15 Charles de Sainte-Hermine (1)


Hector de Sainte-Hermine schwieg für eine kurze Weile, damit Mademoiselle de Sourdis sich beruhigen konnte, bevor er weitersprach.

»Sie sagten: ›Was für eine traurige Geschichte.‹ Aber sie wird noch trauriger werden.

Acht Tage nach der Ankunft meines jungen Freundes in Besançon und der Lektüre des Briefs unseres Bruders Léon verschwand mein Bruder Charles.

Er hinterließ mir folgenden Brief:


Ich muss Dir nicht eigens sagen, mein lieber Junge, wo ich mich aufhalte und was ich tue.

Wie Du Dir denken kannst, bin ich mit dem Werk der Rache beschäftigt, um meinen Schwur einzulösen.

Du bist nun allein; doch Du bist sechzehn Jahre alt und hast das Unglück zum Herrn; unter solchen Umständen reift man schnell zum Mann.

Was ich unter einem Mann verstehe, weißt Du: eine unerschütterliche Eiche, die in der Antike wurzelt und deren Krone in die Zukunft reicht, ein Baum, der Hitze wie Kälte die Stirn bietet, Wind wie Regen, Sturm wie Eisen und Gold.

Ertüchtige Deinen Körper ebenso wie Deinen Geist. Werde gewandt in allen körperlichen Übungen; an Lehrern und Geld wird es Dir nicht mangeln.

Gib auf dem Land für Pferde, Gewehre, Waffen, Reitlehrer und Fechtlehrer zwölftausend Francs im Jahr aus. In Paris gib das Doppelte aus, doch stets mit dem Ziel, Dich zum Mann auszubilden.

Sorge dafür, dass Du stets zehntausend Francs in Gold bei Dir trägst, die Du dem erstbesten unbekannten Boten geben kannst, der sie im Namen und mit der Unterschrift Morgans verlangen wird, indem er Dir einen versiegelten Brief überbringt, dessen Siegel ein Dolch ist.

Nur Du wirst wissen, dass es sich bei diesem Morgan um mich handelt.

Befolge treulich die Instruktionen, die ich Dir eher als Ratschläge denn als Befehle erteile.

Lies diesen meinen Brief mindestens einmal im Monat.

Halte Dich stets bereit, meine Nachfolge anzutreten, mich zu rächen und zu sterben.

Dein Bruder

CHARLES

Und jetzt, Mademoiselle«, fuhr Hector fort, »jetzt, da Sie wissen, dass Morgan und Charles de Sainte-Hermine ein und derselbe sind, muss ich Ihnen Leben und Schicksal meines Bruders nicht mehr Schritt für Schritt nachzeichnen.

Der Ruhm des Anführers der Compagnons de Jéhu hat sich durch ganz Frankreich und sogar bis ins Ausland verbreitet. Zwei Jahre lang war das Land von Marseille bis Nantua sein Reich.

Zwei weitere Briefe habe ich von ihm erhalten, mit seinem Siegel und seiner Unterschrift versehen.

Beide Male erbat er von mir den genannten Geldbetrag, und beide Male schickte ich ihm das Geld.

Der Name Morgan flößte im Süden Frankreichs ebenso Schrecken ein wie Liebe.

Alle Royalisten betrachteten die Compagnons de Jéhu als ritterliche Kämpfer für das legitime Herrscherhaus, und beleidigende Bezeichnungen wie Banditen, Strauchdiebe oder Wegelagerer konnten ihnen nichts von diesem Nimbus rauben.

Bei mehreren Gelegenheiten hatte ihr Anführer Morgan wahre Wundertaten an Kraft, Mut und Großzügigkeit verrichtet.

Die royalistischen Aufstände im Süden hatten den Charakter eines veritablen Bürgerkriegs gegen die Regierung erlangt; dort konnte man sich laut rühmen, Mitglied der Compagnons de Jéhu zu sein, ohne von den Behörden dafür belangt zu werden.

Unter dem Direktorium standen die Zeichen günstig für die Aufständischen; die Regierung war zu schwach für den Krieg gegen das Ausland und erst recht für den Krieg im eigenen Land.

Doch dann kehrte Bonaparte aus Ägypten zurück.

Der Zufall wollte, dass er in Avignon Augen- und Ohrenzeuge eines der waghalsigen Husarenstücke wurde, die den Ruf der Compagnons de Jéhu als edle und idealistische Räuber schufen.

Neben den Geldern der Regierung hatten sie versehentlich einen Betrag von zweihundert Louisdor mitgenommen, der einem Weinhändler aus Bordeaux gehörte. Der Weinhändler beklagte sich an der Wirtstafel über das Unrecht, das man ihm angetan hatte, als mitten am helllichten Tag mein Bruder das Gasthaus betrat, maskiert und bis an die Zähne bewaffnet, zur Wirtstafel schritt und vor dem Jammernden den Geldsack mit den zweihundert Louisdor absetzte, für deren versehentliches Entwenden er sich entschuldigte.

An dieser Wirtstafel speisten auch General Bonaparte und sein Adjutant Roland de Montrevel, die all dies miterlebten. Roland geriet mit Monsieur de Barjols in Streit, schlug sich mit ihm, tötete ihn und reiste Bonaparte nach Paris nach.

Bonaparte hatte begriffen, mit was für Männern er es zu tun hatte, dass sie es waren und nicht die Engländer, die für die Chouannerie verantwortlich waren, und er nahm sich vor, sie zu vernichten. Er schickte Roland mit unumschränkten Vollmachten in den Süden.

Es fand sich jedoch kein Verräter, der Roland diejenigen ausgeliefert hätte, die er vernichten wollte. Menschen, Höhlen, Wälder, Berge – sie alle hielten denen die Treue, die ihrem König die Treue hielten. Erst ein unvorhergesehener Zwischenfall brachte durch die Hand einer Frau jenen das Verderben, denen ganze Regimenter nichts hatten anhaben können.

Sie haben von den schrecklichen politischen Unruhen gehört, die Avignon einem Erdbeben gleich erschütterten. Bei einem dieser Handgemenge, in denen die Gegner einander fühllos, gnadenlos und erbarmungslos abschlachten, in denen auf den Gegner eingeschlagen wird, solange er lebt, röchelt, atmet, und weiter auf ihn eingeschlagen wird, wenn er schon lange kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, war ein Monsieur de Fargas umgekommen – ermordet, verbrannt, aufgefressen von diesen Kannibalen, die jeden Menschenfresserstamm der pazifischen Inseln weit in den Schatten gestellt haben. Seine Mörder waren Liberale.

Er hinterließ einen Sohn und eine Tochter, die dem Gemetzel entkamen und fliehen konnten. Die Natur hatte die Gemüter der Kinder vertauscht: Dem jungen Mann hatte sie das Herz des Mädchens gegeben und dem Mädchen das Herz des Mannes.

Lucien und Diana schworen, ihren Vater zu rächen; Diana musste Lucien stützen. Er trat den Compagnons de Jéhu bei. Bald darauf wurde Lucien gefangen genommen, und da er die Folter durch Schlafentzug nicht ertragen konnte, nannte er die Namen seiner Komplizen.

Um ihn vor der Rache seiner einstigen Gefährten zu schützen, verlegte man ihn aus dem Gefängnis von Avignon in das von Nantua. Acht Tage darauf wurde das Gefängnis von Nantua nachts überfallen, der Gefangene wurde entführt und in die Kartause von Seillon gebracht.

Zwei Tage später wurde der Leichnam Luciens nachts auf die Place de la Préfecture geworfen, gegenüber dem Hôtel Grottes de Ceyzériat, in dem seine Schwester Diana wohnte. Der Leichnam war nackt; in seinem Herzen steckte der wohlbekannte Dolch der Compagnons de Jéhu. An dem Dolch war ein Zettel befestigt, und auf diesem Zettel stand in Luciens Schrift geschrieben:


Ich sterbe, weil ich meinen heiligen Schwur gebrochen habe, und ich weiß, dass ich den Tod verdiene. Der Dolch, den man in meinem Herzen finden wird, bezeugt, dass ich nicht von der Hand eines feigen, hinterhältigen Meuchelmörders sterbe, sondern gerichtet durch gerechte Rache.

Bei Tagesanbruch weckte Diana der Tumult unter ihren Fenstern. Irgendetwas sagte ihr, dass dieser Lärm mit ihr zu tun habe und dass ein neues Unglück ihrer harre.

Sie warf sich einen Hausmantel über, riss das Fenster auf, ohne sich die Haare aufzustecken, die vom Schlaf gelöst waren, und lehnte sich über die Brüstung.

Kaum hatte sie einen Blick auf die Straße geworfen, stieß sie einen lauten Schrei aus, stürzte die Treppe hinunter, außer sich, aufgelösten Haares, totenbleich, warf sich auf den Leichnam, der Mittelpunkt des Auflaufs war, und rief: ›Mein Bruder! Mein Bruder!‹


Ein Fremder hatte Luciens Martertod beigewohnt. Es war ein Abgesandter Cadoudals, der verschiedene bindende Befehle mit sich führte, die ihm alle Türen öffneten. Als Ausweis diente ihm ein Brief, den ich als Abschrift bei mir habe, weil ich darin erwähnt werde.


›Mein lieber Morgan...‹ – Sie erinnern sich«, unterbrach sich Hector, »dass mein Bruder diesen Namen angenommen hatte?« Dann fuhr er fort:


Mein lieber Morgan, Sie haben gewiss nicht vergessen, dass Sie mir auf unserer Versammlung in der Rue des Postes von sich aus anboten, als mein Kassenführer zu fungieren, sollte ich den Krieg allein fortsetzen, ohne Unterstützung aus dem Landesinneren oder von außerhalb. All unsere Kämpfer sind im Gefecht gefallen oder wurden standrechtlich erschossen. D’Autichamp hat sich der Republik unterworfen; ich allein bin in meiner Überzeugung nicht wankend geworden und in meinem Morbihan unbesiegbar.

Mit einer Armee von zwei- bis dreitausend Mann kann ich das Land halten; diese Armee verlangt keinen Sold, doch sie muss ernährt, sie muss mit Waffen und Munition versorgt werden; seit Quiberon haben uns die Engländer nichts mehr zukommen lassen.

Geben Sie uns Geld, und wir geben unser Blut – nicht dass ich behaupten wollte – weiß Gott nicht! -, dass Sie mit dem Ihren geizten! O nein! Ihre Hingabe an die Sache ist am größten und übertrifft die unsere bei Weitem: denn wenn man uns fasst, werden wir nur füsiliert, Sie aber sterben auf dem Schafott. Sie schreiben mir, Sie verfügten über beträchtliche Mittel: Sorgen sie dafür, dass ich jeden Monat mit fünfunddreißigtausend bis vierzigtausend Francs rechnen kann, das wird mir genügen.

Ich schicke Ihnen unseren gemeinsamen Freund Coster Saint-Victor; sein Name genüge, auf dass Sie ihm vertrauen. Ich habe ihm die Verhaltensmaßregeln eingeschärft, die ihn bis zu Ihnen bringen werden. Geben Sie ihm die ersten vierzigtausend Francs, wenn Sie so viel entbehren können, und bewahren Sie das restliche Geld für mich auf, denn Ihnen nützt es nicht annähernd so viel wie mir. Sollten Sie in Ihrer Heimat zu großem Ungemach ausgesetzt sein und dort nicht bleiben können, durchqueren Sie Frankreich und kommen Sie zu mir.

Von fern oder nah, ich liebe Sie und danke Ihnen

GEORGES CADOUDAL,

kommandierender General der Armee der Bretagne

P. S. Sie haben, wie ich hörte, mein lieber Morgan, einen jüngeren Bruder von neunzehn oder zwanzig Jahren: Sollten Sie mich nicht als unwürdig erachten, ihn im Waffengebrauch zu unterweisen, senden Sie ihn zu mir, und er wird mein Aide de Camp sein.

»Nach Rücksprache mit all seinen Gefährten antwortete mein Bruder:


Mein lieber General,

Ihr wackerer Bote hat uns Ihren Brief überbracht. Wir haben an die einhundertfünfzigtausend Francs zur Hand und können Ihrem Wunsch entsprechen. Unser neuer Mitstreiter, den ich mit dem Namen Alkibiades bezeichnen werde, wird heute Abend aufbrechen und die ersten vierzigtausend Francs mitnehmen. Jeden Monat werden Sie bei demselben Bankhaus die Summe beziehen, die Sie benötigen. Im Falle unseres Todes oder unserer Auflösung wird das Geld an ebenso vielen verschiedenen Orten vergraben werden, wie wir Beträge von jeweils vierzigtausend Francs haben. Beigelegt finden Sie die Liste all derer, die wissen, wo sich die Beträge befinden. Bruder Alkibiades kam gerade rechtzeitig, um einer Hinrichtung beizuwohnen. Er hat gesehen, wie wir mit Verrätern verfahren.

Ich danke Ihnen, mein lieber General, für das edle Angebot, das Sie meinem jüngeren Bruder machen. Ich beabsichtige jedoch, ihn vor jeder Gefahr zu bewahren, bis es an ihm sein wird, meinen Platz einzunehmen. Mein Vater starb unter der Guillotine und vermachte meinem älteren Bruder die Aufgabe, ihn zu rächen. Mein älterer Bruder wurde füsiliert und vermachte mir seine Rache. Ich werde vermutlich auf dem Schafott sterben, wie Sie sagten, und ich werde meinem Bruder die Rache vermachen. Dann wird er den Weg beschreiten, dem wir folgten, und er wird wie wir zum Triumph der guten Sache beitragen, oder er wird sterben, wie wir gestorben sind.

Es bedarf eines so machtvollen Beweggrundes, wenn ich mir erlaube, ihm Ihren Schutz vorzuenthalten, und ich bitte Sie dennoch um Ihr Wohlwollen für ihn.

Senden Sie uns, soweit dies möglich sein sollte, unseren geliebten Freund Alkibiades wieder. Es wäre uns eine doppelte Freude, Ihnen unsere Botschaft durch diesen Boten zukommen zu lassen.

MORGAN

Wie mein Bruder sagte, hatte Coster Saint-Victor der Bestrafung beigewohnt. Lucien de Fargas war vor seinen Augen abgeurteilt und hingerichtet worden. Gegen Mitternacht hatten zwei Reiter die Kartause von Seillon durch die gleiche Pforte verlassen: Der eine, Coster Saint-Victor, machte sich auf den Weg in die Bretagne und zu Cadoudal, dem er Morgans vierzigtausend Francs überbrachte; der andere, der Graf von Ribier, hatte quer über seinem Pferd den Leichnam Lucien de Fargas’ liegen, den er auf die Place de la Préfecture werfen würde.«


Hector hielt für einen Augenblick inne.

»Verzeihen Sie«, sagte er, »aber mein anfangs schlichter Bericht nimmt allmählich ausufernde Formen an und wird zu einem wahren Roman. Ich muss dem Gang der Ereignisse folgen, doch ich will Sie nicht mit all diesen Katastrophen ermüden und werde mich so knapp wie möglich fassen, was ich schon zuvor getan hätte, hätte ich nicht befürchtet, vollends unverständlich zu klingen.«

»Kürzen Sie nichts ab, ganz im Gegenteil, ich bitte Sie darum«, sagte Mademoiselle de Sourdis. »Die Knappheit würde nur das Interesse schmälern. All Ihre Personen interessieren mich lebhaft, ganz besonders Mademoiselle de Fargas.«

»Wohlan, von ihr wollte ich gerade wieder sprechen.


Drei Tage nachdem der nächtens auf den Platz in Bourg-en-Bresse gebrachte Tote als Lucien de Fargas identifiziert worden und von seiner Schwester ehrerbietig bestattet worden war, sprach im Palais du Luxembourg eine junge Frau vor, die Citoyen Direktoriumsmitglied Barras sprechen wollte.

Citoyen Barras weilte auf einer Sitzung. Der Kammerdiener, der gesehen hatte, dass die Dame jung und hübsch war, führte sie in das rosa Boudoir, das wohlbekannt war als Schauplatz der wollüstigen Audienzen des Citoyen Direktoriumsmitglied.

Nach einer Viertelstunde kam der Kammerdiener in das Boudoir und kündigte den Citoyen und das Direktoriumsmitglied Barras an.

Barras trat mit siegesgewohntem Schritt ein, legte seinen Hut auf einen Tisch und näherte sich der Besucherin mit den Worten: ›Madame, Sie wünschen mich zu sehen, da bin ich!‹

Die junge Frau erhob sich, als Barras auf sie zukam, hob ihren Schleier und enthüllte ein Gesicht von außergewöhnlicher Schönheit.

Überwältigt blieb Barras stehen.

Dann streckte er die Hand aus, um die ihre zu ergreifen und sie zum Hinsetzen zu bewegen, doch sie hielt ihre Hände in ihrem langen Schleier verborgen und sagte: ›Verzeihung, doch ich will stehen, wie es sich für eine Bittende geziemt.‹

›Eine Bittende!‹, sagte Barras. ›O nein, eine Frau wie Sie bittet nicht, sie befiehlt – oder verlangt wenigstens.‹

›Genau darum ist es mir zu tun: Im Namen der Erde, die uns beide hervorgebracht hat, im Namen meines Vaters, der mit dem Ihren befreundet war, im Namen der geschundenen Menschheit und der missachteten Gerechtigkeit komme ich, um Rache zu verlangen.‹

›Rache?‹

›Rache‹, wiederholte Diana.

›Das ist ein hartes Wort‹, sagte Barras, ›aus einem so jungen und schönen Mund.‹

›Monsieur, ich bin die Tochter des Grafen von Fargas, der in Avignon durch die Hand der Republikaner ums Leben kam, und die Schwester des Vicomte de Fargas, der vor Kurzem in Bourg-en-Bresse von den Compagnons de Jéhu ermordet wurde.‹

›Sind Sie sich dessen sicher, Mademoiselle?‹

Das junge Mädchen reichte Barras einen Dolch und ein Blatt Papier.

›Die Form dieses Dolchs ist wohlbekannt‹, sagte sie, ›und der Brief sollte jeden Zweifel ausräumen, was den Meuchelmord und seine Hintergründe betrifft, wenn der Dolch Ihnen nichts sagt.‹

Barras betrachtete die Waffe neugierig. ›Und dieser Dolch?‹, fragte er.

›Steckte in der Brust meines Bruders.‹

›Der Dolch allein wäre noch kein Beweis‹, sagte Barras, ›man hätte ihn entwenden können oder eigens schmieden, um den Verdacht in eine falsche Richtung zu lenken.‹

›Gewiss, doch lesen Sie den Brief, von meines Bruders Hand geschrieben und von ihm unterzeichnet.‹

Barras las:


Ich sterbe, weil ich meinen heiligen Schwur gebrochen habe, und ich weiß, dass ich den Tod verdiene. Der Dolch, den man in meinem Herzen finden wird, bezeugt, dass ich nicht von der Hand eines feigen, hinterhältigen Meuchelmörders sterbe, sondern gerichtet durch gerechte Rache.

LUCIEN DE FARGAS

›Und die Schrift ist die Ihres Bruders?‹, fragte Barras.

›Ganz gewiss, ja.‹

›Und was bedeuten die Worte: »Ich sterbe nicht von der Hand eines feigen, hinterhältigen Meuchelmörders, sondern gerichtet durch gerechte Rache«?‹

›Das heißt, dass mein Bruder, nachdem er Ihren Schergen in die Hände gefallen war und von ihnen gefoltert wurde, seinem Schwur untreu wurde und die Namen seiner Komplizen offenbart hat. Ich‹, sagte Diana mit unfrohem Lachen, ›hätte mich den Verschwörern anschließen sollen, nicht mein Bruder.‹

›Wie kommt es‹, fragte Barras, ›dass ein solcher Mord unter solchen Umständen begangen wurde, ohne dass ich bisher Kenntnis davon erlangt hätte?‹

›Das spricht nicht für Ihre Polizei!‹, antwortete Diana lächelnd.

›Nun denn‹, sagte Barras, ›wenn Sie so gut unterrichtet sind, dann nennen Sie uns die Namen derjenigen, die Ihren Bruder ermordet haben, und sobald sie verhaftet sind, wird ihre Bestrafung nicht auf sich warten lassen. ‹

›Wüsste ich ihre Namen‹, erwiderte Diana, ›hätte ich mich nicht an Sie gewendet, sondern sie erdolcht.‹

›Nun gut‹, sagte Barras, ›dann suchen Sie nach Ihnen, und wir werden ebenfalls suchen.‹

›Ich soll nach ihnen suchen!‹, wiederholte Diana. ›Ist das meine Aufgabe, bin ich die Regierung, bin ich die Polizei, ist es meine Sache, über die Sicherheit der Bürger zu wachen? Man verhaftet meinen Bruder und steckt ihn ins Gefängnis; das Gefängnis gehört der Regierung, also ist diese für meinen Bruder verantwortlich; das Gefängnis öffnet seine Türen und verrät seinen Gefangenen: Die Regierung schuldet mir dafür Rechenschaft. Und da Sie das Regierungsoberhaupt sind, komme ich zu Ihnen und verlange: Geben sie mir meinen Bruder zurück.‹

›Sie haben Ihren Bruder geliebt?‹

›Abgöttisch.‹<

›Sie wollen ihn rächen?‹

›Ich gäbe mein Leben um das seiner Mörder.‹

›Und wenn ich Ihnen einen Weg anböte herauszufinden, wer ihn ermordet hat, würden Sie annehmen?‹

Diana zögerte kurz, dann sagte sie heftig: ›Ich würde annehmen.‹

›Gut‹, sagte Barras, ›helfen Sie uns, und wir werden Ihnen helfen.‹

›Was soll ich tun?‹

›Sie sind schön, sehr schön sogar.‹

›Es geht hier nicht um meine Schönheit‹, sagte Diana ohne jede Schüchternheit.

›Im Gegenteil‹, sagte Barras, ›im Gegenteil, es geht in erster Linie darum. In dem großen Kampf, den wir das Leben nennen, wurde der Frau die Schönheit gegeben, und zwar nicht bloß als Geschenk des Himmels, an dem sich das Auge eines Liebhabers oder Gatten erfreuen mag, sondern als Waffe, die gleichermaßen zum Angriff wie zur Verteidigung dient.‹

›Sprechen Sie weiter‹, sagte Diana.

›Die Compagnons de Jéhu haben vor Cadoudal keine Geheimnisse. Er ist ihr wahrer Anführer, für ihn arbeiten sie; er weiß die Namen all ihrer Mitglieder vom ersten bis zum letzten Mann.‹

›Und weiter?‹, fragte Diana.

›Weiter? Nichts einfacher als das. Sie reisen in die Bretagne, gesellen sich zu Cadoudal, gerieren sich als Opfer Ihres Eintretens für die royalistische Sache, verschaffen sich sein Vertrauen, und Sie werden leichtes Spiel haben: Cadoudal wird sich unweigerlich in Sie verlieben, und früher oder später werden Sie die wahren Namen der Männer erfahren, nach denen wir vergeblich suchen. Teilen Sie uns die Namen mit, mehr verlangen wir nicht von Ihnen, und Ihre Rache wird befriedigt werden. Und falls Ihr Einfluss so weit reicht, dass sie sogar diesen halsstarrigen Sektierer dazu bewegen können, sich wie die anderen zu unterwerfen, dann muss ich Ihnen sicherlich nicht eigens sagen, wie großzügig die Regierung -‹

Diana streckte gebieterisch die Hand aus. ›Sehen Sie sich vor, Citoyen Direktoriumsmitglied, noch ein Wort, und Sie beleidigen mich.‹

Und nach kurzem Schweigen: ›Ich bedinge mir vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit aus‹, sagte sie.

›Lassen Sie sich Zeit, Mademoiselle‹, sagte Barras. ›Ich werde Ihnen zu Diensten stehen.‹

›Morgen hier, um neun Uhr abends‹, sagte Mademoiselle de Fargas, nahm Barras ihren Dolch aus der Hand und den Brief ihres Bruders von dem Tisch, auf den sie ihn gelegt hatte, verbarg Brief und Dolch in ihrem Mieder, verneigte sich vor Barras und ging.

Am nächsten Tag kündigte man ihm um die gleiche Stunde Mademoiselle Diana de Fargas an.

Er eilte in das rosa Boudoir. ›Nun, meine schöne Nemesis?‹, fragte er.

›Ich habe mich entschieden, Monsieur; allerdings benötige ich einen Geleitbrief, mit dem ich mich vor den republikanischen Behörden ausweisen kann. In dem Leben, das ich führen werde, kann ich jederzeit bewaffnet auf Seiten der Gegner der Republikaner ergriffen werden; Sie lassen Frauen und Kinder erschießen, Sie führen einen Ausrottungskrieg: Das ist Ihre Sache, die Sie mit Gott abmachen müssen. Aber ich könnte dabei gefasst werden, und ich will auf keinen Fall füsiliert werden, bevor ich mich gerächt habe.‹

›Mit diesem Ansinnen habe ich gerechnet; und um Ihre Abreise nicht zu verzögern, habe ich bereits alle Ausweispapiere vorbereiten lassen, die Sie benötigen werden. Ordres des Generals Hédouville werden jene, vor denen Sie sich fürchten müssten, in Ihre Verteidiger verwandeln; und mit diesem Geleitbrief können Sie Bretagne und Vendée von einem Ende zum anderen bereisen.‹

›Sehr gut, Monsieur!‹, sagte Diana. ›Ich danke Ihnen.‹

›Darf ich Sie, ohne indiskret zu sein, fragen, wann Sie abzureisen gedenken? ‹

›Heute Abend noch; meine Pferde und meine Postkutsche erwarten mich am Zaun des Palais du Luxembourg.‹

›Erlauben Sie mir eine indiskrete Frage – es ist meine Pflicht, sie Ihnen zu stellen.‹

›Fragen Sie, Monsieur.‹

›Haben Sie Geld?‹

›Ich habe sechstausend Francs in Gold in dieser Kassette bei mir, was mehr als sechzigtausend Francs in Assignaten entspricht. Sie sehen, dass ich unbesorgt auf eigene Faust Krieg führen kann.‹

Barras reichte der schönen Besucherin die Hand, doch sie schien diese Aufmerksamkeit nicht zu bemerken.

Sie verneigte sich untadelig und verließ den Raum.

›Was für eine bezaubernde Viper‹, sagte Barras. ›Ich wäre nicht gern derjenige, der ihr Blut erwärmt.‹


Загрузка...