr in das Zimmer, eilte die Treppe hinunter, sah, dass Jane alle Türen hatte offen stehen lassen, lief zu dem jungen Mädchen, das er auf dem Rasen liegen sah, hob es hoch und trug es ins Haus.

Der Schuss hatte alle geweckt; sie hatten ihn für das Signal eines nächtlichen Überfalls gehalten und eilten nun herbei, die erstbeste Waffe in der Hand. Justin war als Erster zur Tür gelangt, gefolgt von einigen Sklaven, die Fackeln trugen.

René hielt Jane in den Armen und trug sie ins Haus, ohne die Schlange zu beachten, die Jane gebissen hatte und noch von ihrem Fuß hing.

»Die Schachbrettschlange!«, rief Justin, der das Reptil mit beiden Händen ergriff und seinen Kopf an der Wand zerschmetterte. »Die Wunde muss sofort ausgesaugt werden!«

»Ich werde mich um sie kümmern«, sagte René, der Jane in ihr Zimmer trug, »suchen Sie nach einem Gegenmittel; die Neger kennen oft Geheimmittel gegen das Schlangengift.«

»Er hat recht«, sagte Justin. »Reitet los, sucht überall nach der alten Hexe und bringt sie her, tot oder lebendig!«

Unterdessen hatte René Jane in ihr Zimmer gebracht und auf ihr Bett gelegt; an ihrem Fuß, der so weiß und kalt war wie Marmor, sah er zwei Wunden, klein wie Nadelstiche, aus denen winzige Blutstropfen gedrungen waren, und er begann wie ein Schlangenbeschwörer des Altertums das Blut aus der Wunde zu saugen.

Unterdessen machte sich Ratlosigkeit um Janes Bett herum breit; die Leidende lag mit geschlossenen Augen da, die Hände über der Brust gekreuzt, als wäre sie bereits tot; doch René spürte am Zittern und Zucken des Fußes unter seinen Lippen, dass Jane entsetzliche Schmerzen litt. Nach und nach hatten sich alle Bewohner des Hauses in Janes Zimmer eingefunden, und als René erschöpft den Blick hob, sah er in der ersten Reihe Hélène stehen, blasser als die Sterbende, auf Sir James gestützt, der ebenso bleich war wie sie.

»Sir James«, sagte René, »seien Sie so gut und holen Sie unverzüglich aus meiner kleinen Reiseapotheke ein Fläschchen mit Riechsalz und eine Lanzette.«

Sir James eilte in Renés Zimmer und brachte das Erbetene.

Um die Wunde herum hatte sich bereits ein Kreis von der Größe eines Fünf-Francs-Stücks gebildet.

René verlangte ein Glas Wasser, in das er ein paar Tropfen Riechsalz gab; dann ergriff er die Lanzette und machte mit chirurgischer Gewandtheit einen kreuzförmigen Einschnitt, aus dem schwarzes, fauliges Blut drang; dann saugte er wieder an der Wunde und drückte mit dem Daumen darauf, bis das Blut rot und gesund herausquoll, woraufhin er die Wunde mit dem ätzenden Mittel behandelte.

»Dem Herrn sei gedankt!«, rief Hélène. »Sie ist noch am Leben!«

»Sie wird erst morgen sterben«, flüsterte Justin, »zu der Stunde, zu der sie heute gebissen wurde.«

René nutzte das Lebenszeichen, das Jane gegeben hatte, um sie zu nötigen, das Glas Wasser mit Riechsalz zu leeren, das er vorbereitet hatte.

In diesem Augenblick kamen die Männer, die ausgeschickt worden waren, um nach der schwarzen Hexe zu suchen, und meldeten, dass man ihren Leichnam nahe der Stelle entdeckt hatte, an der Jane aufgefunden worden war.

»Oh!«, rief René. »Als ich Janes Schrei vernahm und sie zu Boden stürzen sah, dachte ich, sie wäre einem Meuchelmord zum Opfer gefallen; ich hatte mein Gewehr zur Hand, also habe ich abgedrückt und die Frau getötet.«

»Sie Bedauernswerter«, sagte Justin leise zu ihm, »Sie haben den einzigen Menschen getötet, der sie zu retten vermocht hätte.«

»Armes geliebtes Kind!«, rief René, der Jane an die Brust drückte und in Tränen ausbrach.

»Beweine mein Schicksal nicht«, sagte Jane leise, so leise, dass niemand anders sie verstehen konnte; »hast du nicht gehört, was Justin sagte: dass mir noch vierundzwanzig Stunden Lebenszeit vergönnt sind?«

»Was soll das heißen?«, fragte René.

»Das soll heißen, mein geliebtes Herz«, flüsterte Jane, »dass mir vierundzwanzig Stunden Zeit bleiben, dir ohne Umschweife zu erklären, dass ich dich liebe! Der Tod soll mir willkommen sein; ich zählte auf ihn, aber ich ahnte nicht, wie wohlwollend er sein würde.«

In diesem Augenblick betrat der Priester das Zimmer. Niemand hatte ihn rufen lassen, und er hatte eben erst erfahren, was geschehen war.

Jane sah ihn aus dem Augenwinkel. »Lasst mich mit dem heiligen Mann allein«, sagte sie, und leise sagte sie zu René: »Komm zurück, wenn er gegangen ist; ich will auf keine Minute meiner vierundzwanzig Stunden verzichten.«

Alle verließen das Zimmer.

Draußen gab man sich dem Kummer hin, den man zuvor verborgen hatte.

Hélène, die halb ohnmächtig in den Armen ihres Mannes lag, wurde in ihr Zimmer eher getragen als geführt, und alle waren von dem Geschehen so überrascht, dass die Verblüffung den Tränen Einhalt gebot.

René ging auf die Veranda des Salons, auf der noch die zwei Sessel nebeneinander standen, wie sie verlassen worden waren; er setzte sich auf seinen Sessel, legte seinen Kopf auf Janes Sessel und überließ sich einem Schmerz, der vielleicht tiefer war als alles, was er zuvor empfunden hatte.

Denn indem er sich den zurückgelegten Weg vergegenwärtigte, erkannte er, wie Jane in aller Ruhe ihren Tod für die Stunde vorbereitet hatte, zu der er sie verlassen würde; die Frau, die sie hatte kommen lassen und die ihre schmutzige Liebe zum Geld mit ihrem Leben bezahlt hatte, nachdem sie geholfen hatte, Janes Tod vorzubereiten – war sie nicht die nubische Sklavin, der Kleopatra den Auftrag erteilt hatte, ihr in einem Korb mit Feigen die Viper zu bringen, die sie töten sollte?

Dieser Tod war für die festgesetzte Stunde geplant worden.

Da Jane ihm am Vorabend das Versprechen abgenommen hatte, nicht abzureisen, ohne es ihr vorher zu sagen, damit sie Abschied von ihm nehmen konnte, bedeutete dies, dass der Abschied kein gewöhnlicher Abschied war, sondern ein Abschied für die Ewigkeit; Jane hatte alle Vorkehrungen getroffen: Sie wusste, dass sämtliche Bewohner des Hauses, Menschen wie Tiere, die Hexe verabscheuten, und sie zweifelte nicht daran, dass ein nächtlicher Besuch der Hexe im Hof bellende Hunde und aufgeregte Domestiken zur Folge haben musste; deshalb hatte sie beschlossen, sich selbst auf den Weg zu machen und die Hexe mit nackten Beinen und Füßen aufzusuchen, damit die Schlange sie beißen und das Gift seine Wirkung ungehindert entfalten konnte.

Und statt sich zu beklagen, wie wenig Zeit Gott ihr ließ, um mit René zusammenzusein, frohlockte sie, dass sie vierundzwanzig Stunden lang die Größe ihrer Liebe zu ihm ausdrücken konnte; nach diesen vierundzwanzig Stunden würde der Tod die allzu feurigen Worte, die ihr entschlüpft sein mochten, läutern. Ihre Beichte dauerte nicht lange; indem sie sagte: »Ich liebe René«, hatte sie ihre einzige Sünde bekannt. Der Priester verließ ihr Zimmer, als der Tag zu dämmern begann; er hatte keine halbe Stunde an ihrem Sterbebett verbracht.

Als der Priester aus Janes Zimmer kam, ging er zu René und sagte: »Gehen Sie zu dem heiligen Kind, das Sie liebt; es wird Ihnen nicht schwerfallen, es mit dem Tode auszusöhnen.«

René ging in Janes Zimmer zurück und sah, dass sie ihn mit ausgestreckten Armen erwartete.

»Setzen Sie sich zu mir, mein Geliebter«, sagte sie, »und lassen Sie sich zuerst sagen, dass Sie mich bis zum Augenblick meines Todes nicht mehr verlassen werden.«

»Zeigen Sie mir zuerst Ihren Fuß«, sagte René, »damit ich weiß, wie es um Sie steht.«

»Wozu? Ist mein Todesurteil etwa nicht gefällt? Ich habe nur noch dreiundzwanzig Stunden zu leben; ich verlange weder Aufschub noch Begnadigung; ich bin glücklich.«

»Was hat der Priester Ihnen denn gesagt?«

»Eine Menge guter Dinge, ohne mich zu überzeugen. Er wollte mir Hoffnung machen; er sagte, uns umgäben unsichtbare Geister, die in der Luft schweben und die wir nicht erkennen können, weil sie so durchsichtig sind wie die Atmosphäre, in der sie sich bewegen. Diese Geister sind die Seelen derer, die uns geliebt haben, sie umgeben uns, sie berühren uns, sie flüstern uns unbegreifliche Worte zu, wenn wir wach sind, und sie sprechen zu uns, wenn wir schlafen; sie wissen, was wir noch nicht wissen können, denn sie können in die Zukunft sehen: daher die befremdlichen Enthüllungen und Vorausahnungen, deren Kenntnis diejenigen, die uns zu sehr lieben, vor uns nicht verbergen können. Dann sagte er, gewiss glaubten wir nur, was wir sehen können, wenngleich uns eine Vielzahl von Beweisen die Schwäche und das Unvermögen unserer Sinne vor Augen geführt hätten. Vor der Erfindung des Mikroskops – das heißt annähernd sechstausend Jahre lang – blieb unseren Augen die Hälfte der Wesen verborgen, die dieses Instrument sichtbar gemacht hat; der Erste, der seinen Blick auf die Welt des unendlich Kleinen richtete und eine Ahnung davon hatte, dass diese Welt endlos ist, wurde darüber wahnsinnig. Nun denn! Eines Tages, so hat der Priester mir erklärt, wird man vielleicht ein Instrument erfinden, mit dessen Hilfe man das unendlich Durchsichtige sehen kann, wie einst das unendlich Kleine sichtbar gemacht wurde. Und dann werden wir uns auf anderem Weg als über die Sprache mit diesen Luftgeistern verständigen, deren Vorhandensein nur die Dichtung erahnen konnte. Ja, mein lieber René, diese Vorstellung, dass meine Seele Sie weiter begleiten wird, dass ich Sie auch als Tote begleiten kann, dorthin gehen kann, wohin Sie gehen, mich mit der Luft vermischen, die Sie atmen, in dem Wind sein, der Ihre Haare bewegt – diese Hoffnung, so absonderlich sie erscheinen mag, hat mir unendlich große Freude bereitet. Hat Shakespeare nicht gesagt: ›Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt‹?«

Janes Stimme war bei den letzten Worten allmählich erstorben, und sie ließ ihren Kopf auf Renés Schulter sinken.

»Leiden Sie?«, fragte René.

»Nein, ich glaube nicht. Ich werde nur immer schwächer; der Fuß, in den ich gebissen wurde, ist wie aus Eis, mit diesem Fuß werde ich zuerst ins Grab steigen, die Kälte wird allmählich in mir heraufsteigen, und wenn sie mein Herz erreicht, werde ich mein Bett gegen das ewige Ruhelager eintauschen.«

Als René spürte, dass sie einschlief, hörte er auf, mit ihr zu sprechen, damit sie im Schlaf Kraft für den letzten Kampf sammeln konnte. Ihr Schlaf war unruhig, von Aufbäumen und unverständlichem Gestammel unterbrochen.

Hélène kam herbei; die Tür des Zimmers stand offen; sie streckte den Kopf zur Tür herein und fragte wortlos, wie es ihrer Schwester gehe.

René zeigte ihr die Schlafende, die an seiner Schulter ruhte; sie trat ein und küsste Jane auf die Stirn.

»Großer Gott, Hélène«, sagte René, »Sie kennen die Leute des Hauses, kann man denn nichts tun, um der Armen wenigstens die Schmerzen zu lindern, wenn man ihr sonst nicht helfen kann?«

»Ach! Denken Sie, ich hätte nicht jedermann gefragt, selbst den Unwissendsten? Alle haben mir gesagt, der Tod sei nicht schmerzhaft, aber unausweichlich. Sagen Sie ihr, lieber René, dass ich sie mit Ihnen nicht aus Gleichgültigkeit allein lasse, sondern weil ich ihre letzten Freuden nicht schmälern will.«

Dann beugte sie sich abermals über ihre Schwester und küsste sie nochmals auf die Stirn, bevor sie auf Zehenspitzen den Raum verließ.

Doch während Hélène sich entfernte, schlug Jane langsam die Augen auf; für einen Augenblick sah sie starr geradeaus, dann seufzte sie und sagte: »Oh, lieber René, was für einen schönen Traum habe ich eben geträumt! Ich sah, wie ich Sie jetzt vor mir sehe, einen schönen Engel aus dem Himmel, strahlend vor Licht, der an mein Bett kam und mich auf die Stirn küsste und zu mir sagte: ›Schwester, komm mit uns, wir warten auf dich!‹ Dann küsste er mich noch einmal und flog davon.«

Ihr die Wahrheit zu sagen, wäre grausam gewesen, und René sagte nichts.

»Aber nun, mein geliebter René«, fuhr Jane fort, »will ich Sie etwas fragen. Als mein Entschluss bereits gefasst war, Ihre Abreise nicht zu überleben, sahen Sie mich doch Edelsteine aussuchen und in einen Beutel stecken, nicht wahr?«

»Ja, Jane, und ich wollte Sie fragen, was Sie da taten, aber ich dachte mir, diese Frage wäre indiskret.«

»Ihre Zurückhaltung habe ich bemerkt«, sagte Jane, »aber da es noch nicht an der Zeit war, Ihnen zu enthüllen, was ich vorhatte, wollte ich nichts sagen.«

»Der Beutel«, sagte René, »trug zwei handgestickte Initialen, ein C und ein S.«

»Diese Buchstaben machten Sie nachdenklich, nicht wahr?«

»Es sind die Initialen von Claire de Sourdis.«

»In der Tat«, sagte Jane, »ist dieser kleine Beutel für meine Cousine Claire de Sourdis bestimmt. Wenn es eines Tages so weit sein wird, dass Napoleon Ihnen verzeiht, was Sie getan haben, und wenn es Ihnen gelingen wird, eine Position zu erlangen, die Ihrer würdig ist, wird Mademoiselle de Sourdis Ihre Frau werden; und dann werden Sie zu ihr sagen: ›In den Ländern des heißen Atems und der glühenden Leidenschaften begegnete ich zwei jungen Mädchen, meinen Cousinen; zuerst rettete ich ihnen die Ehre und dann das Leben; aus Ihrer Nähe verbannt, obwohl ich ohne Unterlass an Sie dachte, weihte ich ihnen mein Leben. Die eine der beiden, die Jüngere, war so unglücklich zu sterben; ich liebte sie zärtlich, aber mein Herz gehörte nicht ihr, sondern Ihnen. Sie starb an ihrer Liebe, denn es war eine Liebe von der Art, wie sie tötet, wenn sie nicht zum Leben befähigt; doch vor ihrem Tod nahm sie diesen Beutel, der zu ihrem Privatvermögen gehörte und der nun Edelsteine für drei Garnituren enthält: Rubine, Saphire und Smaragde; sie hat die Steine aus der zehnfachen Menge ausgewählt; sie hat Ihre Initialen eigenhändig auf den Beutel gestickt und hat ihn mir überreicht, als sie im Sterben lag, denn es ist ihr Hochzeitsgeschenk, ein Geschenk, das Sie nicht zurückweisen können, da die Hand, die es darbietet, aus dem Grab kommt. Seien Sie nicht eifersüchtig auf sie; ich habe sie nie geliebt, und auf Tote ist man nicht eifersüchtig.‹«

René begann zu schluchzen. »Ach, Jane, schweigen Sie«, sagte er, »schweigen Sie.«

»Jedes Mal, wenn Sie sie in einer der drei Garnituren sehen, werden Sie gezwungen sein, an mich zu denken.«

»O Jane, Jane«, rief René, »wie können Sie denken, dass ich Sie jemals vergessen könnte?«

»Ich bin durstig, geben Sie mir Wasser.«

Das Bedürfnis zu trinken war der einzige Wunsch, den sie seit dem Morgen mehrmals geäußert hatte.

René reichte ihr ein Glas Wasser, das sie gierig leerte.

Janes Stirn umwölkte sich wieder; sie wurde zunehmend schwächer.

»Hat sich denn niemand nach mir erkundigt?«, fragte sie. »Meine Schwester Hélène scheint sich meinem Wunsch, mit Ihnen allein zu bleiben, mehr als bereitwillig zu fügen.«

Es bekümmerte René zu sehen, dass Jane Hélène allen Ernstes Gleichgültigkeit vorwarf, und er machte sich Vorwürfe, ihr Hélènes Besuch verschwiegen zu haben. »Machen Sie Ihrer Schwester keine Vorwürfe«, sagte er, »sie kam, als Sie schliefen.«

»Oh!«, sagte Jane, und ein Lächeln trat auf ihr Gesicht. »Dann habe ich mich nicht getäuscht, sondern es war Hélène, die ich in meinem Traumgesicht sah und für einen Engel hielt. Liebe Hélène, ihr fehlt nicht viel zum Engel, kaum mehr als die Flügel.«

»Jane«, sagte René, »ich werde Sie keine Sekunde lang allein lassen, aber Sie fügen den Menschen, die Sie lieben, großen Schmerz zu, indem Sie sich weigern, sie zu sehen, indem Sie zeigen, dass sie Ihnen gleichgültig sind, indem Sie nichts von ihnen wissen wollen.«

»Sie haben recht, René, rufen Sie alle herbei.«

René legte ihren Kopf behutsam auf das Kissen zurück und ging Hélène holen.

»Setzen Sie sich wieder zu mir«, sagte Jane. »Niemand außer Ihnen hat das Recht, bis zu meinem Tod an meiner Seite zu bleiben. Heute Nacht werde ich sagen, dass ich schlafen will, alle werden gehen, und Sie werden mich auf die Veranda tragen, damit ich dort, wo wir so glückliche Stunden verbracht haben, von dem Himmel, den Sternen, der Schöpfung und von Ihnen Abschied nehmen kann.«

Auf der Treppe erklangen die Schritte der Besucher, die an Janes Bett beten wollten; als Erste kam ihre Schwester Hélène, gefolgt von Sir James und dem Priester. Ihnen folgten der alte Remi, seine drei Söhne, die Tochter Adda und François. Nach François kamen die Dienstboten: das birmanische Gesinde, die Neger und Negerinnen.

Alle knieten nieder, René am Kopfende des Sterbebetts. Der Priester stand als Einziger mitten unter den Knienden. Pater Luigi war eine würdevolle Erscheinung, und er fand in jeder Situation die richtigen Worte. Sein Gebet war der bewegende Abschied eines jungen Mädchens von allem Unbekannten, von den Geheimnissen der Liebe, vom Glück der Ehe, von den Freuden der Mutterschaft; und diesen irdischen Freuden stellte er das göttliche Glück gegenüber, das den Erwählten des Herrn vorbehalten ist.

Jane wurde zum zweiten Mal ohnmächtig.

Der Priester sagte als Erster: »Ich glaube, wir ermüden die Kranke nur unnötig; niemand benötigt weniger Bittgebete, um in den Himmel zu gelangen, als dieses keusche Kind.«

Bei Jane blieben nur René, Hélène und Sir James zurück. René gab ihr Riechsalz; Jane zuckte zusammen, machte einige fahrige Bewegungen, schlug die Augen auf und lächelte; sie sah sich von allen umgeben, die sie geliebt hatten, die sie noch liebten, und in der Kapelle des Hauses wartete ihr Vater auf sie; sie streckte Hélène die Hand hin, und Hélène warf sich abermals in ihre Arme.

»Meine liebe Hélène«, sagte Jane, »du weißt, dass ich nicht länger leben konnte; ich habe die arme Frau, deren Tod ich verschuldet habe, nach der leichtesten Todesart gefragt, und sie nannte mir den Biss der Schachbrettschlange; wenn ich sterbe, dann, weil ich sterben wollte, beklag mich also nicht. Hätte René mich heute verlassen, wäre ich vor Schmerz und Kummer gestorben; nun verlasse ich ihn zuerst und aus freien Stücken; das Unglück, das man selbst herbeiführt, ist immer erträglich, und nur mit dem Unglück, das unser Pech uns beschert, können wir uns nicht abfinden. Sieh doch, wie ruhig ich bin, wie glücklich; abgesehen von der Blässe müsste man beinahe denken, wir hätten die Rollen getauscht. Du weinst, und ich lächle. Meine liebe Hélène, damit mein Tod so sein wird, wie ich ihn mir erträumt habe, muss ich so sterben wie in diesem Augenblick, an Renés Schulter gelehnt; seine geliebte Hand muss meine Hände für die Ewigkeit auf meiner Brust falten. Du hast noch lange Jahre des Glücks vor dir, liebe Hélène, ich habe nur mehr wenige Minuten. Lass mich mit ihm allein, liebe Schwester; er wird dir sagen, wenn es so weit ist, dass alles zwischen uns auf Erden vorbei ist. Gott gebe, dass wir einander im Jenseits wiederfinden!«

Hélène umarmte Jane ein letztes Mal, und Sir James drückte ihre Hände; ein schmerzliches Zucken glitt über seine ebenmäßigen Züge, und eine Träne entschlüpfte seinen Lidern, bevor er Hélène in den Arm nahm und an sein Herz gedrückt aus dem Zimmer führte, als fürchtete er, der Tod könnte sie ihm streitig machen.

Die Nacht war hereingebrochen, und obwohl kein Licht in dem Zimmer entzündet worden war, war es so hell, als herrschte nur Dämmerung.

»Die Stunde naht unwiderruflich«, sagte Jane, »ich spüre, wie die Kälte mich übermannt und ins Grab zieht; ich leide nicht, sondern ich spüre nur, dass ich nicht länger leben kann.«

Sie deutete auf ihren Gürtel und sagte: »Von jener Stelle an lebe ich nicht mehr; bring mich auf unseren Balkon; dort will ich Abschied von dir nehmen, dort will ich sterben.«

René nahm Jane in die Arme, trug sie auf den Balkon und setzte sie auf seine Knie.

Draußen schien sie wieder Atem und neues Leben zu schöpfen. Die Nacht war so hell und klar wie die Nacht davor. René sah auf der Wiese den Weg, den Jane gegangen war; er sah, wie die Negerin sich ihr näherte; er hörte den Schrei, den das junge Mädchen ausstieß, als es niederfiel; und er sah, wie die Negerin sich nach seinem Schuss auf dem Boden wälzte: All diese Dinge, die nicht nur in seiner Erinnerung, sondern auch vor seinen Augen vorbeizogen, brachten ihn zum Schluchzen. Er drückte Jane an sein Herz und rief: »O Jane! Geliebte Jane!«

Jane lächelte. »Wie klug von dir«, sagte sie, »das nicht schon vorgestern gesagt zu haben, denn dann wäre ich nie und nimmer bereit gewesen zu sterben.«

Sie schwieg für einen Augenblick und betrachtete René und den Himmel, so dass es aussah, als vergrößerte ihr Auge sich.

»Nimm mich noch einmal in die Arme, René«, sagte sie, »denn mir ist, als entglittest du mir in weite Ferne.«

»O nein!«, rief René. »O nein, ich drücke dich im Gegenteil mit all meiner Kraft an die Brust.«

»Wenn das so ist«, sagte Jane, »dann bin ich in der Umarmung des Todes gefangen. Kämpfe um mich, René, kämpfe um mich.«

Sie schlang ihre Arme um Renés Hals und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. René senkte seinen Kopf auf ihren Kopf.

Nach wenigen Sekunden spürte er, wie sie zusammenzuckte.

»Ah!«, rief sie. »Ah, sie beißt mich mitten ins Herz, sie beißt mich mitten ins Herz!«

Und mit einer Bewegung zog sie Renés Kopf zu sich und presste ihre Lippen auf die seinen. »Adieu«, sagte sie. »Adieu!« Und kaum hörbar fügte sie hinzu: »Auf Wiedersehen – vielleicht.«

Dann sank sie mit ihrem ganzen Gewicht auf Renés Arm.

René sah sie an: Ihre Augen waren geöffnet; man hätte meinen können, sie sähe noch; er legte die Hand auf ihr Herz, und es schlug nicht mehr; er hielt seine Wange vor ihren Mund: Ihr Atem war versiegt, der letzte Atemzug, der sein Gesicht gestreichelt hatte, hatte die Seele fortgetragen.

René blieb einige Minuten lang sitzen und betrachtete sie; noch immer wähnte er, ein Wort oder eine Bewegung könnten einen letzten Lebensfunken in ihr wecken.

Aber sie war tot und blieb tot.

Er trug sie in ihr Zimmer zurück, legte sie auf ihr Bett, kreuzte ihr die Hände über der Brust und schlug auf den Gong.

Die anderen kamen angelaufen, allen voran Hélène und Sir James.

»Es ist vorbei«, sagte René.

Alle brachen in Tränen aus; Hélène trat an das Bett und wollte Jane die Augen schließen.

»O nein!«, sagte René und schob Hélènes Arm sanft beiseite. »Sie wissen doch, dass sie mich darum gebeten hat, ihr diesen Dienst zu erweisen.«

Und er schloss ihre Augen, die sich erst wieder im Licht jener unbekannten Fackel öffnen werden, welche die Seele durch die Ewigkeit geleitet.

Nach dieser frommen Handlung eilte René aus dem Zimmer mit den Worten: »Bleiben Sie bei der Toten; wenn der Leichnam eine Seele enthielt, dann nehme ich sie mit mir.«

Denn einer der beiden wusste zu dieser Stunde um das Geheimnis des großen Mysteriums, über das sie sich unter den nächtlichen Sternen so oft unterhalten hatten.

René hatte Jane nicht wie ein Liebender geliebt, sondern wie ein zärtlicher und liebevoller Freund und Bruder. Dieser Mann aus Erz, der einen Menschen erschoss wie einen Hund und der den Toten so gleichgültig zu seinen Füßen liegen sah, als wäre er tatsächlich ein Hund, musste allein sein, um zu weinen.


Janes Todesart und die klimatischen Bedingungen erforderten ein baldiges Begräbnis. Der Priester blieb bei der Toten. Hélène ging in ihr Zimmer und beendete ihre Hochzeitsnacht damit, dass sie in den Armen ihres Ehemannes ihre Schwester beweinte. Der alte Remi und seine drei Söhne kümmerten sich um das Begräbnis; während Justin die Kapelle mit Blumen ausschmückte, versorgte Adda den Leichnam, den sie auf einer Unterlage aus Aloegewebe in den von Jules und Bernard gezimmerten Teakholzsarg legte und mit frischen Zweigen umkränzte.

Um fünf Uhr nachmittags an diesem Tag rief der Gong zur traurigen Beerdigung. Alle Bewohner der Siedlung versammelten sich im Hof vor dem Tor, wo die Tote aufgebahrt war. Gebete wurden gesprochen, und dann trugen vier junge Mädchen den Sarg in die Kapelle.

René hatte die zwei Elefanten freigelassen; als wüssten sie, welcher Trauerfall sich ereignet hatte, waren sie an allen Trauernden vorbeigewandert und hatten sich wie zwei steinerne Kolosse stumm und reglos der allgemeinen Trauer angeschlossen, als wäre ihnen das Hinscheiden des jungen Mädchens bewusst oder als ahnten sie zumindest, welch großer Schmerz die Anwesenden bewegte.

Jane wurde in die Felsspalte gelegt, in der bereits Eva und der Vicomte de Sainte-Hermine ruhten; und wie bei primitiven Völkern beendete die Trauerfeierlichkeiten eine Mahlzeit, an der alle teilnahmen, auch die niedrigsten Sklaven der Niederlassung.

Nun, da Jane tot war, wollte René seine Abreise nicht länger hinausschieben, und am Tag nach dem Begräbnis kündigte er sie an. Ungeachtet aller Dienste, die er den Schwestern geleistet hatte, musste seine Anwesenheit Kummer und Trauer auslösen. Hélène wusste sehr wohl, dass Janes Liebe zu dem jungen Mann sie in den Tod getrieben hatte; da sie jedoch Renés Geschichte und seinen wahren Namen nicht kannte, konnte sie nicht umhin, ihn für den Tod ihrer Schwester verantwortlich zu machen. Unter ihren lebhaftesten Dankesbezeigungen erwähnte sie die Ausgaben, die René die Reise nach Birma gekostet haben musste, doch er lächelte nur und küsste ihr die Hand, so dass sie begriff, dass sie all das besser auf sich beruhen ließ. Als hätte sie das vorausgesehen, reichte sie René daraufhin eine Schatulle, die Jules angefertigt hatte und die mit Juwelen gefüllt war. René jedoch holte traurig den Beutel hervor, den Jane bestickt hatte, küsste ihn, öffnete ihn und zeigte Hélène den Inhalt.

Dann leerte er Hélènes Schatulle auf den Tisch, suchte den schönsten Saphir aus und sagte: »Stein der Trauer, er wird mir für einen Ring dienen, den ich nie ablegen werde.«

Hélène hielt René ihre Wangen hin.

»Oh«, sagte er, »das ist etwas anderes, das ist das Geschenk einer Schwester an ihren Bruder.«

Und er küsste sie.


Am nächsten Tag war alles für seinen Aufbruch bereit. Die Eskorte war dieselbe wie bei der Herreise. Nur die Elefanten, die Jane zu behalten gewünscht hatte, ließ René zurück, und als Sir James in der Hoffnung, mehr Glück zu haben als Hélène, ihren Preis erfragen wollte, sagte René: »Jane bat mich um die Elefanten, ich habe sie ihr geschenkt, und damit gehören sie Ihnen.«

Am Tag darauf wartete die Eskorte bei Tagesanbruch im Hof. Einen Augenblick lang fragte man sich, wo René stecken mochte; in seinem Zimmer war niemand anzutreffen. Man wollte sich schon auf die Suche machen, als er aus der Kapelle trat: Er hatte den Rest der Nacht an Janes Sarg verbracht.

Einen letzten Besuch galt es den Elefanten Omar und Ali abzustatten, die zuerst glaubten, René wolle sie holen, um sie mitzunehmen, doch schnell begriffen, dass es sich so nicht verhielt, und da sie nicht weltgewandt genug waren, um ihren Schmerz zu verbergen, bezeigten sie ihn René mit den deutlichsten und ergreifendsten Zeichen.


Man trennte sich, wo man einander begegnet war. Sir James bestand darauf, René sein schönstes Manton-Gewehr zu schenken, der das Geschenk mit einer seiner Büchsen erwiderte. Hélène hatte ihm bereits das schönste Geschenk dargeboten, das in ihrer Macht lag, und ihm ihre Wangen zum Kuss gereicht.

Da keine Frauen zu der Eskorte zählten, konnte man sich für die Reise vom Land des Betels nach Pegu mit einem Zwischenhalt begnügen. Man wollte am Ufer des Sees übernachten und am nächsten Tag Pegu erreichen.

René und François bestiegen die kleinen birmanischen Pferde, die so erstaunlich zäh und ausdauernd sind; die Eskorte, die zu Fuß folgte, zeichnete sich durch fast noch größere Ausdauer aus.

Gegen Mittag wurde tief im Waldesinneren eine kurze Pause eingelegt, damit man der größten Hitze entging. René, den die drei Brüder reichlich mit Betel versehen hatten, gab seinen Männern eine ordentliche Portion davon und versprach ihnen gleiche Rationen für den Abend und den nächsten Tag.

Gegen fünf Uhr abends erreichten sie den See.

Kaum waren sie angekommen, konnten einige Neger und Inder der Versuchung nicht widerstehen, ein kühles Bad zu nehmen, obwohl Kaimane in allen Größen wie Baumstämme auf der Wasseroberfläche zu sehen waren; die Männer mussten nur ihren blauen Rock ablegen, der von der Taille bis zum Knie reicht, um sich in Badekleidung zu befinden.

Sie ließen ihre Schurze fallen und sprangen ins Wasser.

Unterdessen hielten René und François mit dem Gewehr in der Hand Wache und richteten den Blick abwechselnd auf den See und auf den dichten Wald, der an ihn grenzte.


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