73 Das Begräbnis des Vicomte de Sainte-Hermine

Da wir nun wissen, wie es zu der Plantage des Vicomte de Sainte-Hermine im Land des Betels kam, können wir den Faden unserer Erzählung wieder aufnehmen.

Wir müssen unseren Lesern nicht eigens vor Augen führen, welche Wirkung der Anblick dieser patriarchalischen Familie, die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die Sitten und Gebräuche der Araber aus biblischen Zeiten pflegte, auf die zwei Schwestern, Sir Asplay und René ausübte.

Abraham ließ sich nicht altehrwürdiger denken, als Remi es war, Rebekka konnte kaum schöner gewesen sein als Adda, und David und Jonathan waren nicht stolzer vorstellbar, als es Bernard und Jules waren, indes Samson, der einen Löwen mit den Händen zerriss, indem er seinen Rachen aufriss, nicht tapferer und mutiger gewesen sein konnte als Justin.

So zogen sich Hélène und Jane in ihr Zimmer und die zwei jungen Männer in ihre Räume zurück, während sie voll des Staunens über alles waren, was sie zu sehen bekommen hatten, und sich vor der bescheidenen Größe ihrer Gastgeber innerlich verneigten. Am nächsten Tag kam Adda, um zu erfahren, wie sie die Nacht verbracht hatten, und um zu fragen, ob ihr Vater seine jungen Herrinnen aufsuchen dürfe; nach erteilter Erlaubnis stieg der Greis mit langsamem, gewichtigem Schritt die Treppe hinauf und trat mit einem Büchlein in der Hand ein, um seine Abrechnung vorzulegen.

»Meine jungen Damen«, sagte er, »wenn ein Gläubiger und ein Schuldner sich nach vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahren wiedersehen, dann muss der Schuldner als Allererstes seine Schulden benennen und sie bezahlen.«

Die jungen Mädchen sahen einander verwundert an.

»Davon hat unser Vater nie ein Wort geäußert«, sagte Hélène. »Wenn er irgendetwas gedacht haben sollte, dann eher, dass er Ihr Schuldner sei und nicht Sie der seinige; für diesen Fall hat er uns lediglich geraten, das Anwesen zu verkaufen und den Erlös mit Ihnen zu teilen.«

Remi brach in Gelächter aus. »Solche Bedingungen kann ich nicht annehmen, meine Damen, denn damit würde ich meinem ehrenwerten Herrn die bescheidenen Dienste, die ich geleistet habe, allzu teuer verkaufen. Nein, Mademoiselle, wenn es Ihnen nicht zu beschwerlich fällt, werden Sie mit mir kommen und sich mit eigenen Augen von dem Zustand Ihres Vermögens überzeugen. Ihre Schwester wird Sie selbstverständlich begleiten, und wenn die beiden Herren sich anschließen sollten, wäre es mir ein Vergnügen, in Gegenwart so vieler Zeugen wie möglich Rechenschaft vor Ihnen abzulegen.«

Die Schwestern wechselten einen Blick und gelangten zu der Ansicht, dass sie die Sache lieber unter sich abmachen wollten. Sie wollten den treuen Diener fürstlich entlohnen und befürchteten, ein Mann, der als Verlobter kein Fremder mehr ist, könnte Einwendungen gegen die Freigebigkeit erheben, die sie üben wollten.

»Wir kommen allein mit Ihnen, mein ehrwürdiger Freund«, sagte Hélène, »wenn Sie vorausgehen und uns den Weg zeigen.«

Die Greis ging einige Schritte vor ihnen bis zu einer kleinen Tür; er schloss sie auf und bedeutete den Schwestern einzutreten. Die Kammer war als vielleicht einziger Raum des ganzen Hauses aus Stein gemauert; die Fenster waren vergittert, und die Kammer enthielt nichts als zwei kleine Eisentonnen von einem Fuß und von drei Fuß Höhe; beide waren mit Eisenketten in ihren Wandnischen gesichert und ruhten auf Eisenträgern, die in die Wand eingemauert und mit Eisenringen versehen waren.

Der Greis holte einen Schlüssel hervor und sperrte ein Vorhängeschloss auf, um den Deckel der größeren Tonne öffnen zu können.

Er hob den Deckel an und klappte ihn zurück, und Hélène und ihre Schwester erblickten voller Erstaunen zahllose Goldbarren von Kleinfingergröße. Die zwei Schwestern schmiegten sich aneinander und sahen den alten Mann fragend an.

»Meine Damen«, sagte dieser, »in diesem Fass dürfte sich etwas mehr als eine Million befinden.«

Die zwei jungen Mädchen erbebten. »Aber wie kann das sein?«, fragte Hélène. »Das viele Gold kann uns unmöglich gehören.«

»Und doch ist es nichts als die Wahrheit«, erwiderte der Greis. »Seit mehr als zwanzig Jahren verwalte ich Ihr Vermögen mit Gewinn, und im Lauf der Jahre hat es zwischen fünfzig- und fünfundfünfzigtausend Francs abgeworfen; ich habe nicht nachgezählt, und man müsste eine Aufstellung machen, aber abgesehen vom Wert der Siedlung, müssten sich an die neunzigtausend Francs in dem Fässchen befinden.«

Die zwei Schwestern sahen einander sprachlos an.

Der Alte holte einen zweiten Schlüssel hervor und öffnete das zweite Fässchen. Es war bis zur Hälfte mit Rubinen, Karfunkeln, Saphiren und Smaragden gefüllt, denn wie bereits gesagt, dienen in Birma Goldbarren und Edelsteine als Münzgeld.

Der Alte griff in das Fass und ließ eine funkelnde Kaskade aus der Hand gleiten.

»Was ist das?«, fragte Hélène. »Haben Sie Harun al Raschids Schatzkammer entdeckt?«

»Nein«, erwiderte der Alte, »doch ich dachte mir, dass Gold überall nur wert ist, was es wiegt, während diese Juwelen zwar ungeschliffen sind, aber in Frankreich sicherlich das Doppelte einbringen. Nach hiesigem Preis sind es Steine für ungefähr dreihunderttausend Francs.«

»Und worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Hélène lächelnd, während Jane geistesabwesend in ihre eigenen Gedanken versunken war.

»Ich will darauf hinaus, meine lieben Herrinnen, dass dieses Gold und diese Edelsteine Ihnen genauso gehören wie das Land, die Menschen, die Tiere und die Erträge der Kolonie.«

»Mein teurer Freund«, sagte Hélène, »ich weiß, welche Vereinbarungen zwischen Ihnen und meinem Vater getroffen wurden. ›Remi‹, sagte er, als Sie sich trennten, ›da Sie unbedingt hier bleiben wollen, lasse ich Sie gewähren; gründen Sie mit den wenigen Mitteln, die ich Ihnen überlassen kann, eine Niederlassung, und wenn ich wiederkomme oder ein Mitglied meiner Familie als mein Rechtsnachfolger kommt, werden Sie gerecht teilen. ‹ Leider, lieber Remi, komme ich als seine Erbin, um Sie im Namen meines Vaters zu bitten, mit uns zu teilen: Die Hälfte all dessen, was Ihnen gehört, gehört meiner Schwester und mir, die andere Hälfte aber ist Ihr Besitz.«

Tränen rannen die Wangen des alten Mannes hinunter.

»Nein!«, widersprach er vehement. »Nein, so kann Ihr ehrwürdiger Vater es nicht gemeint haben – oder er rechnete nicht damit, wie viel Gewinn diese Plantage abwerfen würde, als er das Abkommen mit mir traf. Bedenken Sie, dass wir nur arme Bauern sind, die überglücklich wären, ihren Lebensunterhalt weiterhin in Ihrem Dienst zu erwirtschaften und sich versorgt zu wissen.«

Hélène sah Remi mit einem nunmehr ernsten Blick an. »Remi«, sagte sie, »Sie vergessen, dass Sie Ihren Kindern keine Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn Sie sich uns gegenüber zu großzügig zeigen. Ihre Kinder haben wie Sie, weniger lange als Sie, gewiss, doch in dem Maß, wie es ihr Alter und ihre Kraft zuließen, unser gemeinsames Vermögen erwirtschaftet, und nun ist es meine Aufgabe, ihre Rechte zu verteidigen und durchzusetzen!«

Remi versuchte zu widersprechen, doch in diesem Augenblick wurde zum Essen gerufen; drei Schläge auf einen chinesischen Gong verkündeten, dass aufgetragen war.

Hélène ließ Jane vorangehen und nahm Remis Arm.

Remi schloss die Kammer hinter ihnen ab, und sie gingen die Treppe hinunter.

Keine fürstliche Tafel war je prächtiger gedeckt als der Tisch im Speisezimmer: Indische Pfauen, goldene chinesische Fasane und birmanische Perlhühner entfalteten auf dem Tisch die prunkvollen Fächer ihrer Schwanzfedern; das Dessert war eine Zusammenkunft der erlesensten Früchte: Mangos, Guaven, Zuckerbananen, Ananas, Durian, Avocados, Jackfrucht und Rosenäpfel; als Getränke gab es ausschließlich Palmwein und Pampelmusenorangeade, und diese Getränke, die tief in der Erde gelagert wurden, waren so kühl und frisch wie eisgekühlter Likör.

Da zum Haus kein Obstgarten gehörte, hatten die drei Brüder am Vorabend verabredet, in den Wäldern, die das urbar gemachte Land umschlossen, Früchte zu sammeln. Justin war den Fluss mehr als zwei Meilen entlanggegangen, um Mangos zu pflücken, die nur an jener Stelle wuchsen, und hatte im Dschungel am Ufer des Sittangs die Fährten mehrerer Tiger erspäht.

Diese Nachricht weckte in den jungen Leuten Jagdfieber, und man vereinbarte, in einigen Tagen eine Tigerjagd zu veranstalten und zwar unter Mitnahme der Elefanten, damit die Damen die Jäger begleiten konnten.

Diesen Vorschlag hatte Jane gemacht, und er war auf ungeteilten Beifall gestoßen; nur Hélène hatte sie traurig angesehen und gemurmelt: »Arme Schwester!«

Wahrhaftig war Jane alles andere als übertrieben mutig, doch mehr als alles andere fürchtete sie sich davor, René allein auf diese schreckliche Jagd gehen zu lassen, tagelang Todesängste um seinetwillen auszustehen und ihn nicht um sich zu haben.

René versuchte, ihr das Vorhaben auszureden, doch er stimmte sie nur traurig, ohne sie zu überzeugen. Hélène jedoch verschob die geplante Jagd auf einen späteren Zeitpunkt. Täglich erwartete man die Eskorte mit dem Leichnam des Vicomte, und die Begräbnisfeierlichkeiten mussten ihren Lauf nehmen, bevor an Vergnügungen zu denken war.

Als sie vom Tisch aufstanden, berichtete Hélène Sir James und René, was zwischen ihr und Remi verhandelt worden war und dass sie trotz seiner Einwendungen darauf bestanden hatte, dass die Vereinbarungen so eingehalten wurden, wie sie einst getroffen worden waren. Beide stimmten ihr zu.

»Und so kommt es«, sagte Hélène lächelnd, »dass Jane, ohne sich dessen gewahr zu sein, denn sie hat auf kein Wort unseres Gesprächs Acht gegeben, eine Erbin geworden ist, was nicht von Nachteil sein kann, denn einen Ehemann für sie wird man in dieser Eindöde nicht leicht auftreiben.«

»Sie hätte ebenso umsichtig sein sollen wie Sie, liebe Hélène«, sagte Sir James, »und sich einen Verehrer aus Europa mitbringen sollen.«

Beider Blicke richteten sich auf René, der auf die Anspielung nicht einging, sondern sich nur ein verhaltenes Lächeln gestattete, das eher traurig als fröhlich war.

Die Aufmerksamkeit der drei wurde schnell durch das Tun von Remis Söhnen abgelenkt.

Unter dem Schatten eines prachtvollen Affenbrotbaums hoben sie ein Becken aus, in das sie einen Wasserlauf umleiten wollten, der in den Fluss mündete, so dass er es füllte und ein herrliches Bad für die Schwestern bildete, die damit der Mühe enthoben wurden, hundert Schritte weit zu gehen, um die Bäder zu erreichen. Es war das Bestreben dieser vortrefflichen Familie, ihren Gästen den Aufenthalt so erquicklich wie möglich zu machen.

Als die jungen Leute zum Herrenhaus zurückkehrten, sahen sie Jane in der Tür sitzen, den Blick geistesabwesend auf Adda gerichtet, die zwei birmanische Hündchen abrichtete; diese Hündchen sollten Hélène und Jane bei ihren Spaziergängen begleiten.

In Pegu gibt es zwei sehr verschiedenartige Pferderassen; die eine stammt aus dem unteren Teil des Landes mit seinem feuchten, sumpfigen Boden, der sich von Arakan bis nach Tenasserim erstreckt; in dem Delta, das die zahllosen Arme des Irrawaddy bilden, findet man nur kleinwüchsige Pferde von unansehnlicher Gestalt und ohne Feuer, doch sobald man den trockenen Boden von Henzada erreicht, stößt man auf eine Rasse kleinwüchsiger Pferde, die zierlich und ausdauernd sind.

Im Übrigen ist im Lande Birma der Elefant das Beförderungsmittel par excellence für wichtige Persönlichkeiten; altertümliche Fuhrwerke, von Wasserbüffeln oder Ochsen gezogen, werden auf kurzen Strecken verwendet, und das Pferd ist ein Luxusgegenstand.

In der Siedlung gab es fünf, sechs Pferde, doch nur Adda und die jungen Männer ritten sie; außer ihnen bestieg sie niemand, oder sagen wir lieber: wagte niemand, sie zu besteigen.

Adda, ein halbwildes Geschöpf, das von einem Damensattel noch nie gehört hatte, ritt wie ein Mann; ihr enger Rock war an den Seiten geschlitzt, und darunter trug sie ein enges Beinkleid, das bis zu den Knöcheln reichte. Mit ihrem geschmeidigen Körper ohne Korsett, der sich allen Bewegungen des Pferdes anschmiegte, und ihren im Wind wehenden Haaren sah sie aus wie eine der Thessalierinnen, von denen Phädra spricht und deren Locken beim Laufen neben dem erhobenen Wurfspieß wehten.

Die zwei Schwestern bewunderten neidlos die anmutigen Bewegungen ihrer schönen Gastgeberin, erklärten sich jedoch außerstande, jemals auf die gleiche Weise zu Pferde zu sitzen.

Adda erwiderte, das sei nicht von Belang und René oder James solle einen französischen Sattel zeichnen, den ihr Bruder, der Möbeltischler, dann herstellen werde.

In diesem Augenblick verließ den Wald ein Zug, der aus einem Elefanten, vier Pferden und einem Dutzend Männer bestand. Der Elefant war mit schwarzen Draperien behängt.

Die jungen Mädchen stiegen auf den Belvedere, der das Haus überragte, und vergewisserten sich, dass es sich nur um die Eskorte handeln konnte, die den Leichnam ihres Vaters hergeleitete.

Mit Gongschlägen wurden alle Bewohner zusammengerufen; dann wurde das Tor geöffnet, und man erwartete den Trauerzug. Als der Elefant mit dem Sarg auf dem Rücken in den Hof kam, knieten die Schwestern nieder, und die anderen taten es ihnen gleich.

Der Shabundar von Pegu, der sich anerboten hatte, alle Einzelheiten des Begräbnisses zu regeln, hatte zwei jesuitischen Missionaren vorgeschlagen, sich der Eskorte anzuschließen, um auf diese Weise gefahrlos den Wald voller Raubtiere zu durchqueren.

Zum Dank für den Schutz wollten die Priester die Totengebete am Sarg des Vicomte de Sainte-Hermine sprechen.

Der Sarg wurde in die kleine Kapelle getragen. Anstelle von Kerzen brannten Fackeln aus harzhaltigem Holz vierundzwanzig Stunden lang und ersetzten das Gepränge einer veritablen Trauerkapelle, so gut es eben ging.

Die Totenmesse wurde mit größter Feierlichkeit gelesen.

Danach wurde der Leichnam des Vicomte in dem Felsengrab nahe Evas Grabstätte beigesetzt.

Mehrere Tage lang herrschte in der ganzen Kolonie Schwermut und Trauer, die durch die Erinnerung an den gewalttätigen und vorzeitigen Tod des Vicomte geweckt worden war.

Und tagelang konnte Jane nach Herzenslust weinen, ohne dass sie nach dem Anlass ihres Kummers gefragt wurde.

Am übernächsten Tag nahmen die beiden Jesuiten ihre Reise nach China wieder auf.


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