56 Die Überquerung des Äquators

Am Vorabend des Tages, an dem Surcouf den Äquator zu überqueren gedachte – besser gesagt, an jenem Tag -, rief der wachhabende Matrose gegen drei Uhr eines schönen Septembermorgens: »Segel in Sicht!«

Sogleich kam Surcouf aus seiner Kajüte geeilt.

»Welchen Kurs hält es?«, fragte er.

»Es kommt aus Nordwesten und scheint in Richtung Südosten zu fahren, was hieße, dass es die gleiche Route wie wir hätte.«

Kaum hatte Surcouf dies vernommen, als er sich vom Schanzdeck in die Wanten und von dort auf den Mars des Großmasts hangelte.

Bei den Worten »Schiff in Sicht!«, diesem Zauberwort der Meere, sprangen die Matrosen, die Wache hatten, auf Rahen und Marsen, um sich ein Bild von der Kampfkraft des Schiffs zu machen, mit dem man zu tun haben würde und das eine ähnliche Route wie die Revenant zu verfolgen schien, nur dass es höchstwahrscheinlich vom Golf von Mexiko kam. Die Revenant verlangsamte ihre Fahrt und manövrierte sich auf Gefechtsdistanz zu dem englischen Schiff, denn Surcouf wollte es in Augenschein nehmen und sich die Möglichkeit vorbehalten, anzugreifen oder die Flucht zu ergreifen. Von beiden Schiffen aus wurde aufmerksam observiert, und diese Observation nahm an die zwei Stunden in Anspruch. Der Tag brach an, und die Farben am Firmament verblassten, als der Engländer an der Wendigkeit und Schnelligkeit der Revenant, am Schnitt ihrer Segel und an ihren hohen Masten erkannte, dass er es mit einem Kaperschiff zu tun hatte. Sogleich verkündete das englische Schiff mit einem Kanonenschuss, dass es sich zu erkennen geben wolle, und die Flagge Großbritanniens stieg wie eine düstere Flamme in der Takelage empor, bis sie an der Spitze des Besanmasts verharrte.

Die Kanonenkugel sauste über die Wasseroberfläche, berührte die höchsten Wellenkämme und flog über das Kaperschiff hinweg, bevor sie hinter ihm im Wasser verschwand.

Surcouf sah ungerührt zu, als ginge ihn das alles nichts an. Doch obwohl er sich bisher nicht vergewissert hatte, ob das englische Schiff, mit dem er sich anlegen wollte, ein Handelsschiff war, ließ er mit einem Pfiff für Stille sorgen und befahl dann: »Alle Mann achtern antreten!«

Die Mannschaft sammelte sich um das Dach der Treppe, auf dem er es sich bequem gemacht hatte und das ihm bei besonderen Anlässen als Wachtbank diente; er wollte sich unmittelbar an seine Leute wenden, ohne sich zuvor mit seinen Offizieren darüber zu beraten, ob man es wagen könne, das englische Schiff anzugreifen, denn er wusste, dass man ihm geraten hätte, von einem so waghalsigen Unterfangen Abstand zu nehmen: Obwohl niemand wissen konnte, dass die Mannschaft an Bord des Engländers doppelt so viele Leute zählte wie die der Revenant und dass zusätzlich Soldaten an Bord waren, konnte man die vielen Uniformen auf Deck gut erkennen.

»Schön und gut«, rief Surcouf in seiner kurzen Ansprache, »das ist ein gewaltig großes Schiff, aber schließlich kein Kriegsschiff, sondern ein Schiff der englischen Handelsflotte. Wir sind zwar nicht stark genug, um es durch Kanonenbeschuss in die Knie zu zwingen, aber wir werden es entern; jeder soll sich bewaffnen. Zum Dank für den tollkühnen Überfall, den ihr vollbringen werdet, gebe ich euch eine Stunde zum Plündern auf eigene Rechnung.«

Ohne zu zaudern, eilten alle unter Jubelrufen an ihren Posten und bewaffneten sich. Der Waffenmeister teilte an die Männer Entersäbel und Streitäxte aus, lange Pistolen und Dolche, diese gefährlichen Waffen des Nahkampfs. Die Marsgäste schmückten ihre Mastkörbe mit kupfernen Musketen und Granatenfässern, während die Quartiermeister furchterregende Enterhaken vorbereiteten.

Zur gleichen Zeit schlugen die zwei Wundärzte mithilfe der Krankenpfleger ihr Feldlazarett am Eingang der Luke auf. Die Arzneikiste mit ihren Fläschchen und Medikamenten wurde vorbereitet, und neben ihr errichtete man eine Pyramide aus Scharpie, Kompressen und Verbandmaterial; etwas weiter weg ging von der Aderpresse, den chirurgischen Instrumenten und dem Nähbesteck der unheimliche Glanz polierter, funkelnder Instrumente aus, und der Operationstisch und die Matratzen, die der Unglücklichen harrten, die sie aufnehmen würden, vervollständigten die Vorbereitungen der Sanitäter und hinterließen ein Gefühl der Traurigkeit.

Ein schrilles, langes Pfeifen war der Befehl für alle, sich auf Posten zu begeben und sich gefechtsbereit zu halten.

Der englische Kapitän, der auf seine Überlegenheit vertraute, stellte sein Schiff in den Wind, um wieder in Gefechtsposition zu gelangen; außerdem schickte er einen Offizier zu den Passagieren, die noch ruhten, um sie einzuladen – auch die Damen -, auf die Poop zu kommen, um dem Schauspiel beizuwohnen, das im Kapern oder Versenken eines französischen Kaperschiffs bestand.

Als Surcouf das Manöver des Gegners sah, wendete er ebenfalls und näherte sich ihm; er segelte jetzt über Steuerbordbug und hatte das englische Schiff steuerbords; er fuhr so nahe an dem Engländer vorbei, dass er den Namen Standard lesen konnte, und als die Standard sich im Windschatten der Revenant befand, schickte sie ihr eine ganze Breitseite, ohne dass Surcouf das Feuer erwiderte. Die Schäden an der Revenant beschränkten sich auf durchlöcherte Segel und zerfetztes Tauwerk, was schnell zu beheben war.

Surcouf sieht die vielen Soldaten auf dem Deck des Gegners, lässt ein Dutzend lange Piken an zwölf Matrosen ausgeben, die sich mitten auf Deck aufstellen und von Surcouf angewiesen werden, auf die eigenen Männer ebenso wie auf die Gegner einzuschlagen, falls Erstere zurückweichen und Letztere vorrücken. Die Mastkörbe sind besetzt, und ihre Besatzung hat ausreichend Granaten zur Hand, die Kupferrohre der Musketen spiegeln die Sonnenstrahlen, und die besten Schützen an Bord der Revenant legen sich auf dem im Wasser befindlichen Mastwerk und in den Schaluppen in den Hinterhalt, um wie von einer Schanze aus auf die englischen Offiziere zu schießen.

Gleichzeitig füllt sich die Poop des Engländers mit eleganten Ladys und vornehmen Gentlemen – Schaulustigen, die mit bloßem Auge, mit Lorgnetten und Operngläsern den Kampf verfolgen wollen.

»Mein Kapitän«, sagt Bléas zu Surcouf, »haben Sie auch den Eindruck, dass diese Weiberwelt und diese Dandys da oben sich über uns lustig machen wollen? Sehen Sie nur, wie sie neckisch grüßen und winken, als wollten sie sagen: ›Gute Reise, Herrschaften, wir werden Ihr Schiff versenken; bitte langweilen Sie sich nicht zu sehr am Meeresgrund.‹«

»Lassen Sie sie prahlen«, erwidert Surcouf, »und ärgern Sie sich nicht über die hübschen Püppchen; Sie wissen so gut wie ich, dass sie in weniger als einer Stunde demütig und unterwürfig gesenkten Hauptes vor uns stehen werden. Sehen Sie lieber, wie dieser dreiste Kanonier einen Kopf kürzer wird.«

In der Tat hatte sich ein schöner junger Mann ohne Kopfbedeckung, dessen blonde Haare im Wind wehten, hinter der Verschanzung hervorgewagt, um seine Kanone zu laden. Surcouf zielt auf ihn, die Kugel fährt ihm durch die Haare, ohne seinen Kopf zu streifen, er erhebt die Hand zu einer verächtlichen Gebärde in dem Glauben, er könne sich zurückziehen, bevor Surcouf sein Gewehr laden kann, doch er macht die Rechnung ohne Surcoufs doppelläufige Donnerbüchse; Surcouf feuert, und diesmal stürzt der junge Mann nieder wie ein gefällter Baum, umschlingt seine Kanone mit beiden Armen, rutscht an ihr mit den Beinen zuerst hinunter, kann sich noch einen Augenblick mit gefalteten Händen am Rohr festhalten, bis die Kraft ihn verlässt und der Verwundete ins Wasser fällt und verschwindet. Dieser Tod, den er in allen Einzelheiten mit ansah, beeindruckte Surcouf zutiefst.

»Alle Mann an Deck hinlegen bis zu neuer Ordre!«, ruft er nach kurzem Schweigen, als er seine Gefühle bezwungen hat.

Es war höchste Zeit: Das englische Schiff feuerte aus allen Geschützen, doch das Glück war Surcouf an diesem Tag hold; dank seines Befehls wurde keiner seiner Männer getroffen; und sobald Surcouf sich in der Flanke des Gegners sah, ließ er sich zurückfallen, um dessen Heck zu umrunden und ihn backbord in Luv zu entern; um diesem Vorhaben auszuweichen, wendete die Standard – so wie ein Stier sich schnell im Kreis dreht, um dem Feind die Hörner zu zeigen -, was wiederum die Revenant nötigte, schnell über Steuerbordbug zu segeln und dem Widersacher den Wind zu nehmen, um ihn ein drittes Mal zu überholen. Als die Engländer sahen, dass ihr Gegner sich nicht abschütteln ließ, begriffen sie, dass er zum Entern entschlossen war. Der englische Kapitän steuert, um zu wenden; die Standard, deren Großsegel gerefft wurde, damit man feuern konnte, geht hoch an den Wind, ohne aufholen zu können; da das Wenden ihr nicht gelingt, fällt sie ab, und bald befindet sich die Revenant unter dem hohen festungsähnlichen Heck des Engländers. Um die Standard nicht ganz zu überholen und um die eigene Geschwindigkeit zu drosseln, lässt Surcouf alle Segel backbrassen; dann lässt er längsseits an der Standard anlegen, ruft: »Feuer!« und verpasst ihr beim Anlegen eine Doppelsalve aus Kugeln und Kartätschenladung. Im nächsten Augenblick ertönt lautes Krachen und Knirschen, die Rahen der zwei Schiffe verfangen sich, das Tauwerk verhakt sich, und die Schiffe stoßen gegeneinander; sie liegen nun so eng nebeneinander, dass sich die Läufe ihrer Kanonen fast berühren.

Im gleichen Moment ertönt auf beiden Schiffen der Befehl: »Feuer!«, und zwei Vulkankrater speien Feuer und Rauch, doch die niedrige Revenant liegt unterhalb der Schusslinie der Geschütze der Standard, während die Salve der Revenant die Verschanzung der Standard einen Fuß oberhalb des Decks zerfetzt und alles niedermäht, worauf sie trifft. Daraufhin bricht an Bord des Engländers entsetzliche Panik aus: Surcoufs Überfall war so tollkühn, dass seine Gegner die Tragweite des Geschehens noch nicht erfasst hatten, sondern glaubten, sie hätten das Kaperschiff mit ihrer Breitseite außer Gefecht gesetzt, denn sie rechneten nicht einmal entfernt mit der Möglichkeit, dass Surcouf mit seiner dreimal kleineren Mannschaft wagen könnte, ihr Schiff zu entern; sie hatten sich auf dem Hackbord versammelt, um nach Herzenslust die Niederlage der Revenant und den Todeskampf ihrer Mannschaft zu begaffen; groß war daher das Erstaunen, besser gesagt: das Erschrecken, als die Enterhaken sich in der Reling festbissen und der schwere Anker der Standard sich in einer Stückpforte der Revenant verfing und eine Hängebrücke bildete, über die man bequem vom einen Schiff zum anderen gelangte; doch noch größer war das Entsetzen der Engländer, als sie den Feuersturm sahen, der soeben über die Standard getobt war und zwanzig bis fünfundzwanzig Tote und Verletzte hinterließ, die sich in ihrem Blut wälzten.

»Auf, Bléas!«, brüllte Surcouf. »Fertig zum Entern!«

»Fertig zum Entern!«, wiederholte die Mannschaft wie aus einer Kehle, und alle stürmten das gegnerische Schiff wie ein Mann.

Surcouf befiehlt den zwei Trommlern, die er bei sich behalten hat, das Signal zum Angriff zu geben. Als der Trommelwirbel ertönt, erklettern die Korsaren die beschädigte Verschanzung, indem sie alles, was sich anbietet, als Trittbrett nutzen; Axt oder Säbel haben sie in der Hand, den Dolch zwischen den Zähnen, ihre Lippen sind zornig verzogen, die Augen blutunterlaufen. Von den Mastkörben der Revenant werfen Guide und Avriot unterdessen Granate um Granate auf das gegenerische Deck. Als sie kurz innehalten, ruft Surcouf ihnen zu: »Avriot, weiter! Guide, weiter! Granaten, Granaten, mehr Granaten!«

»Sofort, Kapitän«, erwidert der Mastwächter Guide von seinem Mastkorb hoch oben am Fockmast; »die zwei Werfer am Ende der Rahe wurden getroffen.«

»Und wenn schon! Dann werft ihr eben statt Granaten die zwei Toten auf die Engländer; so haben sie die Ehre, als Tote das gegnerische Schiff zuerst zu entern!«

Fast im gleichen Augenblick beschreiben die zwei Leichname, von kräftigen Armen geschleudert, eine Kurve und landen auf einer Gruppe englischer Offiziere. Die Umstehenden ergreifen sofort die Flucht.

»Vorwärts, Freunde!«, ruft Bléas, der diesen Rückzug nutzt. Ein Schwall Angreifer stürzt sich über das Ankertau, das die beiden Schiffe verbindet, an Bord der Standard; die drei ersten Angreifer sind der Neger Bambou, der seinen Anteil an der Prise darauf verwettet hat, als Erster das Deck des Engländers zu betreten, René und Bléas. Bambou, bewaffnet mit einer Lanze, die er wie kein zweiter handhabt, wirft sie zwei-, dreimal und tötet jedes Mal einen Engländer. René hat ebenso oft mit seiner Axt zugeschlagen und mit jedem Schlag einen Mann niedergestreckt.

Doch mit einem Mal hält er inne, verharrt regungslos und betrachtet mit Verwunderung und Erschrecken einen Passagier, der vorbeigetragen wird, eine Wunde in der Brust; die zwei Töchter des Mannes begleiten ihn inmitten des grausigen Gemetzels, ohne der Gefahr zu achten; die eine hält dem Verwundeten den Kopf, die andere küsst ihm die Hände. René kann den Blick nicht von dem bleichen Gesicht des Verwundeten abwenden, gezeichnet von den letzten Zuckungen des Todeskampfes, bis das Grüppchen die Treppenluke hinunter verschwindet.

Als sie fort sind, sieht René ihnen noch immer nach. Bléas muss ihn heftig zur Seite stoßen und mit einem Pistolenschuss den Engländer unschädlich machen, der René soeben den Schädel spalten wollte; erst dann schüttelt René seine unerklärliche Benommenheit ab und stürzt sich wieder in den Kampf.

Surcouf hat sich zur Flagge der Standard hinaufgehangelt und überblickt das ganze Schiffsdeck: Rotröcke, wohin er sieht, und nicht ohne Staunen muss er feststellen, wie schnell neue Soldaten die Gefallenen ersetzen. Vergebens vollbringen Surcoufs Männer wahre Wundertaten; Kernoch schwingt einen Ladekolben wie eine Keule, und jeder Schlag, den der bretonische Herkules führt, kostet einen Gegner das Leben. Doch all diesem heldenhaften Mut zum Trotz sind die Korsaren bisher nicht weiter vorgedrungen als bis zum Großmast.

Surcouf, der wie gesagt über dem blutigen Geschehen schwebt, hat die zwei ersten Sechzehnergeschütze aus ihren Stückpforten entfernen lassen, mit Kartätschenladung laden lassen, und bevor die Engländer ahnen, wie ihnen geschieht, sind die Kanonen umgedreht und zielen auf das Heck des eigenen Schiffs.

»Von den Laufplanken wegtreten!«, ruft Surcouf mit schallender Stimme.

Und jeder, der errät, was Surcouf im Schilde führt, drückt sich hastig backbords und steuerbords an die Reling, um nicht von dem Sturmwirbel der Kartätschenladung getroffen zu werden.

Kaum sind die Korsaren aus dem Weg, ertönt eine furchterregende Detonation, und die zwei Kanonen speien ihre Salven, die Heck und Poop der Standard mit Toten bedecken.

Diese Verheerungen rauben den Engländern fast den Mut, doch ihr Kommandant sammelt sie, und aus der vordersten Luke steigen fünfzig neue Soldaten. Doch zum Unglück der Standard haben Avriot und Guide zwei Körbe voll neuer Munition bekommen und werfen ihre Granaten mit vollen Händen auf das Deck des Engländers; eine der mit Pulver gefüllten Flaschen explodiert am Fuß der Wachtbank, und der englische Kapitän fällt mit dem Gesicht zu Boden.

»Der Kommandant ist tot!«, ruft Surcouf. »Der Kommandant ist gefallen! Falls einer von uns des Englischen mächtig ist, soll er es auf Englisch rufen!«

René hat zwei Sprünge vorwärts getan, erhebt seine blutige Axt und ruft: »The captain of the Standard is dead, lower the flag!«

Diesen Befehl gibt er in so tadellosem Englisch, dass der Flaggkapitän denkt, der erste Offizier habe ihn erteilt, und gehorcht.

Unterdessen flammte der Kampf wieder auf, denn der erste Offizier der Standard, der erfahren hatte, dass der Kommandant gefallen war, sprang an Deck, um die Befehlsgewalt zu übernehmen und diejenigen der Engländer anzufeuern, die noch kampffähig waren. Trotz des scheußlichen Blutbads, das sich an Bord der Standard abgespielt hatte, verblieben auf dem Schiff, das Truppen nach Kalkutta transportieren sollte, noch immer ebenso viele unversehrte Besiegte wie Sieger. Zum Glück befand sich das Deck noch gänzlich in der Hand der Korsaren, die den neuen Kapitän und seine Getreuen in das Zwischendeck trieben, dessen Luken sie versperrten; doch in seiner Erbitterung über diese Niederlage und in dem Wunsch, bis zuletzt zu kämpfen, lässt der Kapitän zwei der Achtzehnpfündergeschütze auf das Schiffsdeck richten, damit ihre Geschosse die Planken durchschlagen und Surcouf und seine Offiziere unter den Trümmern begraben.

Als Surcouf hört, dass die Kanonen bewegt werden, errät er den Plan des Kapitäns, lässt eine Luke öffnen und springt hinunter.

Als er im Zwischendeck ankommt, will er einem jungen Midshipman das Leben retten, der sich tapfer verteidigt und aus zahlreichen Wunden blutet.

Surcouf eilt auf ihn zu, um den jungen Mann mit seinem eigenen Körper zu schützen, doch dieser missversteht die noble Regung des Bretonen und will ihn mit seinem Dolch erstechen. Surcouf glaubt sein letztes Stündlein gekommen. Doch da erscheint sein Neger Bambou, sieht seinen Herrn in Lebensgefahr und spießt den bedauernswerten Midshipman mit seiner Lanze auf, worauf dieser sein Leben aushaucht; Surcouf hätte die Lanze ebenfalls durchdrungen, wäre ihre Spitze nicht von einem Uniformknopf des Toten verbogen worden. Diesmal ergeben sich die Männer im Zwischendeck ebenso wie die an Deck.

»Keine Toten mehr!«, ruft Surcouf. »Die Standard gehört uns, hoch lebe Frankreich! Hoch lebe unsere Nation!«

Lautes Hurrageschrei ertönt; das Gemetzel hat ein Ende.

Doch ein lauter Schrei folgt: »Plündern auf eigene Rechnung!«

»Ich habe es versprochen«, sagt Surcouf zu René, »und das muss ich halten. Aber die Passagiere dürfen nicht ausgeplündert werden, und den Frauen unter ihnen darf kein Haar gekrümmt werden. Ich werde darüber wachen, dass die Männer in Ruhe gelassen werden, und Sie, René, wachen in meinem Namen darüber, dass die Ehre der Frauen unangetastet bleibt.«

»Danke, Surcouf«, sagt René und eilt zu den Kabinen der Passagiere.

Unterwegs begegnet er dem Schiffsarzt.

»Monsieur«, fragt er ihn, »ein Passagier wurde lebensgefährlich verwundet; können Sie mir sein Zimmer zeigen?«

»Man hat ihn in das Zimmer seiner Töchter gebracht.«

»Und wo ist das Zimmer?«

»Wenn Sie ein paar Schritte tun, können Sie das Schluchzen der armen Kinder hören.«

»Gibt es denn keine Hoffnung, ihn zu retten?«

»Er ist soeben gestorben.«

René lehnte sich an eine Kabinentür, fuhr sich mit der Hand über die Augen und stieß einen Seufzer aus.

Plötzlich erfüllt ein Schwarm wein- und bluttrunkener Männer das Unterdeck, schreiend und singend, torkelnd und lärmend. Mit Fußtritten werden die Kabinentüren eingetreten. Und René entsinnt sich der beiden schönen Mädchen, deren Schluchzen er gehört hatte.

Ihm ist, als höre er einen Hilferuf aus weiblicher Kehle.

Er springt vor, kommt an einer Tür vorbei, hinter der etwas wie erstickte Schreie zu vernehmen ist, erstickte Hilferufe.

Die Tür ist von innen verschlossen.

René hat seine Axt noch in der Hand; er hackt die Türfüllung in Stücke.

Es ist das Zimmer des Verwundeten oder besser gesagt Toten. Ein Matrose hält eine der beiden Schwestern in den Armen und will ihr Gewalt antun.

Die andere kniet vor dem Leichnam ihres Vaters, hebt die Arme zum Himmel und fleht zu Gott, der sie zu Waisen gemacht hat, sie nicht der Schande auszuliefern, nachdem er sie dem Unglück überlassen hat.

Der Seemann hat gehört, wie die Tür zersplittert, und wendet sich zur Tür um.

»Elender!«, herrscht René ihn an. »Im Namen des Kommandanten, lass die Frau sofort los!«

»Ich soll die Frau loslassen? Die ist mein Anteil an der Beute. Die gehört mir, und die behalte ich.«

René wurde bleicher als der Tote auf dem Bett. »Die Frauen sind nicht Teil der Beute. Zwinge mich nicht, meine Aufforderung zu wiederholen.«

»Das ist nicht nötig«, sagte der Matrose zähneknirschend, zog eine Pistole aus dem Gürtel und feuerte auf René, doch nur Pulverdampf war zu sehen.

Renés rechter Arm schnellte vor wie eine Feder, man sah einen Blitz, und der Seemann fiel tot zu Boden.

René hatte ihm mit der Klinge des Dolchs, den er am Hals trug, das Herz durchbohrt.

Bevor die jungen Mädchen sich von ihrem Schrecken erholen konnten, schob er mit der Fußspitze den Toten aus der Kabine, damit der Anblick des Bluts sie nicht noch mehr erschreckte.

Dann legte er den Toten quer vor die Tür. »Seien Sie unbesorgt«, sagte er mit seiner sanften, mädchenhaften Stimme, »niemand wird mehr versuchen, sich Zugang zu verschaffen.«

Die beiden Mädchen hielten einander umarmt.

Dann wandte die Ältere sich an den jungen Mann.

»Oh, Monsieur«, sagte sie, »ich wollte, mein Vater wäre noch am Leben und könnte Ihnen danken! Er könnte es besser als seine zwei armen Kinder, die bei dem Gedanken an die Gefahr, in der sie schwebten, noch zittern müssen.«

»Jeder Dank ist überflüssig, Mademoiselle«, sagte René, »denn ich tat nur, was meine Pflicht war und was mein Herz mir gebot!«

»Da Sie sich zu unserem Beschützer erklärt haben, Monsieur, hoffe ich, dass Sie uns auch weiterhin beschützen werden.«

»O weh, Mademoiselle, ein armseliger Beschützer«, erwiderte René. »Ich bin ein gewöhnlicher Matrose wie derjenige, der Sie beleidigt hat, und meine Macht beschränkt sich darauf, dass ich der Stärkere war. Aber«, fügte er mit einer Verbeugung hinzu, »wenn Sie sich unter den Schutz unseres Kommandanten stellen wollen, kann ich Ihnen versichern, dass man weder Sie noch Ihr Vermögen anrühren wird.«

»Sie werden uns sagen, Monsieur, zu welcher Stunde und auf welche Weise wir uns bei ihm einfinden sollen.«

Im selben Augenblick war Surcoufs Stimme zu vernehmen.

»Da ist er«, sagte René.

»Und Sie bestätigen«, sagte Surcouf, »dass René diesen Mann getötet hat.«

René öffnete die Reste der Kabinentür. »Ja, mein Kommandant«, sagte er, »das war ich.«

»Was hat er angestellt, René, dass Sie sich zu einer solchen Tat hinreißen ließen?«

»Sehen Sie, in welchem Zustand Mademoiselle sich befindet«, sagte René und wies auf die zerrissene Kleidung der jüngeren Schwester.

»O Monsieur!«, rief das junge Mädchen und warf sich Surcouf zu Füßen, »Monsieur hat mehr gerettet als unsere Ehre!«

Surcouf reichte René die Hand und trat einen Schritt zurück.

»Sind Sie Französin, Mademoiselle?«, fragte er.

»Ja, Kommandant. Das ist meine Schwester … und« – ihre Stimme zitterte – »das ist unser verstorbener Vater.«

»Aber wie ist Ihr Vater gestorben? Hat er gegen uns gekämpft?«

»Du lieber Himmel! Mein Vater soll gegen Franzosen gekämpft haben!«

»Aber wie ist es dann zu diesem Unglücksfall gekommen?«

»Wir sind in Portsmouth an Bord dieses Schiffs gegangen. Wir sind unterwegs nach Rangun in Indien, wo wir eine Plantage besitzen. Der Kommandant der Standard lud uns ein, an Deck zu kommen, um zuzusehen, wie ein Piratenschiff von ihm versenkt würde, wie er es ausdrückte. Dort wurde mein Vater, der nur ein Zuschauer war, von einer Kugel getroffen und getötet.«

»Verzeihen Sie, Mademoiselle«, sagte Surcouf, »wenn ich Sie weiter mit Fragen bedränge – nicht aus Neugier, sondern in der Hoffnung, Ihnen nützlich zu sein. Wäre Ihr Vater am Leben, hätte ich mir niemals erlaubt, Ihre Kabine zu betreten.«

Die zwei Mädchen sahen einander an. Das also waren die erbärmlichen Piraten, die Mister Revigston zur Unterhaltung seiner Passagiere aufzuknüpfen gedacht hatte!

Sie waren ratlos. Noch nie waren sie in der vornehmen Welt mehr Höflichkeit begegnet als bei diesen zwei Korsaren.

Surcoufs scharfem Blick und rascher Auffassungsgabe entging nicht die Verblüffung seiner schönen Mitbürgerinnen und ihre Ursache.

»Meine Damen«, sagte er, »es ist ein unglücklicher Zeitpunkt, Ihnen all diese Fragen zu stellen, doch ich wollte Sie so schnell wie möglich beruhigen, was die Lage betrifft, in die Sie durch unseren Sieg unversehens geraten sind.«

»Oh, Monsieur«, erwiderte die ältere der Schwestern, »es war unhöflich von uns, Ihnen nicht sofort zu antworten, und nun bitten wir Sie inständig, uns zu fragen, was Sie wollen, denn Sie scheinen besser als wir zu wissen, was wir erfahren müssen.«

»Ein Wort von Ihnen hätte uns fortgeschickt, Mademoiselle«, sagte Surcouf, »und ein Wort genügt, damit wir bleiben. Sie sagten, Sie seien auf der Fahrt nach Rangun gewesen; das liegt im Königreich Pegu jenseits des Ganges. Ich kann nicht versprechen, Sie dorthin zu bringen, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich Sie und Ihre Schwester auf der Île de France absetzen werde, von wo Sie ohne Schwierigkeiten in das Reich der Birmanen weiterreisen können. Wenn der Unglücksfall, der Ihnen widerfahren ist, Sie in Geldnot versetzen sollte, hoffe ich, dass Sie mir die Ehre erweisen, mich in Ihr Vertrauen zu ziehen.«

»Danke, Monsieur; mein Vater dürfte Wechsel in beträchtlicher Höhe mit sich geführt haben.«

»Ist es indiskret, Sie zu fragen, wie Monsieur Ihr Vater hieß?«

»Er war der Vicomte de Sainte-Hermine.«

»Dann ist er es, Mademoiselle, der bis 1792 in der königlichen Marine Dienst tat und in diesem Jahr um seine Entlassung nachkam?«

»So ist es, Monsieur. Seine Ansichten vertrugen sich nicht mit einem fortgesetzten Dienst für die Republik.«

»Er entstammte einer jüngeren Linie. Das Familienoberhaupt war ein Graf von Sainte-Hermine, der 1793 guillotiniert wurde und dessen zwei Söhne ebenfalls für die Sache der Royalisten gestorben sind.«

»Sie sind mit der Geschichte unserer Familie so vertraut wie wir selbst, Monsieur; können Sie uns sagen, was aus seinem dritten Sohn wurde?«

»Hatte er denn einen dritten Sohn?«, fragte Surcouf.

»Ja, und er verschwand auf die rätselhafteste Weise. Am Abend der Unterzeichnung seines Ehevertrags mit Mademoiselle Claire de Sourdis wurde vergeblich nach ihm gesucht, als er unterschreiben sollte. Niemand hat ihn je wieder gesehen oder gesprochen.«

»Ich muss gestehen, dass mir alldas völlig unbekannt war.«

»Wir wuchsen zusammen auf, bis er acht Jahre alt war. Mit acht Jahren hat er sich mit meinem Vater eingeschifft und ist bis 92 bei ihm geblieben. Dann wurde er zu seiner Familie gerufen und hat uns verlassen. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Hätte es die Revolution nicht gegeben, wäre er Seemann geworden wie mein Vater.« Das junge Mädchen unterdrückte ein Schluchzen.

»Weinen Sie, Mademoiselle, weinen Sie nur«, sagte Surcouf. »Es tut mir leid, dass ich mich zwischen Sie und Ihren Kummer gedrängt habe. Ich führe die Standard, besser gesagt, ich schicke sie unter einem Prisenkapitän zur Île de France; dort wird sie verkauft, und dort werden Sie, wie Ihnen zu erklären ich bereits die Ehre hatte, zuverlässig Gelegenheit finden, sich nach Rangun bringen zu lassen.«

Surcouf verbeugte sich mit größter Hochachtung und verließ die Kabine.

René folgte ihm; doch als er über die Schwelle trat, war ihm, als sehe die jüngere der Schwestern ihn an, als habe sie ihm etwas zu sagen. Er blieb stehen und streckte ihr die Hand entgegen.

Mit einer unbedachten Regung ergriff das junge Mädchen seine Hand, führte sie an seine Lippen und sagte: »O Monsieur, bei allem, was Ihnen heilig ist, versuchen Sie, den Kommandanten dazu zu bewegen, dass unser Vater nicht ins Meer geworfen wird.«

»Ich werde ihn darum bitten, Mademoiselle«, sagte René, »aber ich bitte auch Sie und Ihre Schwester um einen Gefallen.«

»Welchen? Oh, sagen Sie ihn, sagen Sie ihn!«, riefen die beiden Mädchen.

»Ihr Vater gleicht einem meiner Verwandten, den ich sehr geliebt habe und den ich nie wiedersehen werde. Gestatten Sie, dass ich Ihren Vater küsse.«

»Oh! Von ganzem Herzen, Monsieur«, sagten die Mädchen.

René näherte sich dem Leichnam, senkte ein Knie, beugte den Kopf zu dem Toten, küsste ihn ehrfürchtig auf die Stirn und verließ den Raum mit einem erstickten Schluchzen.

Die zwei Schwestern blickten ihm verwundert nach. Der Abschied eines Sohnes von seinem Vater hätte nicht zärtlicher und ehrerbietiger sein können als Renés Abschied von dem Vicomte de Sainte-Hermine.


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