65 Die Ankunft

Der Kampf hatte sein Ende erreicht. Von den fast hundert Piraten, welche die Slup überfallen hatten, waren nur wenige am Leben geblieben; fast ausnahmslos verwundet, erwarteten sie Gnadenschuss oder Gnadenstoß. Danach würde das Meer das Werk des Feuers vollenden.

»Alle Segel setzen!«, rief Kernoch. »Und Kurs nach Norden.«

Die Windfahne wurde gehisst, und das Schiff flog in die Richtung, die ihm der Kompass wies, so gehorsam wie ein Pferd, dem man die Sporen gibt.

Die letzten Überlebenden klammerten sich an die Trümmer der Perahu oder streckten vergebens den Arm danach aus und wurden von den Haien zerrissen. Bis zur Küste waren es noch mehr als zweihundert Meilen.

Kernoch war der Held des Tages. Seinem Einfall war es zu verdanken, dass die Perahu zerschmettert worden und ihre Besatzung im Meer verstreut worden war. Denn wer weiß, was mit der Runner of New York geschehen wäre, wenn die sechzig Piraten Gelegenheit gefunden hätten, sie zu entern.

René kehrte zu den Schwestern zurück, die auf den Stufen zur Poop saßen. Mit seinen im Wind flatternden Haaren und seinem von Dolchstößen zerfetzten Hemd war er schön wie ein homerischer Held, als er sich auf seine blutige Pike stützte. Bei seinem Anblick stieß Jane einen mit Bewunderung gemischten Freudenruf aus. Sie streckte ihm die Arme entgegen und rief: »Zum zweiten Mal haben Sie uns das Leben gerettet!«

Doch statt diese naive Avance mit einer Umarmung und einem Kuss zu erwidern, nahm René nur ihre Hand und drückte sie an seine Lippen.

Hélène sah ihn an; ihr Blick verriet, wie dankbar sie ihm für seine ritterliche Zurückhaltung war. »Meine Dankbarkeit«, sagte sie, »ist zwar weniger exaltiert als die meiner Schwester, aber darum nicht geringer, glauben Sie mir. Gott ist sogar in dem Schmerz, den er uns zufügt, voller Güte: Er nimmt uns unseren Vater und gibt uns dafür einen Bruder, einen Beschützer, einen Freund, einen Mann, der – wie soll ich es sagen – unserer Dankbarkeit Grenzen setzt, sobald sie ihm zu groß erscheint. Was hätten wir ohne Sie anfangen sollen, Monsieur?«

»Ein anderer wäre an meiner Stelle gewesen«, erwiderte René. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott sich Ihrer nicht erbarmt hätte. In Ermangelung meiner Person wäre ein Engel vom Himmel herabgestiegen, um Ihnen als Beschützer zu dienen.«

Unterdessen hatte François Renés Waffen aufgesammelt und brachte sie ihm.

»François, bringen Sie das alles in meine Kajüte«, sagte René. »Zum Glück müssen wir uns dieser elenden Vernichtungswaffen jetzt nicht mehr bedienen.«

»Sachte, sachte, Monsieur«, sagte der Pariser, »rümpfen Sie nicht die Nase über Ihre Waffen: Wenn Sie sie handhaben, machen Sie keine halben Sachen. Sehen Sie nur die zwei Burschen, die gerade ins Wasser geworfen wurden« – und er deutete auf die beiden Malaien, die in die Kajüte der Mädchen eingedrungen waren und sie bis an Deck verfolgt hatten – »die können ein Lied davon singen.«

»Beeilt euch, Leute«, rief René den Matrosen zu, die das Deck scheuerten. »Beeilt euch, und dass kein Tropfen Blut an Deck übrig bleibt! Kapitän Kernoch erlaubt, dass ich euch drei Flaschen Arrak ausgebe, die ihr auf sein Wohl und das der Damen leeren könnt, und dass ich euch dreifachen Sold für den heutigen Tag bezahle. Kommen Sie, meine Damen, steigen wir auf die Poop oder gehen wir in Ihre Kajüte, doch mir scheint, zuerst sollte unser Zimmermann in Ihrer Kajüte nach dem Rechten sehen. An Ihrer Stelle würde ich mich auf das Oberdeck begeben. Oder nehmen Sie mit meiner Kajüte vorlieb, bis die Ihre wieder bezugsfertig sein wird.«

»Steigen wir auf die Poop«, sagte Hélène.

Sie stiegen hinauf, setzten sich und blickten auf das Meer hinaus. Gottes Werke trösten fast immer über die der Menschen hinweg.

»Wenn man bedenkt«, sagte René, der sich an die Stirn schlug, »dass sich hier vorhin Männer mit Messern und Dolchen gegenseitig abgeschlachtet haben und dass ich für den Geringsten unter ihnen mein Leben aufs Spiel setzen würde, wenn er sich jetzt in Gefahr befände!«

Hélène seufzte und setzte sich neben ihrer Schwester und René auf eine Bank.

»Aber«, sagte dieser ohne Übergang, »haben Sie denn in Frankreich keinen einzigen Verwandten, dem ich von Ihnen berichten und den ich bitten könnte, sich um Sie zu kümmern?«

»Die Geschichte unserer Familie ist traurig, denn sie ist vom Tod gefärbt. Zuerst verstarb unsere Tante; sie ging ihrem Ehemann voraus, der mit drei Söhnen hinterblieb und miterleben musste, dass der älteste füsiliert und der zweite unter schrecklichen Umständen guillotiniert wurde; was mit dem jüngsten geschah, das ist ein Geheimnis, das zu lüften unser Vater nichts unversucht gelassen hat, doch sein Schicksal bleibt wie von einem Schleier verhüllt. Am selben Abend, an dem er seinen Ehevertrag unterzeichnen sollte, verschwand er spurlos wie eine Legendengestalt, die sich in Luft auflöst und nie wieder gesehen wird.«

»Und den jungen Mann haben Sie nie kennengelernt?«, fragte René.

»O doch, ich erinnere mich sogar an ihn, obwohl wir noch sehr jung waren; er diente eine Zeit lang unter meinem Vater, als dieser Kapitän war; er war ein liebenswerter Knabe in seiner Steuermannsjungenuniform mit dem Dolch an der Seite und dem Dreispitz auf dem Kopf. Damals war er zwölf oder dreizehn, und ich war sechs oder sieben Jahre alt. Meine Schwester war zu jung, um sich so gut an ihn zu erinnern wie ich. Mein Vater – darüber können wir ruhig sprechen, da all das verflossen und vergangen ist – hatte sogar vorgehabt, unsere Familien durch engere Bande zu vereinigen. Ich weiß noch, dass wir uns nicht nur als Cousin und Cousine betrachteten, sondern gewissermaßen als Verlobte. Solche Jugendträume muss man vergessen, vor allem wenn es nur Leid bedeuten würde, sich ihrer zu entsinnen. Als wir erfuhren, dass der arme Junge verschwunden war, stellten wir alle Nachforschungen an, die in unserer Macht standen, doch vergeblich, und mein Vater gelangte zu dem Schluss, dass er ums Leben gekommen sein müsse. Dann ereigneten sich die schrecklichen Todesfälle Cadoudals, Pichegrus und des Herzogs von Enghien. Angewidert von den Zuständen in Frankreich, beschloss mein Vater, sich nur noch mit den Ländereien zu befassen, die er am anderen Ende der Welt besaß und von denen es hieß, allein indem man Reis säe, könne man dort reich werden. In London lernten wir Sir James Asplay kennen, der seit sieben oder acht Jahren in Indien lebt und unser Nachbar ist, wie man in Indien eben Nachbar ist, auf zwei- bis dreihundert Meilen Entfernung, denn er ist in Kalkutta stationiert. Er hat den indischen Boden untersucht, und er weiß, was man am besten anbaut; er ist ein hervorragender Jäger, und sein größter Wunsch ist es, sich ein unabhängiges Reich von sechzig Meilen Radius zu schaffen. Ich dagegen bin so ehrgeizlos wie Hamlet, und wäre mein Reich so klein wie eine Nussschale, wäre ich darin glücklich, vorausgesetzt, meine Schwester wäre es auch.«

Nach diesen Worten legte Hélène ihrer Schwester sanft den Arm um die Schulter und küsste sie zärtlich.

René hatte ihr mit größter Aufmerksamkeit zugehört; hin und wieder hatten sich seiner Brust Seufzer entrungen, als wären in ihm ganz ähnliche Erinnerungen geweckt worden.

Schließlich erhob er sich, ging mit großen Schritten auf der Poop hin und her und setzte sich dann wieder neben die Schwestern, wobei er ein Lied aus der Feder Chateaubriands summte, das in jenen Tagen sehr beliebt war:


Wie süß ist die Erinnerung

An meiner Kindheit Heimatort!

Ach, Schwester, wie schön war die Zeit

In Frankreich!

O mein Land, meine größte Liebe seist

Du allezeit.

Alle drei waren schweigend in ihre Gedanken vertieft, und wer weiß, wie lange sie so geschwiegen hätten, wäre nicht François gekommen, um zu sagen, dass das Mittagessen angerichtet sei, und da die Kampfhandlungen im Speisezimmer ihre Spuren hinterlassen hatten, wurde ausnahmsweise in der Kajüte Monsieur Renés gespeist.

Die Demoiselles de Sainte-Hermine hatten dieses Zimmer nie zuvor betreten; voller Staunen sahen sie, mit wie viel künstlerischem Geschmack es eingerichtet war. René, der ein ausgezeichneter Zeichner war, hatte Aquarelle von allen Landschaften und Sehenswürdigkeiten angefertigt, die ihn beeindruckt hatten. Zwischen zwei Landschaftsaquarellen befanden sich kostbare Waffen, und an der gegenüberliegenden Wand war eine Sammlung von Musikinstrumenten angebracht. Die Schwestern traten neugierig näher, denn beide waren musikalisch. Es gab eine Gitarre, ein Instrument, das Jane spielte. Hélène hingegen war eine mehr als passable Pianistin, doch seit dem Tod ihres Vaters wäre sie nicht im Traum darauf verfallen, die Tasten eines Klaviers zu berühren, obwohl es in ihrer gemeinsamen Kajüte ein solches Instrument gab.

Die Musik schuf ein neues Band zwischen den drei jungen Leuten. Auch in Renés Kajüte gab es ein Klavier, doch René spielte darauf in ganz eigener Manier; die effektvolleren Stücke der großen Meister jener Zeit spielte er nie, sondern nur leise, klagende Melodien, die ausdrückten, was sein Herz empfand: »Une fièvre brûlante« von Grétry oder »Dernière pensée« von Weber, doch häufiger noch war ihm das Klavier nur ein Echo der Erinnerungen, die niemand mit ihm teilte. In solchen Augenblicken schlug seine Hand so wohlklingende Akkorde an, dass es war, als erzeugte sie nicht Töne, sondern als spräche sie eine eigene Sprache.

Oftmals hatten die Schwestern nachts leise harmonische Klänge vernommen, die sie für das Rauschen des Winds im Tauwerk oder für ein Zusammentreffen nächtlicher Geräusche gehalten hatten, wie sie die Seereisenden des Altertums als Gesang der Meeresgottheiten deuteten, doch nie wäre ihnen der Gedanke gekommen, dass diese Seufzer einer unbestimmbaren und zugleich unerschöpflichen Traurigkeit von einer Menschenhand und den kalten Tasten eines Klaviers hervorgebracht sein könnten.

Nach dem Mittagessen blieb man in Renés Kajüte, um sich nicht an Deck den unbarmherzigen Sonnenstrahlen auszusetzen, und René zeigte den Schwestern das Klavier und die Instrumente an der Wand; doch als er sah, dass die Augen der Mädchen sich mit Tränen füllten, dachte er an den Leichnam ihres Vaters, den er zusammen mit ihnen in unbekannte Länder brachte, die voller Gefahren waren.

Und die Finger des jungen Mannes erweckten auf dem Klavier die melancholische Melodie, die Weber in Wien komponiert hatte. Wie die Gedichte André Chéniers und Millevoyes war diese Musik etwas völlig Neues in dieser neuen, von Revolutionen erschütterten Welt, die so vieles zu beweinen hatte. Unwillkürlich erstarb die Melodie zu schlichten Akkorden, die noch melancholischer und kummervoller waren. Als Webers Lied verklungen war, bewegten sich Renés Finger wie von allein weiter und spielten statt der Träumereien des Komponisten seine eigenen Phantasien. In solchen Improvisationen, die man nicht erlernen kann, offenbarte sich die Seele des jungen Mannes ganz und gar. Wer vermeint, in der Musik lesen zu können wie in einem Buch, der konnte in dieses Klavierspiel blicken wie durch eine Wolke, die ein schönes Tal oder eine üppige Ebene in eine eigene Welt verwandelt, in der die Bächlein nicht rauschen, sondern seufzen, und die Blumen weinen, statt zu duften. Diese Musik war so ungewohnt und so unerwartet für die Schwestern, dass ihnen Tränen die Wangen hinunterliefen, ohne dass sie es merkten. Als Renés Finger unvermutet innehielten – denn solche Akkorde kennen keine zeitliche Beschränkung -, erhob Jane sich von der Bank und kniete vor Hélène nieder.

»Oh, liebe Schwester«, sagte sie, »ist so eine Musik nicht genauso tröstlich und genauso fromm wie ein Gebet?«

Hélène antwortete nur mit einem Seufzer und einer zärtlichen Umarmung, mit der sie ihre Schwester an ihr Herz drückte.

Es war nicht zu leugnen, dass die Schwestern seit einiger Zeit Gedanken und Gefühle empfanden, die sie sich nicht erklären konnten.

So vergingen die Tage, als hätten die jungen Leute kein Zeitgefühl.

Eines Morgens rief der Mann im Ausguck: »Land in Sicht!« Wenn Renés Berechnungen zutrafen, musste es sich dabei um Birma handeln. Er rechnete nochmals, und das Ergebnis bestätigte die Vermutung.

Kernoch sah den Rechenkunststücken zu, ohne das Geringste davon zu verstehen; er fragte sich, wie jemand wie René, der noch nie auf einem Schiff gefahren war, eine so schwierige Arbeit so selbstverständlich verrichten konnte, eine Arbeit, die er, Kernoch, niemals hätte meistern können.

Man setzte Segel und nahm Kurs auf die Mündung des Flusses Pegu. Die Küste war so niedrig, dass sie von der Meeresoberfläche kaum zu unterscheiden war.

Bei dem Ruf »Land!« waren die beiden Schwestern an Deck gekommen, wo sie René mit dem Fernglas in der Hand vorfanden; er reichte ihnen das Glas, doch da sie es nicht gewohnt waren, den Meereshorizont zu betrachten, sahen sie anfangs nichts als die unendliche Weite des Ozeans. Doch je näher sie der Küste kamen, umso deutlicher tauchten wie Inseln Berggipfel auf, die in der klaren Luft noch aus größter Ferne erkennbar waren.

Das Schiff setzte am Großmast eine neue Flagge und gab zwölf Kanonenschüsse ab, die von der Kanone des Forts sogleich erwidert wurden. Dann bat Kernoch um einen Lotsen. Bald darauf sah man aus dem Fluss von Rangun ein kleines Schiff kommen, das den gewünschten Mann brachte. Er begab sich an Bord. Auf die Frage, welche Sprache er spreche, erwiderte er, er stamme weder aus Pegu noch aus Malakka, sondern aus Chiang Saen, und um dem König von Siam nicht tributpflichtig zu sein, habe er sich nach Rangun abgesetzt und sich dort zum Lotsen ausgebildet; da er ein wenig Englisch radebrechte, konnte René ihn so weit ausfragen. Renés erste Frage hatte der Schiffbarkeit des Flusses Pegu gegolten, denn die Runner of New York hatte einen Tiefgang von neun bis zehn Fuß.

Der Lotse mit Namen Baba erklärte, der Fluss sei etwa zwanzig Meilen weit befahrbar, ungefähr bis zu einer Siedlung, die einem französischen Grundbesitzer gehöre. Diese Siedlung, die nur aus einigen Bauernhäuschen oder Hütten bestand, trug den Namen Rangoon House, und die Reisenden erkannten darin zweifelsfrei den Besitz des Vicomte de Sainte-Hermine. Renés kleine Slup segelte unter amerikanischer Flagge, doch sie wurde eingehend untersucht, denn sie sah den Handelsschiffen, die in dieser Weltgegend verkehrten, so unähnlich, dass die Behörden erst nach einem dritten Besuch an Bord die Fahrt den Fluss entlang erlaubten.

Es war schon spät am Tag, als die Reisenden Rangun erreichten und den Rangun-Fluss querten, der in einen Seitenarm des Irrawaddy mündet; dann ging es den Fluss Pegu entlang, der in dem Bergland weiter südlich entspringt und nach einem Verlauf von fünfundzwanzig bis dreißig Meilen zwischen Irrawaddy und Sittang in den Rangun-Fluss mündet. Bei Siriam, der ersten Stadt, die man erreichte, wurde angehalten, damit frischer Proviant besorgt werden konnte – Hühner, Tauben, Wassergeflügel und Fisch. Wenn der Wind weiterhin stetig aus Süden blies, konnte das kleine Schiff in zwei Tagen Pegu erreichen; änderte er aber die Richtung, wären Schleppkähne nötig, um es nach Pegu zu bringen, und dies würde die Fahrzeit wenigstens verdoppeln. Niemand wäre auf die Idee verfallen, der bejammernswerten Stadt Rangun einen Besuch abzustatten, der einstigen Landeshauptstadt mit einer Bevölkerung von hundertfünfzigtausend Seelen, in der mittlerweile nur mehr siebentausend Bewohner verblieben sind. Von dem alten Glanz ist nichts geblieben als der Buddha-Tempel, der bei der Plünderung der Stadt verschont wurde und der in der Landessprache Shwedagon-Pagode heißt, was »goldenes Heiligtum« bedeutet.

Der Fluss Pegu war an der Stelle, an der die Slup in ihn hineinfuhr, etwa eine Meile breit, doch schon bald verengte er sich zwischen den dschungelbewachsenen Ufern, bis er kaum breiter war als die Seine zwischen Louvre und Institut, und den Reisenden war nur zu bewusst, dass diese grüne Wildnis von zehn bis zwölf Fuß Höhe, also gleicher Höhe wie die Poop des Schiffs, von wilden Tieren jeder Art bewohnt sein musste. Der Mastkorb des Schiffs überragte die höchsten Bäume des Dschungels um fünf, sechs Meter, und von dieser luftigen Höhe aus waren zur Linken und Rechten des Flusses sumpfige Ebenen zu sehen, die sich auf der einen Seite bis zum Wüstensaum des Sittangs erstreckten und auf der anderen bis zu der Kette von Städten, die am Irrawaddy liegen.

René war sich sehr wohl im Klaren darüber, dass die Fahrt auf einem so ufernahen Fluss eine gefährliche Sache war, und er beschloss, persönlich an Deck Wache zu halten, wozu er sich sein Gewehr und seinen dopelläufigen Stutzen bringen ließ. Als der Abend hereinbrach, kamen die Schwestern herauf, um sich mit René auf die Poop zu setzen. Neugierig auf die Wirkung einer Jagdfanfare in diesen einsamen Weiten, ließ René sein Jagdhorn bringen. Von Zeit zu Zeit wurden aus der Wildnis laute Geräusche hergetragen: Offenbar fanden erbitterte Kämpfe zwischen ihren Bewohnern statt. Aber um was für Bewohner mochte es sich handeln? Vermutlich um Tiger, Kaimane und jene langen Boas, die ein Rind mit ihrer Umschlingung ersticken können, ihm die Knochen brechen und es verschlingen, ohne innezuhalten.

Die immer wieder von einem nicht für menschliche Ohren bestimmten Gebrüll unterbrochene Stille hatte etwas so Erschreckendes und zugleich Feierliches, dass die beiden Mädchen René mehrmals davon abhielten, das Horn anzusetzen. Und dann ertönte ein Hornsignal: dunkel, vibrierend, herausfordernd; es erklang, als schwebte es über den Baumwipfeln und breitete sich aus, bevor es sich in den Weiten dieser Einöde verlor, der weder Gott noch Mensch einen Namen verlieh. Bei diesen ungewohnten Klängen verstummte und verharrte alles ringsum; es war fast, als schwiegen die wilden Tiere, um das ihren Ohren fremde und neue Geräusch besser zu vernehmen.

Der Wind war günstig, und es wurden keine Schleppkähne benötigt. Mit einem Mal rief der Matrose im Ausguck: »Barke voraus!«

In dieser Gegend drohte von überall Gefahr. René beruhigte seine Begleiterinnen, ergriff dann sein Gewehr und trat an die Brüstung der Poop, um mit eigenen Augen zu sehen, worum es sich handelte.

Die Schwestern hatten sich erhoben, bereit, sich beim ersten Zeichen Renés in ihre Kajüte zu begeben. Die Nacht war mondhell, und der Vollmond beschien ein Hindernis auf dem Fluss, das in der Tat einer Barke ähnlich sah.

Es bewegte sich wie von allein und folgte der Strömung des Flusses. Es kam näher und wurde zunehmend erkennbar, bis René sah, dass es sich um einen entwurzelten Baum handelte. Da an diesem allem Anschein nach leblosen Gegenstand nichts Beunruhigendes war, rief René die Schwestern an die Brüstung. Der Baum war nur mehr an die zwanzig Schritte von der Slup entfernt, als René ein Glühen wie von zwei feurigen Kohlen wahrnahm; er hatte noch nie einen Panther zu sehen bekommen, begriff jedoch, dass sich ein solches Tier auf dem Baum befinden musste. Vielleicht hatte es in der Baumkrone auf der Lauer gelegen, als ein Windstoß den Baum entwurzelt und in den Fluss geworfen hatte. In seinem ersten Schrecken hatte es sich an dem Baum festgekrallt, und nun wusste es sich keinen Rat, wie es an das Ufer zurückgelangen konnte.

»Wenn meine Schwester Hélène den Wunsch nach einem schönen Bettvorleger haben sollte«, sagte René, »muss sie es nur sagen.«

Er zeigte auf den Panther, der seinerseits die Reisenden bemerkte, sein Fell sträubte und fauchend die Zähne bleckte, so dass er eine größere Gefahr für diese bedeutete als sie für ihn.

René legte sein Gewehr an, doch Hélène hinderte ihn daran, den Schuss abzugeben. »Oh«, sagte sie, »verschonen Sie das arme Tier!«

Die erste Regung des weiblichen Herzens ist immer das Mitleid.

»Sie haben recht«, murmelte René, »es wäre blanker Mord.«

Baum und Slup kreuzten sich, und man hörte, wie die Äste und Zweige am Schiffsrumpf raschelten.

Plötzlich stieß der Untersteuermann einen markerschütternden Schrei aus.

»Flach auf den Boden!«, rief René in dem Befehlston, der keinen Widerspruch zulässt.

Das Gewehr, dessen Lauf auf seiner Schulter ruhte, glitt blitzschnell in seine linke Hand; ein Schuss löste sich und in der nächsten Sekunde ein zweiter.

Die Schwestern hielten einander schutzsuchend umarmt; sie hatten erraten, was geschehen war. Der durch seinen Zwangsaufenthalt auf dem Baum ausgehungerte Panther war mit einem Satz zum Schiff gesprungen und auf der Reling gelandet. Bei diesem Geräusch hatte der Untersteuermann sich umgedreht und die wilde Bestie erblickt, die auf der Reling kauerte und nur einen weiteren Satz tun musste, um sich auf ihn zu stürzen; deshalb hatte er den Schrei ausgestoßen, den René gehört und mit zwei Kugeln in den Leib des Panthers beantwortet hatte.

Mit einem Sprung war René, das Gewehr noch in der Hand, zwischen Untersteuermann und Panther; das Tier war tot: Eine der beiden Kugeln hatte sein Herz getroffen.


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